Mehr oder weniger Staat

Die FDP will Kultur als Staatsziel in das Grundgesetz aufnehmen

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Im Grundgesetz soll nach einem Antrag der FDP-Bundestagsfraktion zukünftig ein Artikel 20b stehen, in dem es heißt:"Der Staat schützt und fördert die Kultur." Auch der Sport soll als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen werden. Als verfassungsmäßig verankerte Staatsziele müssten Kultur und Sport in Abwägungsprozessen gegen andere Rechtsgüter stärker berücksichtigt werden - bei der Verabschiedung von öffentlichen Haushalten und Gesetzen sowie bei Gerichtsentscheidungen. Telepolis sprach darüber mit dem Vorsitzender des Ausschusses für Kultur und Medien, dem FDP-Politiker Hans-Joachim Otto.

Kultur und Sport als Staatsziele - will die FDP nun weniger Staat oder mehr?

Hans-Joachim Otto: Die FDP will eine vernünftige Arbeitsteilung zwischen Staat und Privat. Wenn der Staat sich aus der Kultur immer stärker zurückzieht, dann gibt es für Private keinerlei Motivation, eigene Mittel hinzuzugeben. Weil kein Spender, kein Mäzen, kein Förderer, will, dass sein Geld dem Stadtkämmerer oder dem Finanzminister zugute kommt. Sondern er will, dass seine Mittel der Kultur zugute kommen. Wir brauchen deswegen angesichts der dramatischen Kürzungen bei der öffentlichen Kulturförderung in den letzten Jahren dringend ein politisches Signal für die Verpflichtung des Staates zu einer Grundsicherung der Kultureinrichtungen.

Warum ist denn der Markt kein Heilmittel für Kultur wie für andere Sachen auch? Warum sagt die FDP nicht: 'Überlassen wir das einfach dem Markt, dann geschieht schon das Richtige mit der Kultur'?

Hans-Joachim Otto: Schon seit den alten Griechen wissen wir dass die Kultur - insbesondere soweit sie innovativ, provozierend, schockierend ist, auch eine öffentliche Förderung braucht. Der Markt muss in der Tat - und das gilt auch für den Bereich der Kultur - soweit gelten, wie es vernünftige Marktergebnisse gibt. Das heißt, der Bereich der Kulturwirtschaft, der in Deutschland immerhin mehr Arbeitsplätze schafft als die Automobilindustrie, darf nicht durch staatliche Fehlsubventionen geschädigt werden. Aber es bleibt ein Bereich, in dem der Staat seine Verantwortung zu tragen hat. Ich nenne ein Beispiel: In keinem Land der Erde - noch nicht mal in den USA - kommt die Oper ohne eine gewisse öffentliche Förderung aus. Und deswegen: Marktwirtschaft so weit wie möglich, Staat dort wo nötig.

Aber aus einer marktwirtschaftlichen Perspektive heraus könnte man jetzt sagen: 'Wenn in keinem Land Welt die Oper ohne Subventionen auskommt, dann braucht's vielleicht auch keine Oper'?

Hans-Joachim Otto: Ich glaube, es braucht unbedingt die Oper oder insgesamt auch die Kultur. In keinem Land der Erde wird auch die Ausbildung, die Schulausbildung, die Universitätsausbildung ganz ohne öffentliche Förderung auskommen. Auch da wird man sagen: 'Das gehört einfach dazu, für eine Grundsicherung einer Gesellschaft'. Die Kultur dient dazu, einen Staat, eine Gesellschaft im Kern zusammenzuhalten. Ein Land, das keine Kultur hat, das kulturlos ist, wird scheitern, wird gesellschaftlich scheitern, wird wirtschaftlich scheitern und deswegen glaube ich, dass Investitionen in Kultur ein absolut gut angelegtes Mittel sind. Und wenn man sich vor Augen hält, dass die gesamte öffentliche Kulturförderung in Deutschland, also die Summe aus öffentlicher Förderung von Kommunen, Ländern und Bund weniger beträgt als die Mittel, die allein die beiden öffentlichen Rundfunkanstalten ARD und ZDF in Anspruch nehmen, dann glaube ich, dass man sehr wohl behaupten kann, dass es sich um außerordentlich effektiv eingesetzte öffentliche Mittel handelt.

Arbeiten Sie da nicht mit einem etwas engen Kulturbegriff? Man hat früher den USA vorgeworfen, sie hätten keine Kultur, bis dann populäre Kultur allgemein anerkannt wurde. Die innovative Kultur, von der sie vorher sprachen, gibt es ja auch vom Independent-Label bis zu Leuten, die ihre Videos bei YouTube einstellen. Ist die staatliche Förderung der Oper da nicht eine 'Wettbewerbsverzerrung'?

Hans-Joachim Otto: Ich glaube nicht, dass zwischen den Videos bei YouTube und der klassischen Oper wirklich ein Konkurrenzverhältnis besteht. Aber eins möchte ich klarstellen: Unser Kulturverständnis ist ein sehr weites. Im Grunde gibt es auf der Welt nur zwei Erscheinungsformen. Das eine ist die Natur und das andere ist die Kultur. Alles, was von Menschen bewusst geschaffen ist, das ist Kultur. Der Begriff Kultur, "cultura", kommt aus dem Lateinischen und heißt Ackerpflege, Landwirtschaftspflege. Das heißt, die bewusste Schaffung von menschlichen Leistungen, um das menschliche Zusammenleben zu erleichtern. Das ist ein sehr weiter Kulturbegriff. Aber wir sollten die Kultur nicht nur als ein Sahnehäubchen für einige Bildungsbürger betrachten, sondern Kultur ist tatsächlich auch Speisekultur, ist tatsächlich auch Unternehmenskultur, ist tatsächlich auch Umgangsformen untereinander. Kultur ist ein Begriff, der jeden von uns - egal ob er sich jetzt als besonders kulturbeflissen betrachtet oder nicht - tagtäglich betrifft.

Wenn Kultur und Sport als Staatsziele ins Grundgesetz aufgenommen werden, dann müssen sie bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, aber auch bei Abwägungen allgemein zukünftig stärker berücksichtig werden. Welche Ziele sollen denn dann zugunsten der Kultur zurücktreten?

Hans-Joachim Otto: Also, ich halte es jedenfalls für unangemessen, dass in unserer Verfassung ausdrücklich drinsteht, dass die natürlichen Lebensgrundlagen geschützt und gleichzeitig die geistigen Lebensgrundlagen nicht geschützt sind. Ich will ein ganz banales Beispiel nennen: Wenn irgendwo eine Landstraße gebaut wird, und es steht auf der linken Seite ein Baum und auf der rechten Seite ein Denkmal, dann müsste nach der bisherigen schiefen Optik des Grundgesetzes die Straße immer so gebaut werden, dass das Denkmal abgerissen wird und der Baum stehen bleibt. Ich meine, dass die beiden gleichgewichtig sind, und dass man sich überlegen muss, wo der schärfere Eingriff ist und danach eine vernünftige, an den Gesetzen der Gesamtabwägung getroffene Entscheidung fällen muss - und nicht eine einseitige Entscheidung zu Lasten der Kultur. Wir haben in unserem Grundgesetz bereits einige Staatsziele verankert, aber bisher nicht die Kultur, und das ist von vielen Verfassungsrechtlern als eine absolute Lücke angesehen worden. Wir wollen eine faire Behandlung bei allen Ermessensentscheidungen und wir wollen vor allen Dingen auch verhindern, dass die Kultur weiterhin als der Steinbruch bei jeder Sanierung von öffentlichen Haushalten betrachtet wird. Es kann nicht sein, dass ständig die Haushaltsentscheidungen zugunsten von Sozialmaßnahmen erfolgen und dabei die Kultur unter den Schlitten gerät. Hier ist, denke ich, bei den bescheidenen Mitteln, bei denen es letztlich in der Kultur geht, nicht zu weiteren Kürzungen und zu weiteren Einschränkungen zu Lasten der Kultur kommen darf.

Sie sind also der Auffassung, dass - wenn in Zukunft Kürzungen von öffentlichen Aufgaben anstehen - eher im Sozialbereich gekürzt werden sollte als bei der Kultur - und das soll mit der Verankerung von Kultur und Sport als Staatsziel im Grundgesetz gesichert werden?

Hans-Joachim Otto: Also - gehen wir mal realistisch an die Dinge heran. In den vergangenen 20 Jahren ist der Haushalt nie gekürzt worden, sondern in jedem Jahr ist er erhöht worden. Wenn es jetzt um weitere Erhöhungen des Haushaltes geht, dann kann es nicht angehen, dass nur noch Erhöhungen im Bereich des Sozialen erfolgen und Kürzungen im Bereich des Kulturellen. Diese Optik ist schon deswegen, finde ich, nicht mehr akzeptabel, weil wir inzwischen in Jahre 2007 zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands die 50%-Grenze am Bundeshaushalt für Soziales überschritten haben. 51% aller Ausgaben des Bundeshaushaltes - und Gleiches gibt es auch auf der Länderseite und auf der kommunalen Ebene - über 50% geht für Soziales drauf. Und ich finde dass die 0.3%, die für Kultur in den öffentlichen Haushalten ausgewiesen sind, insgesamt gerechnet, dass die nicht weiter gekürzt werden dürfen. Ich bin nicht so unrealistisch zu sagen: 'Kürzungen beim Sozialen zugunsten von Kultur', sondern es geht darum, dass weitere Steigerungen des Bundeshaushaltes, die wir absehbar auch in den kommenden Jahren haben, nicht nur immer zu Lasten der Kultur gefahren werden.

Aber eine Aufnahme ins Grundgesetz wirkt sich ja nicht nur auf den Bundeshaushalt aus, sondern auch auf kommunale Haushalte und auf die der Länder, die ja eigentlich die Kulturhoheit innehaben. Und dort gab's ja durchaus Kürzungen im sozialen Bereich.

Hans-Joachim Otto: Da zweifle ich, ob es effektive Kürzungen gab. Natürlich hat Hartz IV die Kommunalhaushalte vorübergehend etwas entlastet, aber es geht inzwischen schon wieder fröhlich aufwärts. Ich will auch gar nicht Kultur gegen Soziales ausspielen, sondern ich will nur an einem Beispiel - und das war das Beispiel der Ausgaben für Soziales - klarmachen, dass die Kultur bei uns absolut unterrepräsentiert ist. Wir sind eine Kulturnation. Wir haben durch unsere Kultur auch Touristen. Wir haben Ansehen in der Welt - auch durch unsere Kultur. Wir sind ein Volk der Dichter und Denker, und ich möchte auch ganz klar sagen, dass ein Volk, das keine Kreativität, keine kulturelle Vielfalt pflegt, auf Dauer auch nicht kreativ ist im wirtschaftlichen Bereich. Patente, Erfindungen, wirtschaftliche Erfolge basieren auch auf einem reichen Kulturleben. Und wenn das weiter so gekürzt wird wie bisher, und die Schere weiter so auseinander läuft, dann, glaube ich, ist der volkswirtschaftliche Schaden wesentlich höher als jegliche Einsparung, die man bei der Kultur erzielen kann. Da die Beträge der Kultur relativ gering sind, kann ein öffentlicher Haushalt mit Kürzungen bei Kultur sowieso nicht saniert werden. Es geht, wie gesagt, nur um sehr kleine Teilbeträge und deswegen will ich das politische Signal haben, auf alle Haushaltgeber, auf der Bundes- Landes- und der kommunalen Ebene. Kultur ist ja keine Pflichtaufgabe, im Gegensatz zu vielen anderen Aufgaben - ich glaube, dass man da der Kultur beispringen muss.

Sie sind also der Auffassung, dass der Markt alleine das nicht sichern kann?

Hans-Joachim Otto: Ich habe den Bereich der Kulturwirtschaft erwähnt - es gibt auch andere Bereiche der Kultur, Galerien und ähnliches, wo der Markt zur Entfaltung gebracht werden muss - vielleicht sogar noch stärker als bisher. Und ich warne auch immer wieder davor, dass durch öffentliche Gelder die Kulturwirtschaft - also der marktwirtschaftliche Bereich - nicht unfair behindert werden darf. Aber in keinem Land der Erde, noch nicht mal in den USA, kommt die Kultur ganz ohne öffentliche Fördermittel aus. Und deswegen werden wir uns darauf einstellen müssen, dass es bestimmte kulturelle Erscheinungsformen gibt, insbesondere innovative, die eine gewisse Anschubfinanzierung der öffentlichen Hand benötigen, sonst wird das nicht funktionieren. Und dieses Bekenntnis sollte man meines Erachtens dann auch ablegen, zumal es - ich betone es noch mal - bei der Kultur wirklich um vergleichsweise geringe Beträge geht. Die gesamte Kulturförderung macht inzwischen weniger als 6,8 Milliarden Euro aus. Wenn man sich überlegt dass der Bundeshaushalt allein schon fast 300 Milliarden Euro darstellt und auf der Landes- und der kommunalen Ebene noch mal wesentlich höhere Beträge dazukommen, dann sind diese Beträge mehr als gut angelegt und dürfen jedenfalls nicht weiter gekürzt werden.

Warum eigentlich auch Sport?

Hans-Joachim Otto: Es wird ihnen aufgefallen sein, dass ich bisher zum Sport kein Wort gesagt habe. Ich bin Kulturpolitiker und ich bin der Meinung, dass es für die Aufnahme von Kultur als Staatsziel eine ganz besondere Berechtigung gibt, wie ich Ihnen das eben geschildert habe. Ich sehe nicht, dass mit der gleichen Berechtigung auch ein Staatsziel Sport gefordert werden könnte. Ich habe meine Meinung zum Staatsziel Sport noch nicht abschließend gefasst, aber: Der Vorschlag, der jetzt vom deutschen olympischen Sportbund gemacht wird, nämlich eine Formulierung ins Grundgesetz aufzunehmen die lautet: 'Der Staat schützt und fördert Kultur und Sport' lehne ich konsequent ab, weil Kultur und Sport sich nicht auf einer Ebene bewegen. Es gibt unterschiedliche Bedürfnisse, es gibt auch unterschiedliche Ansätze, es gibt auch unterschiedliche Begründungszusammenhänge. Wenn der deutsche Sport im Grundgesetz geschützt werden soll, dann möge er auf einer anderen Stelle, als auf einer Ebene mit der Kultur, geschützt werden, weil die Kultur in besonderer Weise schutzwürdig ist. Ich glaube, dass beim Sport - wo es ja inzwischen Milliardeneinnahmen gibt - die Schutzbedürftigkeit auch wegen der hohen Popularität nicht im gleichen Maße gegeben ist wie bei der Kultur. Das mögen sich andere überlegen, ich sage nur: Die Kultur ist als solche von ihrer geschichtlichen Dimension, von ihrem Begründungszusammenhang schutzwürdig, und der Sport mag auch wichtige volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Wirkungen haben - das will ich überhaupt nicht in Abrede stellen, ich bin selber Sportfan - aber wenn man den Sport schützen will, dann muss man sich andere Formulierungen und andere Begründungszusammenhänge ausdenken, als ihn im Huckepacke mit der Förderung des Staatsziels Kultur mitzunehmen.

Aber ihre Parteigenossen möchten den Sport mit dabei haben.

Hans-Joachim Otto: Es gibt einen Antrag der Sportpolitiker, der in diese Richtung zielt. Ich möchte mich jetzt nicht dazu äußern, weil ich den Kollegen nicht in den Rücken fallen will. Aber wenn es zu einer Abstimmung darüber käme, ob das in einem Paragrafen im Grundgesetz zu erfolgen hat, dann würde es eine Mehrheit gegen diese Formulierung geben. Es steht da nur drin, dass Sport und Kultur zu schützen sind, es steht aber nicht drin, dass das in der Form zu erfolgen hat, dass das in einem Artikel, sozusagen in einem Satz geschehen muss. Ich weise noch mal darauf hin - Kultur ist genauso zu schützen wie auch die natürlichen Lebensgrundlagen. Das sind zwei Seiten einer Medaille. Und deswegen meine ich, ist das ein sehr klarer, sehr einfacher, sehr nachvollziehbarer Begründungszusammenhang, um die Kultur zu schützen, auch im Zusammenhang mit dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen, während die Schutzbedürftigkeit des Sports sich aus anderen Motiven und anderen verfassungsrechtlichen Grundlagen herleitet. Es muss auf jeden Fall in einer anderen Form geschützt werden. Und, um das ganz klar zu sagen, die Förderungsbedürftigkeit des Sports ist wesentlich geringer als die Förderungsbedürftigkeit der Kultur, weil im Sport eben sehr viel höhere Umsätze zu erzielen sind und weil die Popularität des Sports - worüber ich mich freue - in der deutschen Bevölkerung sehr groß ist, so dass man da nun wirklich nicht davon sprechen kann - gerade was auch die olympischen Sportarten oder den Profisport betrifft - dass man da noch irgendwelche Förderbedürftigkeiten hat, sonst käme womöglich noch Bayern München auf die Idee und sagt: 'Steht doch im Grundgesetz, Sport muss gefördert werden', dass die dann auch noch Subventionen einfordern. Das kann es nicht sein. Und deswegen meine ich sollte man Sport und Kultur in der Frage der Schutzbedürftigkeit sauber trennen.

Da sind wir gleich bei der nächsten Frage: Was sagen Sie zu dem Vorwurf, dass mit der Kultursubvention eine sehr kleine Klientel subventioniert wird. Auch wenn die Summe insgesamt nicht so hoch ist, wird diese Klientel doch pro Kopf sehr hoch subventioniert. Eine Opernpremieren-Karte kostet fast 200 Euro - wie viel würde die denn unsubventioniert kosten?

Hans-Joachim Otto: Jedenfalls ein Vielfaches von dem. Ich wehre mich aber gegen die Vorstellung, dass diese Oper oder die gesamte Kulturförderung, nur für eine ganz kleine Klientel da sei. Wenn sie die Oper abschaffen würden, dann wäre das ein Schaden für alle Bürger. Wie beim Sport, so gibt es auch bei der Kultur eine Basiskultur, eine Laienkultur, eine Massenkultur - und eine Spitzenkultur. Wenn sie die Spitzenkultur kappen, wird das zwangsläufig auch dazu führen, dass die Laienkultur, die Volkskultur, darunter leiden wird. Wir haben tausende, zigtausende musikalische Talente und auch darstellerische Talente, Schauspielertalente in unserem Land. Wenn ich die öffentliche Förderung für die Opern und die Theater einfach kappen würde oder sie gänzlich einstellen würde, dann würden auch dieser Nachwuchs und diese künstlerische Ausdruckskraft geschwächt. Im Übrigen ist es eben unsere Aufgabe, mehr Menschen in die kulturellen Institutionen hereinzubringen. Es gibt eine Umfrage, dass rund 2/3 aller Deutschen nie in ihrem Leben in die Oper oder ins Theater oder in ein Museum gehen. Es ist eben unsere verdammte Aufgabe, eine kulturelle Bildung bereits in der Schule, aber auch im Elternhaus, auch darüber hinaus, auch im Fernsehen zu vermitteln, die mehr Menschen veranlasst in Kulturveranstaltungen zu gehen. Deswegen es gibt ja auch Popularisierungsbemühungen bei der Oper. Ich darf daran erinnern, dass die Tenöre inzwischen schon in Fußballstadien auftreten, vor rund 100.000 Zuschauern. Das wird natürlich nicht subventioniert, und das hat viele Menschen an Kultur herangeführt. Wir wissen, dass manche von denen, die zum ersten Mal im Stadion die Tenöre gehört haben, später dann tatsächlich auch in eine Opernvorstellung der klassischen Art gegangen sind. Es ist also unsere Aufgabe, unser aller Aufgabe, durch eine Stärkung der Anreize, der kulturellen Bildung, dafür zu sorgen, dass die Zahl derer, die kulturelle Institutionen in Deutschland besuchen, wieder zunimmt. Wenn wir das nicht täten, dann würde in der Tat die Hochkultur in Deutschland absterben weil die Besucher immer älter werden und sich die Jungen immer mehr sich davon entfernen. Das hielte ich für einen großen Fehler. Und ich glaube auch, dass die gesamte Jugendkultur - ich will nur ein Stichwort nehmen, die gesamte Rock- und Popkultur - in nicht unerheblichem Maße durchaus auch von klassischen Musikformen beeinflusst ist und auch in Zukunft von ihnen beeinflusst werden wird. Man sollte also die populäre Kunst nicht gegen die Hochkultur ausspielen, aber auch umgekehrt nicht.

Stichwort Bildung: Wäre es dann nicht sinnvoller, statt Kultur die Bildung als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen oder zum Beispiel Studiengebühren zu verbieten?

Hans-Joachim Otto: Ich bin der Auffassung dass das Staatsziel Kultur natürlich auch die Bildung mit umfasst. Wir haben die Bildung an vielen Stellen im Grundgesetz ja schon erwähnt, auch als Fördernotwendigkeit. Das ist überhaupt kein Gegensatz. Ich bin absolut der Meinung, dass wir in Deutschland mehr für Bildung tun sollten. Bei den Studiengebühren bin ich allerdings schon der Auffassung, dass eine gewisse Mitfinanzierung bei gleichzeitigen Darlehen, für diejenigen, die sie in Anspruch nehmen wollen, kein Verstoß gegen den Bildungsgrundsatz ist. Derjenige, der zu Lasten der Gemeinschaft durch ein Studium mehr verdient oder jedenfalls die Chance hat, später mehr zu verdienen, sollte meines Erachtens aus solidarischen Grundsätzen auch einen Teil dieser Gebühren - es ist ja wirklich nur ein kleiner Teil dieser Gebühren - an die Gesellschaft zurückgeben, oder, genauer gesagt, an die Universitäten zurückgeben, damit die mehr investieren können. Ich kann es verstehen, wenn ein Handwerksmeister oder ein Handwerker sagt: 'Warum soll ich die Studienplätze derer, die da womöglich zwanzig oder mehr Semester studieren, allein finanzieren, während der da fröhlich weiterstudiert'. Ich denke, dass es durchaus auch aus Gründen der Gerechtigkeit vertretbar ist, bis maximal 500 Euro pro Semester Studiengebühren zu erheben, wenn sie denn durch Darlehensmöglichkeiten abgesichert sind.

Frankreich genehmigt seinen Obdachlosen gerade ein einklagbares Recht auf Wohnung. Wäre so etwas nicht wichtiger als die Aufnahme der Kultur als Staatsziel?

Hans-Joachim Otto: Ich halte es nicht für richtig, solche Dinge gegeneinander auszuspielen. Bei Obdachlosen müssen wir etwas tun. Wir wissen allerdings auch, dass einige der Obdachlosen die ihnen angebotenen Wohnungen oder Unterkunftsmöglichkeiten gar nicht wahrnehmen. Es gibt Leute, die ganz bewusst auf der Straße leben wollen. Wir haben in Frankfurt das Phänomen, dass manche der Unterkunftsplätze, die wir geschaffen haben, nicht angenommen worden sind, von denen die wir erreichen wollten. Natürlich müssen wir für Leute, die wirklich sozial gescheitert sind, mehr tun als bisher. Aber ich bin nicht der Auffassung, dass diese Maßnahmen sozusagen jetzt zu Lasten der Kultur finanziert werden müssen, sondern ich finde, dass einige soziale Extra- und Zusatzfinanzierungen auf den Prüfstand gestellt werden müssen. Ich sage noch mal: Es ist schön, soziale Leistungen zu haben, aber wenn die inzwischen schon über 50% unserer Haushalte ausmachen, dann ist ein doch etwas kritischer Blick auf manche der Zusatzleistungen für diejenigen, die sich auch aus eigener Kraft helfen können, angebracht.