Medien, Eliten und Superreiche: Wie sie den Klassismus fördern

KI generierte Illustration von reichen und armen Personen in einer städtischen Sezenrie des 19. Jahrhunderts

KI genierte Illustration

Diskriminierung von Menschen aus materiell armen Verhältnissen in Deutschland. Warum sie oft übersehen wird und wie die Mythen und Auswege dazu aussehen.

Als jüngst die ARD-Tagesschau endlich einmal über Diskriminierungen berichtete, thematisierte sie dabei Rassismus, Antisemitismus und Sexismus. "Vergessen" wurde, wie zumeist, die sozioökonomische Dimension, die im Begriff "Klassismus" gefasst wird.

Was sagen Ungleichheits- und Massenmanipulations-Experten wie Rainer Mausfeld und Christoph Butterwegge dazu? Wurzelt Klassismus in unserem klassistischen Bildungssystem, wie die Buchautorin Tanja Abou, von der noch zu sprechen sein wird, behauptet?

Die Antidiskriminierungs-Beauftragte des Bundes, Ferda Ataman, meldete kürzlich einen Höchststand von knapp 11.000 beklagten Diskriminierungsfällen, fast 2.000 mehr als im Vorjahr und damit so viele Anfragen wie noch nie.

Die meisten Menschen sahen sich "aufgrund der ethnischen Herkunft oder aus rassistischen und antisemitischen Gründen" diskriminiert, gefolgt von Behinderung oder chronischer Krankheit sowie Geschlecht/Geschlechtsidentität.

Was unter den Tisch fällt

Gerade noch der Erwähnung wert sah die ARD die Altersdiskriminierung, wo Menschen etwa durch Digitalisierung vieler Angebote mit Apps und Smartphones gesellschaftlich ausgeschlossen würden.

Unter den Redaktionstisch fiel wieder einmal die sozioökonomische Diskriminierung durch Klassismus, womit die ARD ganz auf Linie unserer Geld- und Machteliten lag – wie wir anhand von Rainer Mausfeld, C.W.Mills und H.J.Krysmanski sehen werden.

Wir haben etwa ein Viertel bis ein Drittel verarmter Menschen (im viertreichsten Land der Welt), wie der Politikprofessor Christoph Butterwegge in seinem Buch "Ungleichheit in der Klassengesellschaft" (siehe Literaturhinweise am Ende des Artikels) feststellte.

Medialer Klassismus nimmt zu

Auch in konservativ-neoliberalen Privatmedien nimmt derzeit die Diskriminierung von sozial Benachteiligten offenbar wieder zu – man erinnert sich an die mediale Hetzjagd der Bild-Zeitung auf einen nach Florida verreisten Sozialhilfeempfänger.

Dies war zur Zeit der Durchsetzung von Hartz-IV durch die rotgrüne Schröder-Regierung, die damit den Niedriglohnsektor aufpumpte. Der Focus, publizierte jüngst mit seinem Junior-Medienpartner Kukksi die Schlagzeile "Bürgergeld-Empfängerin verprasst ihr letztes Geld für Bier auf EM-Fanmeile".

Sozialneid von oben?

Überbezahlte Privatjet-Flieger und ihre journalistischen Hilfstruppen gönnen armen Zeitgenossen heute offenbar nicht einmal mehr zur Feier der Fußball-EM ein Bier zur Bratwurst? Armut wird als politisches Problem abgeleugnet und sogar zu klassistischer Stigmatisierung missbraucht.

Auch Ungleichheits-Experte Butterwegge, Gutachter der Bundesregierung für den sechsten Armuts- und Reichtumsbericht, kritisierte die prominente Abwiegelei durch gutsituierte Medieneliten: Hans-Werner Sinn (ifo-Institut) habe explodierende Armutszahlen zum "statistischen Artefakt" kleinreden wollen; Dorothea Siems (Die Welt) die alte neoliberale Leier angestimmt, dass sozialistische "Gleichmacherei" ja nur die Fleißigen bestrafe.

Mythos: Leben in einer Meritokratie

Die Armen hätten sich wohl in der Schule mehr anstrengen sollen, so die neoliberale Ideologie, dass wir in einer Meritokratie lebten – also jeder nach seinen Leistungen verdienen würde.

Wenn stereotyp eine gute Bildung als Rezept gegen Armut angepriesen wird, schwingt ein besonders perfider Klassismus mit: Wer arm ist, hat sich in der Schule nicht genug angestrengt oder war einfach zu dumm. Wer reich ist, verdankt dies Fleiß und Intelligenz.

Aufräumen mit Mythen und Abwertungen

Eine Neuerscheinung aus dem Unrast-Verlag räumt mit diesen für privilegierte Menschen sehr bequemen Mythen gründlich auf und trifft mit ihrer engagierten Kritik unser Bildungssystem ins Mark.

Dieser Ideologie trat im März die queere Social-Justice-Trainerin Tanja Abou mit ihrer Streitschrift "Klassismus im Bildungssystem" entschieden entgegen: Alle wüssten inzwischen, dass das bundesdeutsche Bildungssystem nicht gerecht sei und der Zugang zu formeller Bildung vor allem von der sozialen Herkunft abhänge.

Bildung wird ökonomisch und sozial Abgehängten penetrant als Ausweg aus der (als individuelles Problem hingestellten) Misere präsentiert. Doch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Der Klassismus des Bildungswesens schafft, zementiert und rechtfertigt erst die wachsende soziale Ungerechtigkeit.

Abou analysiert im Bildungssystem gezielt klassistische Strukturen, also Zuschreibungen, Vorurteile, Selektionsmechanismen, Machtverhältnisse. In der Bildungsdebatte dominierten Erklärungsmuster, die "in sich schon klassistisch sind".

Es sei etwa von "mangelnder Bildungsstimulation" in nichtakademischen Haushalten die Rede, Freizeitaktivitäten würden von oben herab abgewertet, besonders das Fernsehen oder die geringe Zahl gelesener Bücher.

Naserümpfen

Armutsbetroffene würden meist "naserümpfend verurteilt", so Tanja Abou. Wichtiger wäre, auf die Betroffenen selbst zu hören: Die wünschten sich mehr Geld für Nahrungsmittel, die oft nicht bis zum Monatsende reichen, kostenfreie Nachhilfe, Mittel für Freizeitaktivitäten usw. Stattdessen würden junge Menschen im Bildungssystem jedoch benachteiligt und entsprechend der Bildung der Eltern selektiert.

Dies geschehe schon durch Sprache und klassistisch vorgeprägte Begriffe. Abou kritisiert besonders die Worte "sozialer Brennpunkt", "Problemviertel", "bildungsfern" oder "Unterschicht"; für letzteren verwendet sie die Vokabeln "Arbeiter*innen-" und "Armutsklasse", die aus der 1993 in den USA gegründeten Bewegung Working Class/Poverty Class stammten.

"Asozial"

Sie spricht von "materieller Armut", weil das Wort "Armut" oft klassistisch gleichgesetzt würde mit mangelnder Kultur, Wissen und Solidarität.

Den Begriff "asozial" kennzeichnet Abou als dunkles Erbe des NS-Faschismus und kritisiert, dass unter diesem Begriff Verfolgte und mit schwarzem Winkel stigmatisierte Menschen erst 2020, also mit 75 Jahren Verspätung, als NS-Opfer anerkannt wurden.

"Unterklasse"

Der von Abou zitierte Soziologe Andreas Kemper promovierte zum Thema Klassismus und verweist besonders auf den Begriff "Unterklasse" als klassenkonstruierenden Vertikalismus, soll heißen: Wer ihn benutzt, sieht sich oben, die anderen unten.

Der Klassenbegriff wäre demnach aus dem Schwedischen, wo er verschiedene Wikingergruppen einteilte, in die USA eingewandert und erst dort zur stigmatisierenden "underclass" mutiert.

Im faschistischen Deutschland konnten reimportierte Unterklasse-Vertikalismen dann sogar "infernografische Züge annehmen, wie beispielsweise die Untermenschen-Ideologie des Nationalsozialismus, wo marginalisierte Gruppen als "Ausgeburten der Hölle"" (Inferno) erscheinen.

Klassismus und Bildungslüge

Tanja Abou beginnt ihre Analyse des Bildungswesens mit den PISA-Studien, die dem deutschen Schulwesen bezüglich sozialer Gerechtigkeit regelmäßig Mängel bescheinigen.

Insbesondere die mit vier Jahren sehr kurze deutsche Grundschulzeit sorge für eine hohe Selektion nach Herkunft, in der EU seien sonst (außer in Österreich) sechs Jahre üblich.

Das selektive Aussondern armutsbetroffener Menschen im Bildungsprozess setze sich von der Gymnasialempfehlung über Studium, Promotion und akademische Karrieren fort. Mit dem Ergebnis, dass Deutschland in der PISA-Studie zu Bildungsungleichheit im Jahr 2000 Platz 31 von 31 Ländern belegte.

Die damalige Bundesbildungsministerin Edelgard Bulman (SPD) versprach energisch dagegen einzuschreiten. Doch 20 Jahre später belegten wir, noch weiter abgeschlagen, Platz 33 von 36.

Das Lehrpersonal von Schulen bleibt bei Abou nicht unkritisiert, denn "bewusst oder unbewusst" trage es dazu bei, die Armutsklasse zu diskriminieren. Man folge unreflektiert dem meritokratischen Mythos der Leistungsgesellschaft und stabilisiere elitistische Hierarchien.

Elitäre Haltungen

Klassismus finde sich schon in der Bewertung von Namen. Kevin oder Chantal würden mit "bildungsfern" assoziiert, was als "Kevinismus" bezeichnet wird. Die Mangelfinanzierung von Schulen habe in der Corona-Zeit besonders klassistische Benachteiligung produziert, denn es war Lehrpersonen oft nicht bewusst, wie wenig digitalen Zugang zu Online-Unterricht im Lockdown Armutsbetroffene haben.

Auch Eltern sorgten oft für Bildungsungerechtigkeit, wenn sie etwa den Umgang ihrer Kinder nach dem Motto "Spiel nicht mit den Schmuddelkindern" klassistisch reglementieren. Eine in Hamburg angestrebte Bildungsreform, die 2008 die Primarstufe auf sechs Jahre verlängern wollte, stieß auf konservativen Widerstand einer "von Walter Scheuerl daraufhin ins Leben gerufenen Initiative" und scheiterte.

Die "elitäre Haltung klassenprivilegierter Eltern" sei Treiber von Stigmatisierung und Ausschluss. Dennoch würde in der politischen Debatte

...kaum mal der Fokus auf die Stärkung von Eltern gelegt, deren Kinder ausgegrenzt werden, und nur wenig Kritik an elitären und unsolidarischen Elterninitiativen wie der in Hamburg geübt, die ihren Klassismus… vor sich hertragen und die eigene Machtposition… zu ihren Gunsten nutzen.

Tanja Abou

Herabsetzungen, Entmutigungen und Schuldzuweisungen bezeichnet Tanja Abou als "Ent-Powerment" – ein Gegenbegriff zum von ihr geforderten Empowerment. Auch Jugendhilfe und Sozialbehörden seien Teil dieses klassistischen Systems, wo sich Anfang der 2010er-Jahre Sanktionsandrohungen gegen junge Menschen in Ausbildung gehäuft hätten.

Im Bildungssystem fehlen Ressourcen

Im Bildungssystem fehlen Ressourcen und diese müssten gerechter verteilt werden, wofür eine klassismus-sensible Evaluierung fehle. Bei der Frage, woher nehmen und nicht stehlen, spricht Abou Verteilungsgerechtigkeit in Wirtschaft, Gesellschaft und Steuersystem an.

Sie fordert, hohe Einkommen und Vermögen endlich höher zu besteuern und "dass eine Besteuerung von superreichen Personen sowohl möglich als auch überfällig ist". Besonders die Bildungspolitik müsste mit so erhöhten Einnahmen ausgestattet werden und Chancengleichheit endlich verstärkt anstreben.

Und die superreiche Machtelite?

Damit folgt Abou dem Armutsexperten Butterwegge, der sich in seiner Abhandlung zur Ungleichheit die Superreichen noch viel gründlicher vorknöpft. Butterwegge bemüht den Begriff der "Machtelite" des US-Klassikers C. W. Mills und dessen deutschen Nachfahren Hans Jürgen Krysmanski.

Krysmanski zufolge wuchert in unseren Gesellschaften ein "Geldmachtkomplex", der Milliardären erlaube in räuberischen Machtnetzwerken die Gesellschaften auszuplündern.

Dazu würde die Politik mit Lobbyismus und Korruption instrumentalisiert – Massenmedien und Bildungswesen gehören für Krysmanski zur "Funktions- und Wissenselite", die dem Geldmachtkomplex ebenfalls zu Diensten ist.

Mit dem auch auf Youtube bekannt gewordenen Psychologen Rainer Mausfeld fragt Butterwegge, wie es den Machteliten gelingt, Akzeptanz für eine sie selbst auf Kosten der Allgemeinheit begünstigende Ideologie zu erzeugen.

Mausfeld sieht Meinungsmanagement, Überwachung und Disziplinierung sich zu einer Gehirnwäsche verdichten, sodass selbst ehemals linke Milieus nicht mehr gegen Ungleichheit kämpfen, sondern nur noch gegen Diskriminierung eigener Partikulargruppen.

Sozial extrem polarisierte Klassengesellschaft

Deutschland wurde so immer mehr zur sozial extrem polarisierten Klassengesellschaft mit ausgeprägter Verteilungsschieflage, so Butterwegge. Den hergebrachten Klassengegensätzen (Marx) überlagere sich zunehmend der Widerspruch einer verfestigten Armut zu gigantischem Reichtum bei einer sehr kleinen Gruppe.

Mit Sighard Neckel et al. könne man der superreichen Machtelite einen Gestus kultureller Offenheit, Diversität und Toleranz zuschreiben, mit dem Kölner Philosophen und Finanzexperten Werner Rügemer die Gliederung in Clans; diese seien teils "nicht öffentlich" organisiert und bilden eine transnationale Rentiersklasse die, hinter Kapitalgiganten wie Blackrock, Hedgefonds, Ratingagenturen usw. versteckt, neoliberale Privatisierung korruptiv durchsetze.

Deren Aktivitäten zu beobachten sei beinahe ebenso schwierig, wie die gewonnenen Erkenntnisse dann in den (den Ideen von Walter Lippmann folgend breitflächig von besagter Machtelite beherrschten oder beeinflussten) Medien bekannt zu machen.

Aktuell trägt die mühsame Aufklärungsarbeit dem Gegenwind der Leitmedien zum Trotz bereits Früchte: "Klassismus" lässt sich mittlerweile googeln, so Abou, ohne dass auf "Klassizismus" korrigiert wird. Sie zitiert die Bildungsinitiative "KikK" ("Klassismus ist keine Kunstepoche"), deren Name anprangert, dass die Diskriminierungsdimension "Klassismus" im deutschsprachigen Raum derart vernachlässigt wurde.

Der Begriff "underclass" wurde laut Kemper 1963 in den USA von Gunnar Myrdal als neutraler Strukturbegriff eingeführt, sei aber zehn Jahre später bereits zur Stigmatisierung für eine "Gruppe mit vermeintlich defizitären Verhaltensweisen" geworden.

Pleonexia: Woran Geld- und Machteliten leiden

Einer ganz anderen Form defizitärer Verhaltensweisen ist der kognitive Psychologe und Experte für Massenmanipulation Rainer Mausfeld in seinem jüngsten Buch "Hybris und Nemesis" auf der Spur. Die griechische Gottheit der Nemesis verkörpert den "gerechten Zorn" und die "Bestrafung moralisch unziemlichen Verhaltens".

Sie richtet sich vor allem gegen das "schamlose Ausnutzen von Macht", das auch als "Hybris" bezeichnet wird. Macht und des Machtmissbrauchs stellen seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte eine große Herausforderung für das menschliche Zusammenleben dar. In größeren Gesellschaften entgleist in der Hybris das "parasitäre Mehrhabenwollen", was im antiken Griechenland als pleonexia bezeichnet wurde.

Eine besondere Gefahr liegt für Mausfeld darin, dass die "ideologische Macht" sich heute realisiert in diversen stetig verfeinerten Methoden der Massenmanipulation, die "das Recht des Stärkeren so erfolgreich verschleiern, dass eine Entzivilisierung von Macht unter der Maske eines unvermeidlichen und alternativlosen zivilisatorischen Fortschritts auftreten kann".

Mausfeld verweist dabei auch auf das Herman-Chomsky-Propagandamodell der Massenmedien. . Das Parasitäre Mehrhabenwollen hat heute "globale zerstörerische Auswirkungen erreicht", die "einzigartig in der Zivilisationsgeschichte" sind. (S.465) Damit türmen sich die Eskamotagen der Medien und PR-Industrie zur eschatologischen Bedrohung unserer Existenz durch Pleonexia-befallene Machteliten auf.

Aufklärung und Bildung bleiben auch hier als einziger Lösungsweg, besonders so wie Tanja Abou sie betreibt. Denn die Verleugnung und Fortschreibung von klassistischer Diskriminierung im Bildungswesen ist wohl, neben den Massenmedien, der wichtigste Hebel ideologischer Macht des heutigen Neoliberalismus.

Literatur

Abou, Tanja: Klassismus im Bildungssystem. Unrast Verlag (Münster) 2024 (Rezension von T.Barth)
Butterwegge, Christoph: Ungleichheit in der Klassengesellschaft. PapyRossa Verlag (Köln) 2020

Kemper, Andreas: "Unterklasse" als Korrektionsanstalt. Zur Herkunft des Begriffs underclass, Beiträge des Instituts für Klassismusforschung, August 2013

Krysmanski, Hans Jürgen: Die Privatisierung der Macht, in: Elmar Altvater: Privatisierung und Korruption. Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Anders Verlag (Hamburg) 2009, S.25-47

Mausfeld, Rainer: Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5000 Jahren. Westend Verlag (Neu-Isenburg) 2019

Rügemer, Werner: Privatisierung in Deutschland, in: Elmar Altvater: Privatisierung und Korruption. Zur Kriminologie von Globalisierung, Neoliberalismus und Finanzkrise, Anders Verlag (Hamburg) 2009, S.55-67