Medien: "Es besteht die Tendenz, einen objektiven Feind auszumachen"
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Wird Kritikern zu schnell Feindbegünstigung vorgeworfen? Interview mit dem italienischen Star-Journalisten Michele Santoro über Debatten zum Ukraine-Krieg, den Gaza-Krieg und Migration.
Am 22. Oktober 2022 wurde Giorgia Meloni als neue Ministerpräsidentin vereidigt. Damit begann die 19. Legislaturperiode. Ein Jahr ist nun vergangen, seit Meloni Italien regiert. Was hat sich seither geändert?
Fast 170.000 Menschen wurde das Bürgergeld gestrichen; die Mitteilung darüber erfolgte per SMS. Zu beobachten war der Abgang von Fernsehmoderatoren, die den Oppositionsparteien nahestanden. Im ersten Monat der von der neuen Regierung vorgenommenen Änderungen verlor die Rai 250.000 Zuschauer.
Bei einem ihrer Besuche bei Orban erklärte Meloni ihr Grundsatzprogramm:1
Wir kämpfen, um Familien und Gott zu verteidigen.
Ihr Schwager Francesco Lollobrigida wurde Minister für Landwirtschaft und Ernährungssouveränität. Einer seiner markantesten Sprüche lautet:2
Die Armen essen besser als die Reichen.
Arianna Meloni, die Schwester von Giorgia Meloni, wurde zur Leiterin des politischen Sekretariats der Partei Fratelli d'Italia ernannt. Und schließlich bekam Andrea Gianbruno, Melonis Freund, seine eigene Sendung auf Rete 4, einem italienischen Privatsender der Mediaset-Gruppe.
Der Autor hat zur neuen Lage in Italien mit Michele Santoro gesprochen, "einer der letzten Ikonen des unabhängigen Journalismus", wie ihn die Faz genannt hat.
Santoro ist vor allem durch seine genaue, scharfe und unnachgiebige Kritik an Berlusconi und ihm folgende Rechtsregierungen in seinen TV-Shows bekannt geworden. Die Sendungen erfreuten sich großer Popularität.
Italien: Verarmung des Informationssystems
Wie steht es um die italienischen Medien? Werden, ähnlich wie in Deutschland, enge Meinungs- und Denkkorridore beklagt, an die sich Journalisten halten müssen?
Michele Santoro: Das italienische Informationssystem verarmt zusehends. Das Verschwinden der Printmedien ist in Italien ein besonders ausgeprägtes Phänomen, das auch dadurch verschärft wird, dass die Rai (die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt Italiens, Einf. d. A.), eine der wichtigsten öffentlichen Informationsquellen, heute von Einheitsdenken beherrscht wird.
Das liegt nicht nur an der aktuellen Regierung, die bekanntlich auch Keime des Faschismus in ihrer DNA trägt, sondern auch an den Vorgängerregierungen, in denen die Linke und die 5-Sterne-Bewegung ebenfalls eine wichtige Rolle spielten.
Auch diese Rolle hat aber nicht zu mehr Pluralismus im öffentlichen Fernsehen geführt. Als die 5-Sterne-Bewegung an der Regierung war, gab es eine große Mischung aus Politik, Information und sogar Wissenschaft und somit wurden die Tagesschauen zu einem Propagandainstrument zur Bekämpfung des Virus reduziert.
In den Jahren zuvor war das Verhalten der Rai ganz anders. Die unterschiedliche Ausrichtung der verschiedenen Nachrichtensendungen war sehr stark politisch geprägt.
Jetzt wird diese Unterscheidung nicht mehr wahrgenommen, und das schafft eine besonders schwierige Landschaft, zu der noch eine Art Flucht aus dem öffentlich-rechtlichen Programm und dem Fernsehen im Allgemeinen sowie aus den Zeitungen hinzukommt, die vom Sender kompensiert werden soll.
"Gewisse Schwäche des alternativen Denkens"
Im Netz gibt es eindeutig mehr Möglichkeiten, sich mit Gleichgesinnten zu treffen, als mit Gemeinschaften, die für eine Konfrontation mit der Außenwelt offen sind. Es ist also schwierig, von dieser Flucht ins Netz, wo man mehr beruhigende Nachrichten findet, zu einer Herausforderung des Systems überzugehen.
Dies führt zu einer gewissen Schwäche des alternativen Denkens, das auf einen sehr begrenzten Bereich beschränkt bleibt oder ohnehin dazu verurteilt ist, sich nur als Opposition zu manifestieren. Es gibt keine Leute wie mich, die es in der Vergangenheit geschafft haben, mit ihren Analysen die politische Agenda zu beeinflussen.
Ich werde heute höchstens als Gast eingeladen; ich habe keine Sendung mit Millionen Zuschauer mehr, die, obwohl sie eine Minderheitsmeinung vertrat, die öffentliche Debatte bestimmte.
Abgesehen von mir, gibt es jedoch eine besorgniserregende Situation für die Demokratie, und das betrifft den Niedergang aller westliche Medien, einschließlich der US-Medien, die zunehmend von einem einheitlichen Denken infiziert sind.
Italien ist übrigens das Land, in dem es mit Berlusconi einen sehr starken Interessenkonflikt gab, der alles andere beeinflusst hat.
Michele Santoro ist ein populärer italienischer Journalist und Fernsehmoderator, der auch als Abgeordneter im Europäischen Parlaments saß. Bekannt wurde Santoro durch Debatten mit Politikern, die unbequeme Fragen auch aus dem Publikum aufwarfen. "Santoros Sendungen galten als Orte, an denen sich das italienische Volk mit seinen Politikern auseinandersetzte, die oft als korrupt oder unfähig empfunden wurden" (Wikipedia).
"Eine Art Kriegslogik"
Woher rühren Ihre Sorgen?
Michele Santoro: In den Medien besteht die Tendenz, einen objektiven Feind auszumachen, der früher das Virus war und heute Putin oder die Hamas ist, und diesen Feind zu bekämpfen, zwingt eine Kriegslogik auf, die jede Art von Untersuchung ausschließt.
Jeder, der Zweifel anmeldet oder eine genauere Untersuchung fordert, wird sofort als Komplize des Feindes abgestempelt. Dann kam der echte Krieg und diese Tendenz wurde noch stärker. Es ist klar, dass Putin mit dem Einmarsch in die Ukraine eine schreckliche Tat begangen und seine Hände mit Blut befleckt hat.
Aber es stimmt auch, dass es komplexe Gründe gibt, die analysiert werden müssen, und es muss auch gesagt werden, dass Europa, das unter der US-amerikanischen Strategie litt, träge war. Europa hätte noch etwas machen können, um den Krieg zu verhindern, aber nichts ist passiert.
Es hätte sich stärker für die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen einsetzen können, für die Macron und Merkel bürgten, aber obwohl die beiden Politiker die Gefahr witterten, haben sie nichts unternommen.
"Nicht nur vom Standpunkt Europa aus betrachten"
Auch die Nato hat ihre Präsenz in Europa stark ausgeweitet, nicht so sehr, um Putin anzugreifen, sondern um seine mögliche Schwäche auszunutzen, um dann die Rüstung in Richtung der wirklichen Feinde, nämlich China und Nordkorea, zu bewegen.
Putin wurde von der Nato in die Offensive gedrängt und stand dann irgendwann vor zwei Alternativen: entweder angreifen oder sein Gesicht und seine Macht verlieren. Die Ukraine hat für Russland eine große politische Bedeutung.
Man darf das Ganze nicht nur vom Standpunkt Europas aus betrachten. Es geht auch um die politischen Machtverhältnisse in Russland. Putin hat sich "Russen zuerst" auf die Fahne geschrieben, aber es gibt Nationalisten, die ihn noch härter angegriffen hätten und ihm vorgeworfen, vor den Amerikanern zu kapitulieren. Er musste etwas tun.
Seine Reaktion war aber falsch: Er hätte nicht mit Panzern in ein anderes Land einmarschieren dürfen. Aber man muss auch verstehen, warum er es getan hat, welche Informationen er hatte. Es war auch aus militärischer Sicht eine ungeschickte Intervention, die fast den Eindruck erweckt, dass er absolut nicht mit einer Reaktion der Ukrainer gerechnet hat.
Nicht, weil er keine Informationen über die Waffen hatte, die die Ukrainer bereits von den US-Amerikanern erhalten hatten und die somit der Panzerinvasion hätten entgegenwirken können, sondern weil er meiner Meinung nach dachte, sie würden sich nicht wehren.
Man muss auch verstehen, wie die Situationen in der Ukraine und in Russland politisch miteinander verwoben sind. Auf beiden Seiten gibt es Fraktionen, die versuchen, die Fehler der ukrainischen und der russischen Führung auszunutzen, um die jeweiligen Regierungen zu stürzen.
Eine ernste Gefahr
Wir denken, dass die obersten Führungskräfte alles kontrollieren, aber das ist nicht der Fall. Sowohl Selenskyj als auch Putin haben ihre Lager nicht vollständig unter Kontrolle. Daraus ergibt sich eine ernste Gefahr, eine ernste nukleare Gefahr!
Wenn ich Beobachter sagen höre, dass Putin niemals Atomwaffen einsetzen wird, dann verstehe ich nicht, woher diese Gewissheit kommt. Ich wäre skeptisch, so wie ich auch an Selenskyj zweifle, von dem ich nicht weiß, wie er die Warlords, die sich in der Ukraine gebildet haben, unter Kontrolle hält.
Sie haben ein Interesse, den Krieg für ihre Waffengeschäfte fortzusetzen oder die Situation zu ihrem Vorteil auszunutzen. Es ist kein Zufall, dass in der Ukraine alle, ich wiederhole, alle Rekrutierungsbezirksleiter wegen Korruption entlassen werden, weil sie von denen bezahlt werden, die nicht kämpfen wollen.
Das halbe Verteidigungsministerium wird auseinandergenommen und wir gehen davon aus, dass die Ukraine eine perfekte westliche Demokratie ist, und diese Dinge sind wirklich lächerlich. Ich wäre nicht so entspannt und wünsche mir nur, dass dieser Krieg gerne so schnell wie möglich endet.
Eine Lösung für den Ukraine-Krieg?
Ihr Vorschlag lautete, Buden und Putin sollen sich an einem Tisch hinsetzen und die Lösung finden?
Michele Santoro: Ich bin immer noch der Meinung, dass die Ukraine-Affäre an einem Tisch mit den Mächtigen der Welt gelöst werden muss. Nicht nur Biden, nicht nur Putin, sondern auch China und die Brics-Staaten müssen sich zusammensetzen und ein Nachkriegsszenario für die Welt entwerfen.
Es ist sicherlich möglich, eine Lösung für den Donbass und andere Gebiete zu finden, indem die Rechte von Minderheiten geschützt werden, aber das eigentliche Problem besteht darin, über ein weltweites Sicherheitssystem nachzudenken, das ein Garant für alle ist und nicht das zentrale Primat der Amerikaner als Gendarmen der Welt behauptet.
Putin sollte eingebunden werden und ihm einen Ausweg anbieten, der die Sicherheit seines Landes einschließt. Wenn wir einfach die Absetzung Putins anstreben, ohne zu wissen, was danach kommt und ohne die Existenz von über hundert verschiedenen ethnischen Gruppen in Russland zu bewerten, die einen sehr destabilisierten Rahmen mit verheerenden Auswirkungen für Europa schaffen könnte ...
Wenn uns all diese Dinge nicht interessieren, dann werden wir Krieg führen, bis Putin gestürzt ist, und dann werden wir sehen, welche Folgen das für Europa hat.
Währenddessen leidet Deutschland bereits unter den Folgen der Rezession. Die Linke bleibt unsensibel gegenüber denjenigen, die im Winter Mühe haben werden, die Heizung aufzudrehen und die Rechte zieht ihre Vorteile daraus.
Es besteht die reale Gefahr, dass die Rechten in Frankreich und Deutschland ihre kritische Haltung zum Krieg ausnutzen, während eine schwachsinnige Linke, die auf der Seite der US-Amerikaner steht, keine kritische Haltung einnimmt.
Kritik an Waffenlieferungen
Darf man kritisch sein, d.h. seine Meinung äußern, indem man sagt, dass man keine Waffen mehr an die Ukraine liefern und diesen Krieg nicht anheizen sollte?
Michele Santoro: Natürlich kann man kritisch sein, aber man befindet sich außerhalb des Kreises der offiziellen Politik. In der offiziellen Politik gibt es in Italien nur die 5-Sterne-Bewegung, die als kleine Fraktion der italienischen Linken zu betrachten ist.
Sie kritisieren die Waffenlieferungen an die Ukraine, aber nur mit leiser Stimme. Sie haben nicht den Mut, solche Äußerungen klar und deutlich auszusprechen. Sie befürchten, als Putin-Befürworter bezeichnet zu werden.
Das passiert auch mir, obwohl ich mich in der Vergangenheit sehr kritisch gegenüber Putin geäußert habe, zum Beispiel über den Krieg in Tschetschenien, der von den wichtigsten Medien völlig ignoriert wurde.
Jetzt sind diejenigen, die früher Hand in Hand mit Putin gingen und ihn auf den Mund küssten, zu Anti-Putin-Politikern geworden. Nur sehr wenige Zeitungen, wie die Tageszeitung Il Fatto Quotidiano, schreiben diese Dinge.
Der Begriff "links" muss neu untersucht werden
Gibt es eine Chance für die italienische Linke, wiederzuerwachen, vielleicht auch in einem europäischen Kontext?
Michele Santoro: Ehrlich gesagt, bin ich der Meinung, dass das Wort "links" neu untersucht werden muss, um zu verstehen, was es genau bedeutet. Es bedeutet heute etwas, das der Vergangenheit angehört. In Italien kann man sagen, dass es die Linke nicht gibt.
Italien war das Land, das vielleicht die stärkste Linke in der westlichen Welt hatte. Heute haben wir nichts mehr, was auch nur im Entferntesten an die Jahre von Enrico Berlinguer erinnert. In Italien gibt es eine demokratische Partei, aber es ist nicht klar, was sie genau darstellt, da sie keine eigene Identität hat.
Mit einer Parteichefin, die gerne diese Partei stärker machen möchte, die aber viele Schwierigkeiten mit innerhalb der eigenen Partei hat, abgesehen davon, dass er zum Krieg in der Ukraine eine Position einnehmen musste, eine wenn auch gemäßigte, aber dennoch für Waffenlieferungen. Und das ist die PD (Demokratische Partei).
Die 5-Sterne-Bewegung kann nicht als linke Partei bezeichnet werden, und alles andere ist eher zersplittert.