Mehr als 20 Prozent billige Arbeitskräfte
Nur in sechs europäischen Ländern ist der Anteil schlecht bezahlter Arbeitnehmer höher als in Deutschland
In dieser Statistik darf man sich über den letzten Platz freuen! Doch den hat Schweden sicher, wo der Anteil der Beschäftigten, die weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns verdienen, nur bei 2,5 Prozent liegt. Deutschland weist dagegen den siebtgrößten Niedriglohnsekor in der Europäischen Union auf und beschäftigt hier mehr als ein Fünftel der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (22,2 Prozent).
Nur in den baltischen Staaten, Rumänien, Polen und Zypern ist die Lage noch kritischer, meint das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung.
Großes Gefälle in Europa
Im europäischen Durchschnitt betrifft der Niedriglohnsektor 17 Prozent der jeweiligen Arbeitnehmer, doch nur die Situation in Slowenien (17,1 Prozent) vermittelt einen relativ exakten Eindruck davon, was dieser Wert bedeuten kann. Denn die Abweichungen sind beträchtlich. Zwischen "Spitzenreiter" Lettland und "Schlusslicht" Schweden liegen 25,3 Prozent – und im Vergleich zu Deutschland haben sogar der problembeladene Nachbar Frankreich (6,1 Prozent) oder Krisenländer wie Italien (12,4 Prozent) und Spanien (14,7 Prozent) eine bessere Bilanz.
Da die Zahlen aus dem Jahr 2010 stammen, könnten sich die Verhältnisse mittlerweile stärker angeglichen haben, doch für den WSI-Tarifexperten Thorsten Schulten ist auch die Einzelbetrachtung schon bedenklich genug.
Durch die Krise und die harte Sparpolitik in Südeuropa mag sich die Situation dort seit 2010 verschlechtert haben. Aber das ändert nichts daran: Deutschland kann einfach nicht damit zufrieden sein, dass hier mehr als ein Fünftel der Arbeitnehmer so gering bezahlt wird.
Thorsten Schulten
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales beurteilt die Lage naturgemäß anders. Nach Einschätzung der zuständigen Ministerin verdient der deutsche Arbeitsmarkt das Prädikat "grundsolide":
Trotz vergleichsweise gedämpfter Frühjahrsbelebung bleibt der deutsche Arbeitsmarkt grundsolide. Angesichts der unsicheren wirtschaftlichen Lage etlicher europäischer Länder ist das bei weitem kein Selbstläufer.
Ursula von der Leyen, 29. Mai 2013
Dabei sind sich die Arbeitsmarktexperten nicht einig, ob die Entwicklung in Deutschland auf eine weitere Zunahme oder eine leichte Reduzierung des Billiglohnsektors hinausläuft. In absoluten Zahlen scheint die Sachlage allerdings eindeutig zu sein. Nach Berechnungen des Instituts Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen arbeiteten hierzulande im Jahr 2010 rund 8 Millionen abhängig Beschäftigte für einen Stundenlohn unter 9,15 Euro. Gut 4,1 Millionen von ihnen verdienten weniger als 7 Euro brutto pro Stunde, 1,4 Millionen kamen auf weniger als 5 Euro.
Tarifbindungen und Mindestlöhne
Dass die Hans-Böckler-Stiftung auf die segensreiche Wirkung von Tarifbindungen und Mindestlöhnen verweist, versteht sich bei einer gewerkschaftsnahen Einrichtung von selbst. Und tatsächlich hat das schwedische Musterbeispiel einiges für sich, denn bei 70 Prozent Gewerkschaftsmitgliedern und 90 Prozent Tarifbindung erledigt sich die Mindestlohn-Debatte praktisch von selbst.
Ein Blick auf die Länder, die einen noch größeren Niedriglohnsektor als Deutschland aufweisen, zeigt allerdings, dass gesetzliche Vorgaben nicht unbedingt dazu beitragen, die Lohnpolitik der ansässigen Unternehmen nachhaltig zu verändern. In allen drei baltischen Staaten gibt es einen Mindestlohn, er liegt aber nur zwischen 1,90 und 1,71 Euro. Polen steht etwas besser da (2,21 Euro), für Rumänien (92 Cent) sind selbst diese Vorgaben derzeit unerreichbar.
Mit Frankreich und Belgien funktioniert der Quervergleich allerdings. In beiden Ländern liegt der Mindestlohn bei über 9 Euro – und der Anteil der Beschäftigten, die weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns verdienen, bei unter 7 Prozent.
Auch in Deutschland deuten einige Anzeichen darauf hin, dass nach einer Reihe branchenspezifischer Vereinbarungen – unabhängig vom Ausgang der Bundestagswahl - ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn beschlossen wird. Der hätte allerdings seinen Preis. Das Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen geht davon aus, dass bei einer Festlegung auf 8,50 € jeder fünfte Beschäftigte eine Lohnerhöhung beanspruchen könnte.
Atypische Beschäftigungsverhältnisse und Tarifpausen im deutschen Einzelhandel
Dass hinter dem Ausbau des Billiglohnsektors Kalkül und System stecken, zeigt das Beispiel des Einzelhandels, der seine Gewinne vor Steuern zwischen 2000 und 2010 annähernd verdoppeln konnte – auf rund 21,5 Milliarden Euro. Trotzdem stiegen Branchenriesen wie Karstadt oder Globus aus dem Flächentarifvertrag aus.
Karstadts Arbeitsdirektor Kai-Uwe Weitz deklarierte die umstrittene Maßnahme als "Tarifpause", die Globus SB-Warenhaus-Gruppe wollte nach eigenen Angaben rechtliche Voraussetzungen schaffen, "um künftig Globus-spezifische Entgeltstrukturen entwickeln zu können".
Die in der vergangenen Woche veröffentlichte Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Fraktion der Linkspartei enthält weitere Details zur Situation im deutschen Einzelhandel. Demnach arbeiteten im Juni 2010 etwa 980.000 der gut 3,1 Millionen Beschäftigten in einem Minijob. 2011 lag der Anteil der atypisch Beschäftigten bei 38 Prozent und damit um sieben Prozent höher als im Jahr 2000. 34 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhalten einen Bruttostundenverdienst unter 10 Euro, rund 21 Prozent müssen mit weniger als 8,50 Euro auskommen. Trotz dieser Entwicklungen sieht Schwarz-Gelb wenig bis gar keinen Handlungsbedarf. Auf die Fragen
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, weshalb das Branchenmindestlohnverfahren im Einzelhandel nicht weiter verfolgt wird?
(…)
Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über das Problem zunehmender "Privatisierungen" im Lebensmittelhandel, wonach unter dem Deckmantel von Konzernen und Verbundgruppen wie beispielsweise Edeka oder Rewe selbstständige Unternehmer Tarifflucht begehen und inwiefern sieht sie hier politischen Handlungsbedarf?
Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE
kam die gleichlautende Antwort:
Der Bundesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor.
Antwort der Bundesregierung
Immerhin weiß man auf Regierungsseite, dass der Einzelhandel "einer der beschäftigungsstärksten Wirtschaftszweige in Deutschland" ist und die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse seit 2000 zugenommen hat. Wie der wirtschaftliche Erfolg zustande gekommen ist, scheint von weit geringerem Interesse zu sein.
Die Bundesregierung verfügt nicht über unmittelbare eigene Erkenntnisse zu den Arbeitsbedingungen im Einzelhandel und über die Sicht der Beschäftigten auf diese.
Antwort der Bundesregierung
Die harsche Kritik an der Aufkündigung von Flächentarifverträgen will Schwarz-Gelb gleichwohl nicht unkommentiert lassen, und so gönnt man Globus ganz am Ende der 18-seitigen Antwort noch eine positive Erwähnung.
Zudem gehörte die Globus SB-Warenhaus Holding GmbH & Co.KG zu den Gewinnern des Unternehmenswettbewerbs "Erfolgsfaktor Familie 2012", mit dem die Bundesregierung Arbeitgeber auszeichnet, die ihre Beschäftigen auf vorbildliche Weise bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützen, und damit andere Unternehmen zum Nachahmen motiviert.
Antwort der Bundesregierung
Die ungleiche Gesellschaft
Mitte Mai hatte die OECD ausnahmsweise gute Nachrichten für Deutschland – und auch für die österreichischen Nachbarn. In beiden Ländern sei das Markteinkommen (aus Arbeit und Kapital) und das Einkommen (nach Steuern und Abgaben) leicht gestiegen. Diese und andere Berechnungen deuten darauf hin, dass die eklatante Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverhältnisse derzeit nicht weiter voranschreitet.
Für Gustav A. Horn, den wissenschaftlichen Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung in der Hans-Böckler-Stiftung, ist der Trend jedoch kein Grund zur Entwarnung:
Es ist zwar erfreulich, wenn sich die Einkommensschere nicht weiter öffnet. Aber damit können wir uns unmöglich zufrieden geben. Denn erstens sind die Daten nicht ganz eindeutig. Daher gibt es Indizien dafür, dass dieser Zustand bestenfalls kurzfristig ist. Und zweitens hat Deutschland in den letzten beiden Jahrzehnten ein Maß an Ungleichheit erreicht, das sowohl sozial als auch wirtschaftlich hoch problematisch ist. Das gilt für die Einkommensverteilung und noch viel stärker bei den Vermögen. Daran ändert die zuletzt etwas ausgewogenere Tendenz wenig.
Gustav A. Horn
Für den 81-jährigen Historiker Hans-Ulrich Wehler, der dieser Tage mit seinem vergleichsweise schmalen Buch "Die neue Umverteilung" für Diskussionsstoff sorgt, sind die arbeitsmarktpolitischen und sozialen Entwicklungen ohnehin Anzeichen einer sich verschärfenden Krise des gesamten politischen Systems.
Mit der Zunahme der Sozialen Ungleichheit ist nicht nur eine enorme Belastung des Sozialstaats, sondern auch eine Veränderung der Mentalität, mit der die soziale Realität wahrgenommen und verarbeitet wird, unausweichlich verbunden. Als Folge dieses Perzeptionswechsels taucht ein genuin politisches Problem auf: Mit verschärfter Ungleichheit wird, über kurz oder lang, die Legitimationsgrundlage des politischen Systems durch wachsende Zweifel in Frage gestellt. Denn die Glaubwürdigkeit der modernen sozialstaatlichen Massendemokratie beruht vor allem darauf, dass sie eine allzu schroffe Ungleichheit der Lebenslagen erfolgreich bekämpft, die Gleichheitschancen überzeugend vermehrt statt vermindert.
Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung