"Mehr Gemeinwohl-Kevin, weniger Hoffnungsträger-Kevin"
Gelungene Kampagne: Eine sehr ungewöhnliche Langzeitbeobachtung über Kevin Kühnert in der ARD
Wir erwarten Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit. Wir erwarten es, dass unsere Parteispitze bereit ist, sich mit den Großen, den Mächtigen, den Reichen in unserer Gesellschaft anzulegen. Das ist die Erwartung, an der wir unsere Partei messen werden.
Kevin Kühnert, Juso-Bundeskongress 2018
Er raucht. Er ist unrasiert. Er isst Schokolade. Er kann gut reden. Er hat Charisma: Kevin Kühnert. Er ist der Star; nicht nur im Berliner Polit-Betrieb, sondern auch der erste deutsche Politiker, der nun zur Hauptfigur einer Dokuserie geworden ist.
Sie heißt: "Kevin Kühnert und die SPD" und reicht von Folge 1, "Am Boden", und dem Desaster bei der Hessenwahl 2018 über die Europawahl und den darauf folgenden Rücktritt Andrea Nahles' über "Machtlektionen" bis zur Folge 6, "Bundestagswahl", und einem nie möglich gehaltenen SPD-Triumph, bei dem man sich noch lange fragen wird, ob dieser durch Kevin Kühnert oder gegen ihn zustande kam, oder weder noch, weil sowieso alles nur durch die Fehler der Union und der Grünen so kam, wie es kam.
"Weil ich das als eine Ansage verstehe"
Es ist eine furiose sechsteilige Serie, die der NDR, ausgerechnet die wegen der "Lovemobil"-Pannen vielgescholtene Redaktion um Timo Großpietsch, jetzt über Kevin Kühnert gedreht hat. Sie hat den SPD-Jungstar in einer Langzeitdoku seit 2018, der Hessen-Wahl, über dreieinhalb Jahre begleitet.
Man erlebt noch einmal die Demütigung dieser großen traditionsreichen SPD-Partei, viel praktische Politik, manche Momente, in denen man gern mehr sehen würde, weniges Verräterische. Zu Letzterem gehört jener besondere Doku-Moment, an dem wir in seinem Gesicht sehen können, dass Kevin Kühnert nicht eingeweiht war, als die von ihm zuvor protegierten Partei-Co-Vorsitzenden mit Olaf Scholz dessen Kanzlerkandidatur auskungelten. Politische Vertraute informiert er kurz darauf so:
Um es noch mal deutlich zu sagen: es gab keine Vorinformation. Ich werde auch heute noch mal mit Saskia und mit Norbert telefonieren und da sagen, dass ich da extrem enttäuscht bin. Weil ich das als eine Ansage verstehe, dass eine privilegierte Partnerschaft anscheinend nicht mehr das Setting ist, mit dem wir weiter arbeiten. Das muss man mal so zur Kenntnis nehmen.
Kevin Kühnert
"Das sind die Hauptbotschaften heute Abend"
Nur ein paar Filmminuten zuvor hatte er NoWaBo (Norbert Walter-Borjans) und Saskia Esken noch vor dem Auftritt beim Mitgliederentscheid "gebrieft" - auch das sind besondere Momente: "Das sind die Hauptbotschaften heute Abend! Und das mit Fröhlichkeit. Macht es über Lust am Anfang. Macht es über Stolz beim Einstieg: Ihr wollt Vorsitzende werden. Ihr habt Lust darauf. Es ist keine lästige Pflicht, sondern eine Leidenschaft."
Und dabei zieht Kühnert mit großen Augen seine Mundwinkel hoch zu einem Lächeln: "Angstszenarien zurückweisen. Unsere SPD arbeitet nicht mit Angst."
Mit der arbeitet nur der politische Gegner - "Angst vor Kühnert". Wir werden Zeuge, wie das rechtsbürgerliche Lager Kühnert dämonisiert: "Der neue Herr im Haus" (FAZ), "Die Übernahme" (SZ), "Kühnert-Show" (Tagesspiegel). Es sind gute Bilder und es ist eine anständige Dramaturgie, mit der die Co-Regisseure Katharina Schiele, Lucas Stratmann hier arbeiten - keineswegs selbstverständlich.
Dann wieder Reden: "Das womit wir begeistern wollen, das ist Sozial. Demo. Kratie"
"Die Erzählung muss sein..."
Politik ist aber auch hier das langsame Bohren dicker Bretter. Sie ist Bahnhöfe, Züge, Sitzen, Reden, Telefone, Pressechecks auf dem Tablet, Klinkenputzen im Wahlkreis. Banaler Alltag wie Hotelflure und schlechte Frühstücke. "Fünf Uhr Aufstehen ist so eine Rotze." Kühnert fährt gern in Car-Sharing Autos, stöhnt dann auf der Suche schon mal "Hoffentlich kein BMW", wo er doch erst in der Woche zuvor die Enteignung der Bayerischen Motoren Werke gefordert hatte.
Politik ist auch Selbstmarketing: Mit einer 5-Punkte-Agenda an der Tafel und den Pressesprecherinnen Sara Schlote und Nici Kiendl geht es darum, stärker die Verbindung Kühnert-SPD deutlich werden zu lassen, ohne dass der Eindruck aufkommt, KK sei eingeschwenkt ins Parteiestablishment. "Wie willst du in der Partei unterwegs sein?" Es gebe viel Lob für ihn persönlich, sagt eine Mitarbeiterin, die Zuschriften von Bürgern ausgewertet hat. Die Anerkennung erstrecke sich aber nicht auf die SPD.
Es müsse jetzt mehr Gemeinwohl-Kevin und weniger Hoffnungsträger-Kevin sichtbar werden, lautet das durchwachsene Fazit.
Was passiert ab dem Abend der Wahl?
Später geht es dann darum, die Niederlage der Scholz-Kandidatur als Erfolg zu verkaufen: "Die Erzählung muss sein: Wir haben seit letztem Jahr seitdem SPD-Parteitag diesen Laden doll verändert und zwar so doll, dass es eigentlich kein Widerspruch ist."
Heute ist sie ein Erfolg: Kurz zuvor haben wir gesehen, dass auch Generalsekretär Lars Klingbeil vor einem Jahr kaum an den Erfolg glaubte: Was passiert ab dem Abend der Wahl?
Nach 55.000 geklingelten Türen und einem Direktmandat in Schöneberg sah es am 26. September anders aus. Mit Scholz gab's ein Happy End: "Ein bisschen gut haben wir es schon gemacht."
Am meisten über den Menschen Kevin Kühnert erfährt man, wenn man sich bewusst macht, was alles nicht zu sehen ist: Was gar nicht vorkommt, ist ein Hinweis auf seine Vergangenheit, auf Beweggründe über die des Tages hinaus. Kühnerts No-GroKo-Slogan fehlt, auch die "Tritt ein, stimm Nein"-Kampagne. Man ist nie privat bei ihm. Sieht keine Eltern, keine Freunde, keinen Freund.
Kühnert hat den Filmemachern zwar Zugang gewährt, diesen aber deutlich begrenzt. Hier ist einer sympathisch, aber bei aller Sympathie ganz straight. Er setzt die Grenzen, und er weiß, was er will. Auch von diesem Film. Ausgerechnet dem CDU-Nerd Philip Amthor erklärt Kühnert einmal sein Verhältnis zu dieser Doku-Serie: "Du setzt selber die Grenzen. Wenn ich sage: 'Iss nicht', dann iss nicht."
Alles in allem ist "Kevin Kühnert und die SPD" eine unbedingt auch über dreieinhalb Stunden lohnenswerte, unterhaltsame Doku-Serie in der ARD-Mediathek. Aber Vorsicht: Manche werden danach in die SPD eintreten.