Zehn Gründe, warum Putin einen Kompromissfrieden Vorzug geben könnte
Zu einem führenden Narrativ im Westen gehört die Aggressivität und der Expansionswille Moskaus. Doch auch dagegen gibt es Argumente. Ein Gastbeitrag.
Am 23.05.2024 ist von Roberts ein Beitrag auf der britischen Website Brave New Europe – einer englisch-sprachigen Website für kritisches Denken und Alternativen zum Neoliberalismus – erschienen, in dem er zehn Gründe diskutiert, warum der russische Präsident Putin die Risiken eines Kompromissfriedens den Kosten eines langen Krieges mit der Ukraine und dem Westen vorziehen könnte.1
Erstens: Russische Verluste
Die BBC-Mediazona-Recherchen zeigen, dass Russland bisher im Ukraine-Krieg 60.000 bis 70.000 Soldaten – viermal so viele wie in zehn Jahren Krieg in Afghanistan und fast so viele wie die USA in Vietnam – verloren hat.
Russlands Strategien und Taktiken für die Erhaltung seiner Streitkräfte sind darauf ausgerichtet, die Zahl der Opfer zu minimieren, aber die vollständige Eroberung des Donbass könnte Tausende weiterer russischer Menschenleben kosten.
Die Einnahme von Charkow und Odessa wäre noch kostspieliger. Das militärische Überrennen und die anschließende Besetzung der ganzen Westukraine würde die Mobilisierung von zusätzlich hunderttausenden Soldaten erfordern.
Die Zahl der Opfer der Ukraine ist weitaus höher als die von Russland- mindestens 200.000 bis 250.000 und vielleicht sogar 500.000 militärische Todesopfer sind in Betracht zu ziehen. Ein überstürzter Zusammenbruch des ukrainischen Militärs ist jetzt möglich, aber Kiew könnte mit westlicher Unterstützung wahrscheinlich noch längere Zeit weiterkämpfen.
Zweitens: Die nukleare Gefahr
Ein Atomkrieg bedroht auch die Existenz Russlands und den Rest der Welt. Die Eskalation des Krieges zu einem totalen Nato-Russland-Konflikt bleibt eine reale Möglichkeit.
Noch nie war die Gefahr von Feindseligkeiten, bei denen Atomwaffen eingesetzt werden könnten, oder die eines katastrophalen Zwischenfalls, an dem ukrainische (oder russische) Kernkraftwerke betroffen sind, so groß wie heute.
Drittens: Ein Regimewechsel in Kiew
Das derzeitige ukrainische Regime wird so lange im Amt bleiben, wie der Krieg andauert. Nur Friedensverhandlungen können zu seiner Ablösung führen. Seine Ablösung durch eine noch radikalere ultranationalistische Regierung ist möglich, würde aber die westliche Unterstützung – ohne die die Ukraine als Staat nicht überleben kann – in Frage stellen.
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Die Chancen stehen gut, dass ein Nachfolge-Regime die bittere Pille einer Friedensregelung schlucken wird, was Russland entgegenkommen würde. Es wäre ein Ergebnis, das die ukrainische Öffentlichkeit zwar hassen, jedoch akzeptieren wird als die am wenigsten schlechte Alternative.
Viertens: Die russische öffentliche Meinung
Umfragedaten zeigen, dass die Mehrheit der russischen Bürger den Krieg so lange unterstützen wird, wie es nötig ist, aber die Russen wünschen sich ebenfalls Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen so schnell wie möglich.
Die verwestlichten Teile der russischen Eliten verhalten sich ruhig, aber auch sie werden in die gleiche Richtung gehen, wenn eine mögliche Friedenslösung am Horizont erscheint.
Eine kleine, aber lautstarke und nicht unbedeutende Minderheit der Russen wird eine Ausweitung des Krieges bis zu einem vollständigen Sieg über die Ukraine und den Westen erreichen wollen. Durch Putins Macht und Popularität kann der Einfluss dieser sogenannten "Turbo-Patrioten" jedoch begrenzt werden, obwohl sie Friedensverhandlungen behindern könnten.
Fünftens: Druck aus dem globalen Süden
Russlands Freunde, Verbündete, Partner und Unterstützer im Globalen Süden lehnen einen langen Krieg ab und wollen einen Waffenstillstand, sobald wie möglich. Wenn die Ukraine und der Westen beginnen würden, sich für Friedensverhandlungen einzusetzen, werden China, Indien, Brasilien, Südafrika und andere unabhängige Akteure eine beeindruckende Lobby sein und Putin drängen, den Ball aufzunehmen und mit Verhandlungen zu beginnen.
Sechstens: Wiederaufbau der eingegliederten Gebiete
Die Beibehaltung der Krim und der vier weiteren eingemeindete Provinzen sind das russische Minimalziel im derzeitigen Krieg.
Während das Erreichen dieses Ziels schon jetzt so gut wie garantiert zu sein scheint, ist aber zu befürchten, dass das ein Pyrrhussieg werden wird, denn Moskau wird nicht in der Lage sein, das verwüstete Land in der Süd- und Ostukraine in der nächsten Zeit wiederaufzubauen und neu zu besiedeln. Je länger der Krieg dauert, desto gigantischer wird diese Aufgabe werden.
Putin ist in den Krieg gezogen, um den wachsenden ukrainischen militärischen Nato- Brückenkopf an Russlands Grenzen zu beseitigen, aber auch zum Schutz der prorussischen Ukrainer. Die Beendigung des Krieges könnte der beste Weg sein, um deren Leben und Existenz zu sichern.
Siebentens: Slawische Solidarität
Putins Behauptung vom Juli 2021, dass Russen und Ukrainer im Wesentlichen ein Volk seien, hat in einigen westlichen Kreisen Empörung hervorrufen, obwohl das eine Aussage war, der damals etwa 40 Prozent der ukrainischen Bürger zugestimmt haben.
Russland hat den Krieg unter dem Banner des Multinationalismus geführt und nicht unter dem eines mono-ethnischer Nationalismus. Es hat seine ukrainischen Kriegsgegner im Allgemeinen mit Respekt behandelt.
Russland hat dagegen die ukrainischen Neonazis und Ultranationalisten, korrupte Beamten, ausbeuterische Oligarchen und diejenigen, die sich westlichen Interessen verschrieben haben, als seine Feinde bezeichnet.
Von dieser Vorstellung her müsste Russland bestrebt sein, die Wunden des Krieges zu heilen, die es einem Volk zugefügt hat, das es immer noch als eine Brudernation betrachtet. Im besten Fall wird die Heilung aber sehr lange dauern, und ein langer Krieg könnte die Kluft zwischen Russland und Russland Ukraine für Generationen unüberbrückbar machen.
Achtens: Wiederherstellung der Handelsbeziehungen zwischen Russland und dem Westen
Russland hat dem westlichen Sanktionskrieg sehr gut standgehalten. Russlands Kriegswirtschaft boomt und hat die westlichen Waffenhersteller übertroffen. Neue Beziehungen und Märkte wurden mit dem Globalen Süden geschmiedet. Russland verfügt jetzt über mehr wirtschaftliche und technologische Souveränität als vor dem Krieg.
China, Russland und die nicht-westliche Welt fordern die globale Finanzhegemonie der USA heraus. Aber die westlichen Sanktionen tun weh – vor allem den einfachen Russen – und der Schmerz wird mittel- bis langfristig wahrscheinlich noch größer werden.
Losgelöst von und im Konflikt mit Westen kann Russland, wie es das gezeigt hat, überleben und sogar gedeihen, aber größere Chancen für den Wohlstand der russischen Bevölkerung würden sich dann auftun, wenn die westlichen Sanktionen beendet und die früheren Handelsbeziehungen wieder aufgenommen werden würden.
Neuntens: Globale Zusammenarbeit
Russland und der Westen brauchen einander, um eine Vielzahl drängender Probleme wie die Verbreitung von Atomwaffen, die grenzüberschreitende Kriminalität und den internationalen Terrorismus, katastrophale Umweltprobleme, Gesundheitsbedrohungen, globale Armut und die gesellschaftliche Ungleichheit gemeinsam anzugehen und zu bewältigen.
Zehntens: Entstehen einer neuen Weltordnung
Russland strebt ein neues internationales System an, das sich auf Souveränität, Multipolarität, Multilateralismus, gegenseitige Sicherheit, Achtung des internationalen Völkerrechts und die Neuausrichtung und Wiederbelebung globaler und regionaler Einrichtungen gründet.
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Zu Russlands Zukunftsvision gehört auch die Anerkennung von Einflusssphären der Großmächte, die dazu beitragen sollen, dass Recht und Gerechtigkeit in gleicher Weise für alle Staaten gesichert werden können.
Die erfolgreiche Schaffung einer derartigen neuen globalen und multipolaren Weltordnung hängt auch von Russland ab, setzt aber voraus, dass es den Albtraum eines lang andauernden Krieges in der Ukraine vermeidet, der die Orwell'sche Dystopie einer dauerhaft geteilten Welt in kriegerische und sich gegenseitig bekämpfende Machtblöcke Wirklichkeit werden lässt.
Geoffrey Roberts ist ein britischer Historiker und emeritierter Professor für Geschichte am University College Cork in Irland mit dem Forschungsschwerpunkt sowjetische Außenpolitik und Militärgeschichte. Er ist Mitglied der Royal Irish Academy (RIA), bei der es sich um Irlands führendes Gremium von Experten der Natur- und Geisteswissenschaften handelt.
Telepolis hat bisher verschiedene Artikel des Wissenschaftlers zum Ukraine-Krieg veröffentlicht. So erschien Anfang Februar ein Artikel von ihm, in dem er sich mit den zehn gängigsten westlichen Propaganda-Thesen zum Krieg in der Ukraine kurz und überzeugend auseinandergesetzt hat.
Dieser Beitrag ist auch deshalb beachtenswert, weil in einer Exklusivmeldung vom 24.05.2024 die internationale Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf fünf nicht näher genannte hochrangige russische Quellen berichtet hat, dass Russlands Präsident Wladimir Putin zum Waffenstillstand im Ukrainekrieg und zum Einfrieren der Kampfhandlungen entlang aktueller Frontlinien bereit sei.
Diesen Artikel hat unser Autor Klaus-Dieter Kolenda mit freundlicher Genehmigung von Geoffrey Roberts ins Deutsche übertragen.
Klaus-Dieter Kolenda, Prof. Dr. med., Facharzt für Innere Medizin – Gastroenterologie, Facharzt für Physikalische und Rehabilitative Medizin/Sozialmedizin, war von 1985 bis 2006 Chefarzt einer Rehabilitationsklinik für Erkrankungen des Herz-Kreislaufsystems, der Atemwege, des Stoffwechsels und der Bewegungsorgane. Seit 1978 ist er als medizinischer Sachverständiger bei der Sozialgerichtsbarkeit in Schleswig-Holstein tätig. Zudem arbeitet er in der Kieler Gruppe der IPPNW e. V. (Internationale Ärztinnen und Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und für soziale Verantwortung) mit. E-Mail: klaus-dieter.kolenda@gmx.de