Medienhysterie
Coca-Cola und die memetische Ansteckung
Als kürzlich in Belgien nicht nur der Skandal aufgedeckt wurde, daß in Lebensmitteln Dioxin enthalten ist, sondern nach Erkrankung von einigen Dutzend Schülerinnen auch noch der Verdacht aufkam, daß in Coca-Cola Gift enthalten sein könnte, ging die Angst vor Lebensmittelvergiftungen durch die Medien. Das Unternehmen handelte, aufgerüttelt durch die inszenierte Panik, sogar relativ schnell und holte Millionen von Getränken aus dem Markt zurück. Auch die Politik geriet in Zugzwang. Der Verkauf von Coca-Cola wurde in Belgien zunächst einmal verboten. Nach den ersten Meldungen wurden weitere Vorfälle aus Schulen berichtet und viele Menschen meldeten den belgischen Behörden, daß sie unter Vergiftungssymptomen leiden würden. Für Coca-Cola jedoch riß damit der Unglücksfaden nicht ab, denn auch in Polen mußte man wegen Verunreinigungen ein neu auf den Markt gebrachtes Mineralwasser zurückziehen. Auch hier also reiht sich eine Ansteckung an die andere.
Die Erkrankten, die teilweise in Krankenhäuser behandelt wurden, litten an Schwindel, Kopfweh, Müdigkeit, Unwohlsein und anderen Symptomen. Coco-Cola stellte fest, daß bei einer französischen Abfüllung Fungizide an der Außenseite von Dosen und in Belgien geringe Mengen an Hydrogensulfit in den Medien gefunden wurden. Als diese Ergebnisse bekannt wurden, wurden wieder Hunderte von Menschen krank - angesteckt durch die Medien und eine über sie ausgelöste Massenhysterie, wie belgische Wissenschaftler vermuten. Massenhysterien freilich wären nur besonders markante, weil kollektiv und mit spektakulären Symptomen auftretenden memetische Ansteckung, die für manche in Analogie zur genetischen Vererbung Ideen, genannt Meme, in den Köpfen der Menschen verbreitet und so die Grundlage der kulturellen Evolution ist.
Professor Nemery und seine Mitarbeiter an der Universität von Leuven sowie der Katholischen Universität stellten in einen Brief an die medizinische Fachzeitschrift Lancet ihre Hypothese vor. Ausgehend von den Analysen seien die chemikalischen Verunreinigungen so gering gewesen, daß sie keinerlei Auswirkungen auf jene hätten haben können, die Getränke von Coca-Cola konsumierten. Lediglich das Hydrogensulfit könne dem Getränk einen ungewöhnlichen Geschmack oder Geruch geben, wäre aber eben in dieser Konzentration völlig ungefährlich. Die bei den Erkrankten aufgetrenen Symptome erinnerten hingegen an eine Massenhysterie (mass sociogenic illness - MSI), bei der es zu einer Reihe von körperlichen Krankheitssymptomen ohne identifizierbaren Grund kommen kann, wenn "zwei oder Personen" zusammenkommen, die "gemeinsame Vorstellungen über diese Symptome" besitzen. Diese "gemeinsamen Vorstellungen" haben ihren Grund in der erhöhten Angst der Menschen gegenüber den Nahrungsmitteln, die vermutlich nicht ganz unbegründet ist und sich derzeit, vor allem in Großbritannien, in der breiten Abwehr des sogenannten "Frankenstein Food" zeigt, also von Lebensmitteln, die Bestandteile von gentechnisch veränderten Pflanzen enthalten.
Die Wissenschaftler jedenfalls meinen, daß bei dem Fehlen einer epidemiologischen und toxikologischen Ursache, durch die ausgiebige Thematisierung in den Medien und dem Hintergrund der Angst vor neuen, industriell gefertigten Lebensmitteln die Diagnose MSI am wahrscheinlichsten sei. Ausgelöst worden sei die Ansteckung von Nachrichten in den Medien, daß 26 Schüler einer Klasse in ein Krankenhaus gebracht worden seien. Erst danach seien Meldungen von anderen Schulen aufgetaucht, die ebenfalls von Erkrankungen berichten. Für MSI spreche auch die Bevölkerungsgruppe, die von der Erkrankung betroffen gewesen sei: Schulmädchen. Das scheint also ähnlich ansteckend zu wirken, wie beispielsweise Attentate oder Massaker, wie das auch bei dem Vorfall in Littleton der Fall war. Medien machen aufmerksam und bieten Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich ist es genau diese Kombination, die ansteckend wird und das Mem auf "geschwächte" oder empfängliche Träger überträgt.
Man gibt die Schuld für die Ausbreitung jedoch nicht nur den Medien, die am besten und schnellsten die Ansteckung übertragen, sondern auch den Gesundheitsbehörden, die sich nach den Versäumnissen bei dem kurz zuvor aufgedeckten Dioxinskandal in ein gutes Licht stellen und wenigstens dieses Mal schnell handeln wollten. Allerdings wird der Druck auch hier von den Medien als den kollektiven Aufmerksamkeitsorganen ausgeübt. Da der Ausbruch der mit dem Zusichnehmen von Coca-Cola-Produkten verbundenen Gesundssymptomen eine "akute Somatisierung" nur in bestimmten Gruppen offenbart habe, läge die Diagnose einer MSI nahe, die man nicht medizinisch, sondern gesellschaftlich heilen müsse.
Hier würde es dann eigentlich erst wirklich interessant werden, denn egal ob sich memetische Ansteckungen psychosomatisch oder durch andere Nachahmungen äußern, ob sich Gerüchte oder Moden ausbreiten, ob Medien nur Überträger oder auch Verursacher sind, so scheint die Psychologisierung der in Aktionen umschlagenden Angst nicht der richtige Weg zu sein. Der Hintergrund der wachsenden Angst vor den in Lebensmitteln enthaltenen Schadstoffen ist keineswegs nur ein Hirngespinst und richtet sich nicht nur auf die Art der Landwirtschaft, sondern auf die gesamte Art der Produktion, ja auf die Lebensweise in unserer Gesellschaft, die ihre zerstörerischen Züge schon längst gezeigt hat und täglich über immer neue Meldungen in den Medien in die Köpfe der Menschen eindringt: eine gigantisch große Smogwolke über dem indischen Ozean, die fortschreitende Verwüstung großer Flächen in Australien, die Erwärmung des Klimas, die Ausbreitung von Seuchen, die Zerstörung des Kaspischen Meeres, die zunehmende Gifttunke der Muttermilch, um nur die letzten Meldungen zu nennen.
Aber wie so vieles anderes zeigt diese mentale Epidemie auch das Prinzip der Aufmerksamkeitsökonomie. Neues verebbt schnell, wird überlagert von anderem, die Aufmerksamkeit wandert ab und wendet sich einer anderen Ansteckung zu. Die Medien, die Aktualität, also ständigen Wechsel 24 Stunden am Tag, nur am deutlichsten verkörpern, schmiegen sich der flüchtigen Aufmerksamkeit an. Doch das Zappen ist eigentlich nur ein Warten darauf, daß wieder etwas geschieht, das beeindruckt und für eine kurze Unterbrechung sorgt, die wiederum dringend von den Medien benötigt wird, um ihren permanenten Neuigkeitsfluß aufrechtzuerhalten und die Aufmerksamkeit der Menschen und damit das Geschäft am Leben erhalten.