Medienviren
Der Medienkünstler Peter Altenberg alias Karl Nagel speist seit einiger Zeit provokante Desinformationen ins Netz - und viele sind darauf hereingefallen.
(Des-) Information: das Ende der Authentizität im Internet?
Die Mediengesellschaft bietet nicht nur Möglichkeiten, leichter an Informationen zu kommen oder diese zu produzieren, sie ist auch anfällig für Medienviren. Peter Altenberg alias Karl Nagel hat durch sein "Informationsangebot für Presse und Polizei", ungeachtet aller Ironie, mit einigen Viren die Köpfe von Journalisten und Polizisten infiziert. Man nehme das richtige=spektakuläre Mem, und die Journalisten, Agenten der kollektiven Aufmerksamkeit, hängen an der Leine.
Das Internet empfiehlt sich als gigantisches Informationsmedium mit tausenden Datenbanken. Vor allem Wissenschaftler und Journalisten können diesen schnellen Zugang zu den neuen Wissensspeichern der Gesellschaft nutzen und in neue Zusammenhänge bringen. Wie einfach sich die Potentiale des Internet aber auch mißbrauchen lassen und aus dem schnellen Infomix des World Wide Web eine "hochexplosive Mischung" werden kann, hat der "Informationsvergifter" (Süddeutsche Zeitung vom 29.8.1997) Peter Altenburg bewiesen: Seit mehr als zwei Jahren hat der "Medienkünstler" mit dem Pseudonym Karl Nagel die gesamte deutsche Medienwelt und die Polizei mit seinen Warnungen vor dem Aufleben der 1994 und 1995 in Hannover tatsächlich stattgefundenen Chaos-Tage an der Nase herumgeführt: Anfangs mit Flugblättern, die er an ausgewählte Redaktionen verschickte, und die beispielsweise in Focus in voller Länge abgedruckt wurden, später mit dem noch kostengünstigen, eigenen Web-Angebot führte er Journalisten wie Polizeipräsidenten an der Nase herum, indem er - der angeblich unbefangene Informationsvermittler - vor den Anschlägen der Punks auf die Republik warnte.
Liebe Kollegen!
Wir sind nicht länger bereit, Euch allein das Monopol auf eine bluttriefende und sensationshungrige Berichterstattung zu überlassen! In diesen Dingen sind wir einfach BESSER als Ihr, und deshalb solltet Ihr in regelmäßigen Abständen mal hier reinschauen. Vielleicht sind wir ja gerade Dingen auf der Spur, die Ihr bisher nicht einmal wahrgenommen habt?!
Die Zeit ist einfach reif für den CANNIBAL HOME CHANNEL, damit all die langweiligen Medienpisser mal mitkriegen, wie man's RICHTIG macht!
Bis dann -
Eure stets hungrige Kannibalentruppe
Nagel: Medienpisser
Kaum einer wagte die Authentizität der mysteriösen Flugzettel - "zum Beweis" hielt der "Künstler" die eingescannten "Dokumente" auch als Bilddatei auf seinem Server zum Download bereit - anzuzweifeln, obwohl allein der Name des "Informationsangebotes für Presse und Polizei" zu denken hätte geben müssen: Zumindest klingt die Bezeichnung "Cannibal-Home-Channel" (CHC) nicht für jedermanns Ohren sofort vertrauenswürdig. Außerdem hätte man beim genaueren Nachdenken ja auch darüber stolpern können, daß die Punkgemeinde sich gerade über das Internet zu ihren zivilisationsgefährdenden Zusammenkünften zusammentrommeln sollte. Aber was die Neonazis schaffen, dürfte doch auch von linken Counter-Radikalen zu bewerkstelligen sein, oder?
Trotz all der Ungereimtheiten wurden die "Mahnungen und Warnungen" des Kannibalenkanals ernst genommen - fielen sie doch in die Ohren von sensationslüsternen Massenmedien und hellhörigen Sicherheitsministerien. 34 Millionen Mark ließ sich der Innensenat Hannovers den Einsatz gegen die angeblich stattfindenden Chaos-Tage 1996 kosten - auch wenn die gelangweilten Polizisten dann letztendlich vergeblich auf die Staatsgegner warteten, die nur vereinzelt aufgrund der Bekanntmachungen aus Funk und Fernsehen - aber eben nicht wegen "geheimer" Absprachen über das Netz - in die niedersächsische Landeshauptstadt reisten. Da war der Berliner Innensenator Jörg Schönbohm schon deutlich klüger: Die "Hinweise aus dem Internet", daß im Rahmen der gegen den Kommerz der Mega Love Parade 97 demonstrierenden Hate Parade schwerbewaffnete Punker mit Minen und Schrotpistolen gegen die Sunshine-Raver im Tiergarten vorgehen würden, hielt er schlichtweg für nicht stichhaltig - und traf damit voll in Schwarze. Zumindest konnte man außer den als Erfrischungsmittel heiß begehrten Wasserpistolen keine Waffen während der Love Parade bemerken, und die Hate Parade erinnerte eher an ein gemütliches "Familientreffen" denn an eine staatsfeindliche Versammlung. Keine Wunder: beruhten die "Warnungen vor einer Verlagerung der Chaos-Tage nach Berlin" doch auf nichts weiterem als einer "Pressemitteilung" eines Dr. Shot, der mit dem Motto "Let the gun shine in your heart" zu einem Massenschlachten unter den Techno-Tänzern aufrief, und die - welch Wunder - von Karl Nagel auf seinem "Kannibalen-Channel" "dokumentiert" wurde. Und zwar "ausschließlich" zu dem Zweck, "der Information der Öffentlichkeit zu dienen."
Hab' Kugeln im Herzen, ob's stürmt oder schneit, denn dann ist Berlin dem Tode geweiht." Die Hate-Parade ist Ausdruck unserer Lebensfreude. Sie findet auf dieser Erde statt und ist deshalb ein Zusammenkommen aller Menschen mit offenem Herzen. Wir verstehen uns über die offene Sprache der Gewalt. Es ist die Gewalt unserer Zeit und hat ihre Wurzeln in der House- und Technomusik, die Euer Leben ausdrückt wie einen Pickel.
Dr. Shot
Im übrigen handelt es sich bei dieser angeblichen "Pressemitteilung" um eine - fast wollte man sagen: wunderbare - Parodie auf die salbungsvolle "offizielle Einladung zur Love Parade" des Dr. Motte, die allen Freunden des tiefschwarzen Humors ans Herz gelegt sei. Diese "satirische Leistung" könnte man allerdings besser in einer "Titanic"-Ausgabe als auf einem als Presse- und Polizei-Informations-Server getarnten Angebot würdigen.
Auch wenn der hannoversche Polizeipräsident Hans-Dieter Klosa kürzlich dem Spuk vor der Presse ein Ende bereitete und den 36jährigen "Freund und Helfer" mitsamt seinem Künstlernamen outete, zeigt der Fall doch aufs Eindringlichste, wie leicht das Mediensystem der Informationsgesellschaft zu mißbrauchen, an der Nase zu ziehen und insgesamt ad absurdum zu führen ist. Es dürfte zwar inzwischen hinreichend bekannt sein, daß sich Massenmedien - nicht nur, aber auch aufgrund ihrer bestimmenden Selektionskriterien von Aktualität bis zu Sensation - mit Hilfe geschickter Public Relations manipulieren und zweckentfremden lassen, neu ist aber die Schlichtheit der Methode des Täuschens: Man bastele eine Homepage, die man heutzutage bei vielen Providern schon kostenfrei mit Entrichtung der Monatspauschale erhält, statte sie mit den ausreichend blutrünstigen Medienködern aus, verziere sie mit einem Button "Presse" - und herauskommt eine alle Medien übergreifende Berichterstattung, die nicht einmal im Ansatz hinterfragt wird und den Steuerzahler im Ernstfall noch Millionen kostet, wenn sie von Behörden ernstgenommen wird.
Das ist das schöne an den Neuen Medien: Es ist EGAL, wo Du bist - ans Internet kommst Du immer... Eine Telefonleitung, an die ich mein Modem klemmen kann, haben all meine Freunde, auch im hintersten Südfrankreich. Es ist also überhaupt kein Problem, den CHC jederzeit zu aktualisieren. Wo immer ich auch bin, abgeschnitten von den wichtigen Ereignissen bin ich nirgendwo. Es lebe das Informationszeitalter.
Aus: Kannibalen unterwegs
So schnell kann die Informationsgesellschaft in eine desinformierte Gesellschaft verwandelt werden: Nachrichten werden zum Infomüll - zur "Datenbombe", wie Paul Virilio schon seit langem fürchtet -, der allerdings nicht sofort als solcher zu erkennen ist, wenn Fakten und Fiktion wie im Falle des "Cyberpunks" Karl Nagel zu einer undurchdringbaren Melange zusammengerührt werden.
So sind die "Pressemitteilungen" des CHC immer wieder mit "echten" Zitaten aus Zeitungen angereichert, und es gibt sogar einen Link auf eine Seite der Polizeidirektion Hannover, auf der sich der Polizeipräsident mehr oder weniger für das Verbot der "Chaos-Tage 1996" entschuldigt. Auch hier bleibt die Authentizität des "Dokuments" allerdings unklar, da die verlinkte Seite zwar mit dem Bild des obersten Polizisten Hannovers und einem Polizeistern geschmückt ist, die Seitenadresse allerdings auf ein direkt beim CHC archiviertes Dokument weist - und wer möchte den "Beweisstücken" aus der "Dangerzone" bzw. aus dem "Archiv des Grauens" schon glauben schenken?
Nach dem Fall Born nun also der Fall Nagel. Ein Skandal für die Medienwelt, ein Hohn auf die "Kollegen Journalisten", auf die "Medienpisser" und "Cops". Vielleicht sollte man dem eifrigen Fälscher aber sogar dankbar sein, daß er diese dunkle Seite des Informationszeitalters an einem insgesamt noch recht harmlosen Beispiel deutlich gemacht und hoffentlich die Augen und Ohren der "informationsfilternden" Instanzen ein bi_chen mehr geöffnet hat. Denn wer weiß, was - abgesehen von den Jahrhundert-Chaos-Tagen anläßlich der Expo 2000 in Hannover - noch alles auf uns zukommt.
Wir sollten uns auf jeden Fall schleunigst auf einen anderen Umgang mit der "Basis" der "neuen" Gesellschaft, der Information, angewöhnen. Denn auch wenn sich die "alten Medien" bereits eindeutig für propagandistische Zwecke mißbrauchen ließen und das Problem der Authentizität von Nachrichten und Informationen beileibe kein neues ist, so scheint die Flüchtigkeit, Schnelligkeit und scheinbare "Intimität" des Mediums Internet doch eine neue Stufe im Prozeß der "Datenverarbeitung" in der (Medien-) Wirklichkeit darzustellen. Der Fall Nagel sowie die überall im Netz mit der dem Medium eigenen exponentiellen Wachstumsrate sprießenden Verschwörungstheorien mögen da nur ein Anfang gewesen sein.