Mehr Kaufkraft ist nicht genug
Wirtschaftsberater der französischen Regierung: Woran es liegt, dass das "Wohlergehen" abgenommen, die Malaise aber zugenommen hat
Neoliberal ausgerichtete Wirtschaftspolitik untergräbt den Zusammenhalt in der Bevölkerung und die Glaubwürdigkeit der Politik. Diese Einsicht mag trivial daher schreiten, spielt aber, wenn es um Gegenstimmen und einen anderen Kurs geht, realpolitisch keine große Rolle.
So lässt die Erklärung aufhorchen, die aktuell das Papier eines französischen Think Tanks für die Entstehung der Gelbwesten-Bewegung und die große Zahl der Nichtwähler im Nachbarland anbietet. Obendrein ist der "Rat der Wirtschaftsanalyse" (französisch: Conseil d’analyse économique, CAE), der die Studie durchgeführt hat, mit der Regierung verbunden. Er berät den Premierminister. Gegründet wurde er 1997 im Auftrag des damaligen französischen Premierministers Lionel Jospin. Jospin war ein Sozialdemokrat, die gegenwärtige Regierung folgt neoliberalen Leitlinien.
Die Malaise
Aus der Studie, deren Zusammenfassung auch auf Deutsch zu lesen ist, lässt sich folgern, dass Maßnahmen zur Erhöhung der Kaufkraft, mit denen Macron zunächst auf den Protest der Gelbwesten reagierte (siehe:"Mogelpackung"), nicht der Königsweg für die Lösung der sozialen Unzufriedenheit sind.
Es geht, so die Autoren, um eine "Malaise" (in der verlinkten deutschen Übersetzung nicht wirklich treffend mit "Unwohlsein" übersetzt), die mit dem Rückzug des Staates aus bestimmten Regionen zu tun hat und, um es plakativ zu veranschaulichen, mit dem Verschwinden von sozialen Treffpunkten, womit nicht nur Brasserien oder Cafés gemeint sind.
Zwar sind die Gelbwesten zu Anfang ihrer Proteste mit dem Slogan "Das Geld reicht nicht bis zum Ende des Monats" aufgetreten und damit markierten sich auch in einer größeren internationalen Öffentlichkeit, die über die Menge der Demonstranten verblüfft war - und Beobachter durch Schlagzeilen über rechte Teilnehmer und Gewaltausschreitungen Label-Probleme bekamen.
Aber die bald aufkommenden Forderungen nach einem Rücktritt von Macron, der als Präsident der Reichen und Wirtschaftsmächtigen zum Ziel des Zorns wurde, und mehr politischer Partizipation, z.B. durch Plebiszite, zeigten, dass es um eine bessere Vertretung ihrer Lebenslagen und Interessen geht.
Einkommen und Beschäftigungslage reichen nicht, um den Abstieg eines Gebiets zu erklären, lautet eine der Erkenntnisse der Studie. Man müsse die Stellen ausfindig machen, wo "sich das Leben zurückzieht". Obschon ein Großteil der Gilets Jaunes nach Angaben der Studie einen Arbeitsplatz haben, hätten Recherchen ergeben, dass viele, die an den Protesten teilnehmen, aus Kommunen kommen, in denen die Erwerbstätigkeitsquote in den letzten sieben Jahren zurückgegangen ist.
Als weiteres Kennzeichen der Gilets jaunes wird erwähnt, dass die Bewegung ihren Ausgang weniger in traditionellen "Arbeiterbastionen" nahm, sondern dass viele postindustriellen Dienstleistungen nachgehen (erwähnt werden Berufskraftfahrer und Pflegeberufe). Das ist an sich nicht neu.
Das Verschwinden der Superettes
Interessant ist zweierlei, einmal, dass die Berufstätigen in diesen Branchen oft alleine arbeiten und mit den Treffen an den Kreisverkehrsprotestpunkten an einer "Sozialisation" teilgenommen haben, was einen wesentlichen Teil der politische Kraft der Bewegung ausgemacht hat. Zum anderen wird herausgestellt, dass Teilnehmer der Proteste mit größerer Wahrscheinlichkeit aus Gegenden kommen, die lange Anfahrtswege - über 25 Minuten bei Berufsverkehr - benötigen, um in Orte zu kommen, die für die Versorgung wichtig sind.
Daran hängt sich eine Grundannahme der Wirtschaftsberater auf. Überall dort, wo der Staat nicht auf die Qualität der Versorgungsleistungen (Paradebeispiele sind Schulen und medizinische Versorgung, es geht aber auch um öffentliche Dienstleistungen von Behörden oder Bibliotheken) achtet oder sie sogar schließt, und sich Geschäfte, weil sie sich nicht lohnen, zurückziehen, ist der Anteil derjenigen, die sich sozialen Protesten anschließen, höher.
In der deutschen Übersetzung der Studie heißt es:
Eine Gemeinde, die ihr Gymnasium, ihre Buchhandlung oder ihr Kino verliert, erlebt eher eine Gelbe-Weste-Veranstaltung. Die Schließung von Gesundheitseinrichtungen, einschließlich Entbindungsstationen und Notfalldiensten, führt zu einem ähnlichen Ergebnis. Allgemeiner gesagt, ist es der Verlust von Orten der Vergesellschaftung, der an der Malaise der in der Gelbe-Westen-Bewegung mobilisierten Territorien teilzuhaben scheint. Umgekehrt, wenn das lokale Assoziationsgewebe dichter ist, sind Äußerungen von Unzufriedenheit seltener.
Studie Territorium, Wohlergehen und öffentliche Ordnung
Auch das mag als abstrakte Erkenntnis trivial klingen, bekommt aber "am Boden" ein eigenes Gewicht, wenn man sich das Beispiel der Superettes, der Minimärkte, vor Augen hält. "30 Prozent der Kommune, die ihren Minimarkt in den letzten Jahren verloren haben, haben ein statistisches Ereignis "Gilet jaunes" im Vergleich zu 8 Prozent bei den anderen Kommunen", heißt es in der Studie.
Ebenso umständlich ist in der deutschen Übersetzung eben von "Verlust von Orten der Vergesellschaftung" die Rede. In den Superettes versorgt man sich nicht nur mit den nötigsten Lebensmitteln, sondern man unterhält und verständigt sich auch mit anderen. "Eine Superette erweist sich als ebenso wichtiger Ort für den Prozess des gesellschaftlichen Verständnisses ('Sozialisation') wie öffentliche Dienstleistungen", heißt es in der Studie.
Diese unternimmt mit Verweis auf Ökonomen dann sogar die Mühe, den Verlust eines solchen Minimarktes und den damit einhergehenden Schwund der Lebensqualität eines Haushaltes auf die Einerstelle genau in Euro darzustellen: 2.155 Euro, "das Äquivalent eines 13. Monatsgehaltes".
Ein unfreiwilliges valentineskes Element zeigt die Analyse, wo es ihr um Empfehlungen für die Regierung geht. Dort nimmt man sich die Einrichtung France Service vor, eine Idee, die Macron in Folge seiner Großen Debatte mit den Bürgermeistern und ausgewählten Bürgern entwickelt hatte: einen besseren Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen und mehr Übersicht und Effizienz derselben unter einem Dach. Letztlich geht es auch Bürgernähe.
Allerdings so monieren die Berater mute das Ganze so administrativ und funktional an, dass die Gebäude des France Service wahrscheinlich nicht zu einem Treffpunkt werden, wo sich mehr "Sozialisation" entwickeln kann, weil die Besucher wahrscheinlich nur in Computer-Screens schauen, um Masken für Erklärungen auszufüllen. "Warum kann man nicht bestimmte Dienste in einem Café anbieten?", zitiert Le Monde aus der Untersuchung.
In der deutschen Übersetzung klingt die Empfehlung des Rates als Ausweg aus der Malaise so:
Bei der Einrichtung des Netzes "France services" sollten die Durchgangsorte gezielt angefahren werden und eine Erweiterung der Aufgaben durch die Einbeziehung lokaler Dienste, einschließlich privater Dienste, entsprechend den lokalen Bedürfnissen der Nutzer ermöglicht werden. Vermeiden Sie die "all-digitale" Strategie, um die soziale Bindung zu erhalten.
Studie Territorium, Wohlergehen und öffentliche Ordnung