Mehr als regressiver Kitsch und falsche Idylle
Warum es geboten ist, sich mit dem Begriff "Heimat" auseinander zu setzen
"Heimat" gehört zu den sentimental aufgeladenen Vokabeln, die uns das 19. Jahrhundert reichlich beschert hat. Heimat als handfester Besitz an Gut und Boden wurde seinerzeit umgemünzt in Wert des Gefühls. Zunächst hingegen war mit dem Begriff nur ein einfacher Sachverhalt gemeint: Heimat, so heißt es beispielsweise im Grimmschen Wörterbuch, sei das Land oder auch nur der Landstrich, in dem man geboren ist oder auch nur bleibenden Aufenthalt hat.
Das, so meint der Publizist Jörg Magenau, war einmal. Denn "in der globalen Welt, in der die einen, strotzend vor Mobilität, von Flugplatz zu Flugplatz jetten und andere in überfüllten Fischerbooten hocken oder barfuß durch den Schnee nach Europa marschieren, gibt es Heimat entweder nur für die Glücklichen, die schon da sind, wo sie immer waren, oder man bringt die Heimat mit im Fluchtgepäck und schafft sie sich neu in der Fremde. Heimat ist, wie andere Rohstoffe auch, zu einem knappen Gut geworden, um das weltweite Verteilungskämpfe stattfinden. Wie viele Fremde verträgt sie denn, und was wird dann aus ihr?"
Heute wird weithin ein "Heimatschwund" konstatiert und beklagt, ohne dass freilich die wechselhafte, ja launische Begriffsgeschichte groß beachtet würde. Im Ersten Weltkrieg wurde das Heimatgefühl von den Nationalisten und dann von den Nazis für ihre Zwecke usurpiert. Heimat hieß dann "Heim ins Reich", und alles Fremde wurde tendenziell ausgemerzt. Und dass nach dem II. Weltkrieg die sogenannten "Heimatvertriebenen" - und ihr Beharren auf das Wiedererlangen verlorener Territorien - die Debatte bestimmten, hatte zur Folge, dass der Terminus Heimat in der Bundesrepublik alsbald verbraucht war und eher gemieden wurde.
Erst mit der Grünen-Bewegung und dem Kampf um die Natur begann sich das erneut zu ändern. In den 1980er Jahren entstand ja auch die große Heimat-Saga von Edgar Reitz. Da wurde das Ganze plötzlich wieder zu einer progressiven politischen Ressource.
Was wiederum eine alte Einsicht bestätigt: Dass man wohl besser für ein Gefühl kämpft als für eine abstrakte Sache. Grund genug jedenfalls, dem, wofür Heimat steht oder stehen kann, neu nachzuspüren.
Heimat - wo noch niemand war?
Was Heimat ist, erfährt man prima vista aus Filmen der fünfziger Jahre. Dort ist alles versammelt, was der Begriff in einem letzten Sich-Aufbäumen noch zu bieten hatte. Landschaften und Naturgewalten, die Liebe und andere große Gefühle, schicksalhafte Wendungen, soziale Zwänge und unheilbare Krankheiten schreiben ein Drehbuch des Lebens, das mal einen tragischen, mal einen glücklichen Ausgang findet. Die Geschichten, die der Heimatfilm erzählt, sind voraussehbar, sie haben einen Anfang und ein Ende. Es ist, als hätte man sie alle schon einmal gehört. Damit vermitteln sie eine Gewissheit über die Existenz, die das Déjà-vu zum Kriterium werden lässt.
Der Heimatfilm ist eine Fälschung, aber eine gern gesehene. Im Grunde ist er ein Untergangsgenre, aber seine apokalyptische Botschaft wird durch die Methode kleingeredet und verkehrt sich so in ihr Gegenteil. Daran hat der Dialekt, der im Heimatfilm unumgänglich ist, einen beträchtlichen Anteil. Das Schicksal lässt zwar nicht mit sich reden, aber man darf ihm gelegentlich in die Karten gucken.
Als die Bundestagsfraktion der Grünen im Juni 2009 eine Konferenz über "Identitätspolitik" veranstaltete, warb sie in ihrem Einladungsflyer ganz offensiv mit dem Begriff Heimat:
Eine vertraute Sprache. Ein wohlbekannter Ort. Menschen, die man kennt. Ein ganz bestimmter Geruch, der Erinnerungen weckt. All dies sind Elemente von "Heimat", die viele ganz spontan mit diesem Begriff verbinden werden. Gleichzeitig kann Heimat aber auch ganz anders sein. Sie kann in der Entgrenzung des Internets bestehen, wo eine eigene kleine Welt in der Teilnahme an blog-communities aufgeht. Die Fixiertheit auf die regionale Räumlichkeit des traditionellen Heimatkonzepts wird hier aufgehoben. Wieder anderen ist Heimat als Konzept der Identität ohne Bedeutung und sie kommen gut damit aus. Viele definieren Zugehörigkeit in unserer Zeit in neuen Arrangements, ohne dass vertrautes Altes ganz verschwindet. Sie begeben sich auf eine Suche, die Heimat als etwas Utopisches versteht, wo "noch niemand war".
Die Grünen
Damit ist man bei Ernst Bloch. Der Philosoph setzt das Wort "Heimat" nach über 1500 Seiten an das Ende seines Buches "Prinzip Hoffnung" als Schluss - und Beschluss:
Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.
Ernst Bloch
Dessen ungeachtet wird heute Heimat eher als etwas Bedrohtes, Gefährdetes betrachtet. Weshalb die Reaktion als Retrobewegung, als Rückgriff auf eine überschaubare, begreifbare Welt, geprägt von einem diffusen Gefühl von Zugehörigkeit und weich gezeichneten Bildern von Harmonie und Identität, nicht per se abzutun ist. Denn dass das Bedürfnis nach Herkunft, Sicherheit und Zugehörigkeit eine treibende Kraft in der Natur ist, hat der Biologe Bernd Heinrich in seinem Buch "Heimatinstinkt" eindrücklich festgehalten. Darin geht es um die Fähigkeit von Zugvögeln, Insekten oder Aalen, die nach ihren manchmal viele tausende Kilometer umfassenden Reisen punktgenau zum Gebüsch oder Gewässer ihrer Entstehung zurückkehren.
Auch wenn man leicht Gefahr läuft, sich die Tiere dem Menschen zu ähnlich zu denken, kann man schlussfolgern: Wenn Vögel genau da ihre Nester bauen, dann tun sie, was wir Menschen auch gerne tun: sich an einen Ort zu binden, um dort bewohnbare Lebensräume zu schaffen.
Dies - der bewohnbare Lebensraum - bildet nun das entscheidende Stichwort, wenn man den Begriff Heimat mit dem der Raumbildung in Verbindung setzen will.
Wurzeln in der Regionalität …
Eine Antwort auf die Frage, was der Beitrag politischer und/oder planerischer Mittel zur "Produktion menschlicher Heimat" (Ernst Bloch) und zur Herstellung unverwechselbarer Orte sein könnte, mag in einem reflektierten Regionalismus liegen. Grob vereinfacht steht dieser Begriff für eine Umweltgestaltung, die die jeweiligen traditionellen Elemente zu abstrahieren und reduzieren sucht, sie aber doch wiedererkennbar belässt. Hierbei kommt der Architektur eine entscheidende Rolle zu.
Des Regionalismus meistzitiertes Beispiel dürfte dementsprechend die "Tessiner Schule" um Mario Botta, Fabio Reinhart und Luigi Snozzi darstellen, die in den 1970er-Jahren in der italienischen Schweiz "ortstypische", aber dezidiert moderne Bauten schuf, welche Assoziationen zu dieser Berglandschaft bewusst auch in typologischer Hinsicht hervorrufen (wollen). Daran knüpfte man auch in Graubünden, in Vorarlberg sowie in Südtirol eine schulbildende Auseinandersetzung an, die offenbarte, dass Regionalismus viel innovatives Potenzial besitzt.
Erste intellektuelle Impulse freilich hatte das Thema bereits in den 1930er Jahren durch John Crowe Ransom erfahren. Regional war für ihn der Gegensatz zu "Progressivität, Industrialisierung, zu freiem Markt, Internationalismus, zu Eklektizismus, liberaler Erziehung, zur Weltvereinigung oder einfach zur Entwurzelung". Aus dieser Warte wird die Region nun zu einer Figur der Randständigkeit, des Gegensatzes und der Opposition. Womit der Begriff plötzlich eine tendenziell utopistische Konnotation erfährt.
Just da setzte dann der renommierte Architekturtheoretiker Kenneth Frampton an, der sich auf diesem Feld die Deutungshoheit erobert hat: Region in seinem Verständnis ist eine Art suggestives "Vorstellungsfeld", das in einer anderen Welt als der unsrigen liegt.
Die Kraft der provinziellen Kultur beruht auf ihrer Fähigkeit, das künstlerische Potential der Umgebung aufzunehmen und zugleich Einflüsse von außen zu verarbeiten.
Kenneth FRampton
Es ist der Versuch, im Zeitalter von Utilitarismus und Arbeitsteilung einen Ort zu entwerfen - eine "Region" -, in der die Architektur eine Erfahrung spiritueller Einheit ist, in der die Gesamtheit einer Gemeinschaft wiederhergestellt und die mechanischen Stereotypen der Moderne überwunden werden.
Das ist vielleicht sympathisch, aber nur bedingt realistisch. Und man schwebt in der latenten Gefahr, bloß nostalgische Assoziationen zu bedienen. Andererseits leuchtet es ja durchaus ein, sich mit den Möglichkeiten der Verräumlichung stärker als bisher auf regionale und lokale Charakteristika zu besinnen, ohne sich den neuen Rahmensetzungen in Wirtschaft und Gesellschaft zu verschließen.
Im gleichen Maße, wie die Globalisierung eine stärkere Nivellierung der Lebensumstände provoziert, scheint - komplementär dazu - das Bedürfnis nach je eigenen Kulturen und Traditionen zu wachsen. Offenbar lässt sich aus der Dialektik von Vereinheitlichung und Differenzierung, Freiheit und Bindung, universalistischer Strömung und partikularistischer Bestrebung doch so etwas wie "Identität" schöpfen.
Tatsächlich ist es ja so: Viele Regionen wurden - und werden - zwar oft als "Provinz" abgetan, haben aber immer wieder - und durchaus erfolgreich - versucht, dem Programm der Globalisierung mit viel kommunalem Eigensinn zu trotzen. Hier wird, mehr als anderorts, sichtbar, dass wir eingebettet sind in eine ganz bestimmte, regional geprägte Kultur. Und die gibt uns die Raster vor, durch die wir die Welt sehen. Das ist so selbstverständlich, dass wir es leicht vergessen.
Ohnehin wäre anzuerkennen, dass Raum eine identitäre Kategorie beinhaltet: Raum verdichtet sich zu Orten, mithin zu Heimat.
Die soziale und sozialpsychologische Beziehung zu einem Ort ist nicht nur für viele Menschen von Bedeutung, sondern auch für die Entwicklung der Orte selbst. Die Verbindlichkeit, mit der sich Handlungen auf einen Raum beziehen, hängt von dem realen und symbolischen "Ortsbezug" ab. Auf diese Weise entwickeln sich lokale Milieus, die ihrerseits die Entwicklung des Ortes bestimmen.
Detlev Ipsen
… und in der Architektur
Gewissermaßen einen Geborgenheitsbaustein stellt auch die Architektur dar. Sie ist, wie es der amerikanische Theoretiker Karsten Harries formuliert, "nicht nur um den domestizierenden Raum herum. Sie ist auch eine große Schutzmaßnahme gegen den Terror der Zeit."
Der Wunsch nach festen Bezugspunkten wird durch den Prozess der fortschreitenden Individualisierung, der Pluralisierung der Lebensstile, der Ausdifferenzierung der Milieus nicht etwa verringert, sondern eher noch verstärkt. Selbst wenn wir im urbanen Kontext leben - also irgendwo in Dortmund oder München, in Köln oder Stuttgart -, dann reden wir häufig davon, dass wir "in die Stadt gehen" - und wir meinen damit, ganz selbstverständlich, die Innenstadt. Insbesondere ihr altstädtischer Kern bietet uns eben das, was wir sonst nirgendwo so recht finden können: Sie ist lebendig, offen und vielfältig in ihrer Gestaltung und Nutzung. Sie steht für Einmaligkeit, Charakter und Authentizität. Und sie ist - wenigstens idealtypisch - ausgestattet mit einer symbolischen Kraft.
Von dieser Prägekraft ist im normalen Stadtalltag allerdings heute nur noch wenig zu spüren. Weithin gesichtslose Neubauten, dominante Verkehrsschneisen, Lärm und Stau, disperse und ausgefranste Raumsituationen. Die Anbetung einer puren Zweckrationalität beziehungsloser Einzelbauten mit annähernd normierter Gestaltung ihrer Fassaden ist eine Folge dieser Moderne. Derartige Siedlungen lassen sich in Mitteleuropa in allen Agglomerationen rund um die historischen Städte finden.
Wenn man die Menschen fragte, ob sie in den heutigen Gebäuden mit ihren glatten Fassaden und fehlenden stadträumlichen Bezügen gerne wohnen, würde wohl eine Mehrheit dem Wohnen in historisch geprägten, raumbildenden Stadtteilen mit ihren vielfältig nutzbaren Häusern und Innenräumen den Vorzug geben - was im Übrigen der Wohnungsmarkt tausendfach bestätigt.
Das Bedürfnis nach geschlossenen Stadtbildern ist weit verbreitet - und alles andere als illegitim. Die Menschen fahren eben nicht zufällig nach Rothenburg oder Bamberg, nach Lübeck oder Quedlinburg und schauen sich die gut gefügten Stadtbilder an. Gleichgültig, ob es sich um eine Straße oder einen Platz handelt, der Mensch sucht nach Geborgenheit - in manchen Lebensphasen vielleicht mehr als in anderen.
Von ebendieser Sehnsucht zeugen auch die jüngst enorm zunehmenden Rekonstruktionsvorhaben, die verschwundene historische Bauten ersetzen sollen. Das gestiegene Interesse für solche Fragen bestätigen auch die zahlreichen Bürgerinitiativen, die sich mit großer Leidenschaft sowohl der Erhaltung des Bestandes als auch der Wiedererrichtung wichtiger Bauten und Ensembles widmen.
Bei aller Ambivalenz, die der Suche nach geschlossenen Stadtbildern, nach der authentischen Altstadt - oder einem anderen retroaktiven Impetus - innewohnt, darf man doch zumindest ein klares Fazit ziehen: Wenn man die Stadt weiter entwickeln will, so impliziert das die Frage, was Gestaltung ist und wie sie Anmutungsqualitäten mit Alltagstauglichkeit verbindet.
Heimat, Raum und Zeit
So unbestimmt der Begriff Heimat im alltäglichen wie im wissenschaftlichen Gebrauch auch sein mag, so klar ist der Typus der ihm verwandten Bilder des Überschaubaren, Ursprünglichen, Individuellen und Malerischen, wie sie durch die Heimatschutzbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts transportiert und in Postkarten und Reisebeschreibungen manifestiert worden sind.
Und womöglich meint Heimat heutzutage weniger einen lokalen, als einen zeitlichen Ort. Dieser liegt in einer Vergangenheit, in der es keinen Funktionalismus, keine Technik, keine entfremdete Arbeit, keine Großstadt, keine Masse, keine Beschleunigung gibt. Man erreicht zwar diese Welt nur durch die Mittel der Moderne, doch liegt sie dann jenseits von Intellektualität, Ökonomie, moderner Zivilisation.
Einer anderen Prämisse zufolge, die ebenfalls nicht ganz neu ist, fühlt sich der Mensch erst in den Ferien als wahre Existenz. Die Ferien aber verbringt er in der Fremde, sodass eine Verwechslung eintritt: Das Fremde ist das Eigentliche, das Ferne das Innerliche, das Heimatliche. Die Optik des Bayerischen hat den Vorteil, dass das Fremde transportabel und nach Hause mitzunehmen ist. Die barocken Türen, die rustikale Ausstattung im Vorstadtheim sind Souvenirs der Selbstfindung, Reliquien eines besseren Ich. Wahlweise kann man sich natürlich auch mit der Toskana oder einer griechischen Insel behelfen.
Man kann freilich, wie Thea Dorn es tut, auch konstatieren:
Wer heute von Heimat spricht, macht sich dem Zeitgeist verdächtig. In seltener Einhelligkeit verziehen der Turbo-Tech-Jünger und der Utopie-Apostel die Miene. Jener hat gelernt, dass er überall dort zu Hause zu sein hat, wo er sein Smartphone laden kann und das mobile Netz ihn nicht im Stich lässt. Dieser verbietet sich die Sehnsucht nach Heimat, weil er fest daran glaubt, dass alle Menschen Brüder - und Schwestern! - sind, und wer braucht Angestammtes, wenn er sich der gesamten Menschheit verbunden weiß? Wer auf Heimat beharrt, sperrt sich dagegen, dass der Mensch des frühen 21. Jahrhunderts weiter nichts sei als ein global-flexibler User. Wer auf Heimat beharrt, zweifelt daran, dass Weltbürgertum mehr sei als eine kosmopolitische Schimäre.
Thea Dorn
Sie schließt mit einem Satz von Carl Améry, der mit feiner Ironie darauf hinwies: "Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben."
Wie auch immer: Es bleibt festzuhalten, dass sich zwar der Heimatbegriff in den letzten Jahren erheblich gewandelt hat - und dass Zeit und Ort der Kindheit dabei ihre Bedeutung verloren haben mögen. Aber fraglos ist das Bedürfnis nach Heimat nach wie vor existent. Deshalb muss man der Frage nachgehen, welche Bedeutung dem Wort im Diskurs unter fundamental veränderten Lebensbedingungen zugeschrieben wird. Oder was die Wiederkehr des Begriffs im Zeitalter der Globalisierung leisten kann. Sich abzuarbeiten an einer zeitgemäßen Interpretation von Heimat: das ist den Schweiß des Edlen wert.