Ukraine-Krieg: Militärische Lage wird schwieriger, das Nachdenken über Verhandlungen lauter

Mann mit verzweifelter Geste vor einem zerstörtem Haus

Bild: Shchus /Shutterstock

Verstärkte russische Luftangriffe; Vormarsch von Truppen bei Pokrowsk. Diskussionen über Waffenstillstandszenarien in Medien. Was ist eine koreanische Lösung? Einschätzung.

Die militärische Lage wird für die ukrainischen Streitkräfte immer bedrohlicher, der Führung in Kiew gehen die Optionen aus. Nach dem Scheitern der Kursk-Offensive geht der schleichende Zusammenbruch des militärischen Potentials der Ukraine unvermindert weiter.

Nicht nur der sich beschleunigende Vormarsch der russischen Streitkräfte ist für die ukrainische Führung besorgniserregend. Auch die Intensivierung der strategischen Luftkampagne der russischen Luftwaffe und die fehlende militärische Unterstützung durch die Nato-Staaten erschweren nach Auffassung des Autors den militärischen Widerstand der Ukraine beträchtlich. Es droht ein Zerfall der militärischen Kapazitäten.

Pokrowsk von Einkesslung bedroht

Die Lage auf dem Boden spitzt sich zu. Russische Kräfte stehen nur noch 1,8 Kilometer von der Agglomeration Pokrowsk entfernt.

Über die strategische Relevanz der Stadt wurde hier bereits berichtet, jetzt beleuchtet das US-Magazin Foreign Policy einen weiteren Aspekt des potentiellen Verlustes von Pokrowsk.

Wie Foreign Policy berichtet, liefert die Stadt den Großteil der Kohle für die Stahl- und Eisenindustrie der Ukraine. Diese Industrie sei einst das Rückgrat der ukrainischen Wirtschaft gewesen und stelle immer noch den zweitgrößten Sektor, obwohl die Produktion auf weniger als ein Drittel des Vorkriegsniveaus gesunken sei.

Der Bericht führt aus, dass diese metallurgische Kohle für die Herstellung von Roheisen benötigt wird, welches die meisten alten Stahlöfen der Ukraine und einen beträchtlichen Teil ihrer Industrieexporte speist. Betont wird, dass eine gesunde Stahlindustrie auch einen großen Anteil am Steueraufkommen der Ukraine hat, was zur Finanzierung einer Wirtschaft beiträgt, die derzeit von der Hand in den Mund lebe.

Auch in der Stadt Torezk ist die Ukraine auf dem Rückzug, hier befinden sich die Truppen Moskaus bereits im Stadtzentrum. Und bei Kupjansk stehen russische Spitzen nur noch 4 Kilometer entfernt von den Außenbezirken der Stadt.

Verstärkte russische Luftangriffe

Zusätzlich intensiviert Russland die Luftangriffe. Seit dem 1. September greift die russische Armee, mit nur einem Tag Unterbrechung, Ziele in der Ukraine mit Shahed-Drohnen an. Laut den offiziellen Angaben der ukrainischen Luftwaffe wurde das Gebiet der Ukraine mit insgesamt 1339 Drohnen angegriffen, von denen offiziell 1107 abgefangen werden konnten.

Im Durchschnitt starteten die russischen Drohnen-Truppen also jeden Tag 44 Shaheds. Die größte Angriff in den letzten vier Wochen war am 03. Oktober mit 78 Drohnen.

Aus den Zahlen kann man einerseits schließen, dass es der russischen Waffenindustrie gelungen ist, die Produktion der Shahed-Drohnen zu steigern.

Möglich ist aber auch, dass die ukrainische Luftwaffe ihre Informationspolitik geändert hat und jetzt realistischere Abschusszahlen bekannt gibt. Bis etwa August wurde von ukrainischer Seite eine Abfangquote von 90 bis 100 Prozent angegeben.

Oder es zeigt sich, dass die Luftverteidigung der Ukraine in den letzten Wochen und Monaten spürbar geschwächt wurde.

Mangelnde Unterstützung durch Nato-Staaten

So berichtet etwa das US-Nachrichtennetzwerk CNBC, dass dem Nato-Raum die Waffen ausgehen, die sie in die Ukraine schicken könnten. CNBC zitiert Mark Cancian, einen ehemaligen Oberst des U.S. Marine Corps und leitenden Berater am Center for Strategic and International Studies.

Cancian erklärt, es gebe eine Reihe von Systemen, bei denen das Verteidigungsministerium seiner Meinung nach ein Niveau erreicht hat, auf dem es nicht bereit sei, der Ukraine mehr von diesem speziellen System zur Verfügung zu stellen. Der Experte deute damit an, dass bei bestimmten militärischen Ausrüstungen eine Grenze der Unterstützung für die Ukraine erreicht worden sei.

Auch Newsweek berichtet von sinkender Unterstützungsbereitschaft, etwa auch vom wichtigsten europäischen Kriegsgeräte-Lieferant Deutschland. Dem Bericht zufolge stellt der deutsche Haushalt für das laufende Jahr zwar fast 7,5 Milliarden Euro an militärischer Hilfe für die Ukraine bereit. Allerdings weist das US-Magazin darauf hin, dass der Haushaltsplan für das nächste Jahr eine Kürzung der Militärhilfe auf vier Milliarden Euro vorsehe.

Britisches Militärforschungsinstitut: "Drohender Verrat"

In diesem Zusammenhang spricht das britische Militärforschungsinstitut Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (Rusi) aktuell von einem "drohenden Verrat" an der Ukraine.

Dem Kommentar zufolge sei die US-Unterstützung für die Ukraine stets zu gering und zu spät gekommen. Kritisch angeführt wird, dass US-Präsident Biden zögerlich agiert, um eine Eskalation des Konflikts zu vermeiden. In Europa variiert die Unterstützung stark. Einige Länder, darunter die baltischen Staaten, Skandinavien, Großbritannien und Polen, hätten mehr geleistet als andere.

Die Vorwürfe: Ungarn zeige sich feindselig, möglicherweise bald gefolgt von der Slowakei und Österreich. Deutschland habe zwar die meisten Waffen geliefert, sei aber politisch unzuverlässig. Frankreichs Präsident Macron habe von Beginn an eine wechselhafte Haltung zur Ukraine eingenommen.

Der Kommentator des namhaften britischen Instituts spekuliert über mögliche Folgen eines Szenarios des "Verrats" an der Ukraine. Tim Willasey-Wilsey geht davon aus, dass die Ukraine in einem solchen Fall mindestens 82 Prozent ihres Territoriums behalten könnte und ein schuldbeladener Westen Hilfe zum Wiederaufbau der Infrastruktur leisten muss. Der Ukraine werde ein Weg zur EU-Mitgliedschaft in Aussicht gestellt werden – es sei denn, diese Option sei am Verhandlungstisch bereits aufgegeben worden.

Nachdenken in Kiew

Der Eindruck ist, dass sich gegenwärtig im Westen die Stimmen mehren, die lauter als zuvor über einen Waffenstillstand mit Russland nachdenken – nicht nur das Rusi spekuliert über eine Waffenruhe. Am vergangenen Freitag berichtete der Spiegel über ein Nachdenken in Kiew.

Unter Berufung auf einen(!) namentlich nicht genannten hohen ukrainischen Beamten in Kiew zieht der Bericht das Bild eines Wandels in der Diskussion über den Konflikt in Kiew auf.

Zum ersten Mal seit dem russischen Einmarsch im Februar 2022 wird in der ukrainischen Hauptstadt ernsthaft über Szenarien diskutiert, in denen das Land auf die vollständige Rückeroberung seiner besetzten Gebiete, knapp 20 Prozent des ukrainischen Territoriums, vorerst verzichtet. Man habe eine falsche Vorstellung vom Sieg gehabt, räumt der Beamte ein.

"Wir haben geglaubt, dass der Sieg die bedingungslose Kapitulation von Putins Russland sein muss." Doch es gehe nicht ohne Zugeständnisse. "Ein Deal muss auch für Russland vorteilhaft sein", sagt er nüchtern.

Spiegel

Die "koreanische Lösung"

Auch der Kyiv Independent veröffentlicht einen Kommentar, der in eine ähnliche Richtung geht. Dort kommt Joseph Nye, ein ehemaliger stellvertretenden US-Verteidigungsminister, zu Wort. Nye plädiert für eine "koreanische Lösung".

Der es letztlich um eine Neudefinition des Siegesbegriffs für die Ukraine gehen würde: Für ihn wäre es ein Sieg, wenn es noch eine wie auch immer geartete unabhängige Rest-Ukraine gäbe. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler plädiert dafür, dass ein möglicher "Sieg" auch bedeuten könne , dass Putin keinen eigenen Sieg verkünden dürfe.

Die Ukraine muss die Unterstützung erhalten, die sie braucht, um ihre Verhandlungsposition zu stärken. Selbst wenn die Ukraine ihre maximalistischen Ziele kurzfristig nicht erreichen kann, bliebe die Legitimität ihrer Position langfristig erhalten, solange die russischen Gewinne nicht anerkannt werden. Dies wird manchmal auch als koreanische Lösung bezeichnet.

Joseph S. Nye: Wie würde ein Sieg in der Ukraine aussehen?

Laut Nye könnten die konkreten Vereinbarungen so aussehen: Waffenstillstand plus eine entmilitarisierte Zone entlang der Kontrolllinie, die von internationalen Friedenstruppen überwacht werden. Russland würde somit im Falle eines erneuten Angriffs viele andere Länder mit hineinziehen.

Auch wenn es vielleicht nicht möglich ist, 32 Nato-Mitglieder dazu zu bringen, einer formellen Mitgliedschaft der Ukraine im Bündnis zuzustimmen, könnte eine Gruppe von Nato-Mitgliedern, die sich selbst als "Freunde der Ukraine" bezeichnen, die Zone überwachen und versprechen, auf jeden neuen Akt russischer Aggression zu reagieren.

Joseph S. Nye

Der Weg zum Waffenstillstand läge laut Nye demnach darin, eine Lösung zu finden, die weder als vollkomener Sieg für Russland noch als vollkommende Niederlage für die Ukraine verkündet werden könnte. Doch auch eine solche "koreanische Lösung" müsste notwendigerweise mit der russischen Führung abgesprochen werden.

Die russische Seite: Lawrow spricht mit Newsweek

In einem in Deutschland kaum beachteten Interview mit dem US-Magazin Newsweek, publiziert am 7. Oktober, nennt der russische Außenminister Sergei Lawrow Bedingungen der russischen Regierung für eine politisch-diplomatische Einigung.

Lawrow referiert dabei Vorstellungen, die Präsident Putin bereits früher genannt hatte: den vollständigen Rückzug der ukrainischen Streitkräfte aus den Volksrepubliken Donezk und Luhansk sowie aus den Oblasten Saporischschja und Cherson.

Darüber verlangt Moskau die "Anerkennung der territorialen Realitäten", wie sie in der russischen Verfassung verankert seien. Laut Lawrow will Putin einen neutralen, blockfreien und atomwaffenfreien Status für die Ukraine – mit der Forderung der "Entmilitarisierung und Entnazifizierung".

Dazu kommen Forderungen nach der Sicherung der Rechte, Freiheiten und Interessen russischsprachiger Bürger – sowie die Aufhebung aller Sanktionen gegen Russland.

Der Weg zu einem Waffenstillstand ist weit.