Mehrheit und Minderheiten
Willkürliche Unterdrückung führt zu Fanatismus
Diskriminierung von "Minderheiten" gibt es fast überall, nicht nur im ehemaligen Jugoslawien, und es scheint, als würde sie eher zu- als abnehmen. Die Unterdrückung der Minderheiten besonders durch die Sicherheitskräfte ist nicht nur verwerflich, sie brütet auch Ungeheuer aus.
Trotz reichlich offensichtlicher Übel wie verheerende Hungersnöte und grassierende Kriege, glauben wir, die Menschen im allgemeinen, noch gerne daran, daß wir uns als Gattung in einem ziemlich fortgeschrittenen Stadium befinden. In diesem Fall finde ich es reichlich seltsam und absolut unheimlich, daß wir noch immer das Wort Minderheit in unserem Vokabular haben. Anstatt uns alle als eine einzige Gruppe mit vielen bunten Unterschieden von Individuen und Untergruppen zu behandeln, fand ich überall, wohin ich auch kam, dieses traurige Bedürfnis bei zu vielen Menschen, einer Mehrheit zugerechnet zu werden, weswegen sie natürlich als Bezugspunkt Minderheiten benötigen, die sie umgeben.
In manchen Ländern wurde diese Angst, nicht zur Mehrheit zu gehören, tatsächlich in die Verfassung aufgenommen ( in der kroatischen, der serbischen und bosnischen Verfassung werden in der Präambel die jeweiligen Länder als Länder der Kroaten, Serben und Bosnier und der ansässigen Minderheiten definiert). Auch wenn das selten ist, gibt es in manchen Ländern (Burma, Indonesien, den Staaten des Balkans etc.) noch eine offene Verfolgung von Minderheiten - aus dem einzigen Grund, weil sie Minderheiten sind. Hinterhältiger aber ist die zivilisierte Verfolgung von Minderheiten in den westlichen Demokratien. In Deutschland beispielsweise werden ihnen bestimmte Rechte, politische Rechte, den Asylsuchenden die Bewegungsfreiheit, das Recht auf Arbeit etc. aberkannt. In den USA werden sie, wenn sich die Rechten durchsetzen, bestimmte Leistungen wie Gesundheitsfürsorge, Ausbildungsförderung und Arbeitslosengeld bald nicht mehr erhalten.
Eines der Hauptprobleme dieser Aufteilung unserer Gesellschaft in eine Mehrheit und Minderheiten ist das Verhalten des Sicherheitsapparates. Die Polizei lebt und handelt überall auf der Welt, wenn sie nicht offen Minderheiten verfolgt, in dem Glauben, daß Angehörige von diesen Bürger zweiter Klasse seien, daß ihr Leben einen geringeren Wert besitze und daß die Beamten grundsätzlich nicht zur Rechenschaft gezogen werden dürfen, wenn sie beispielsweise in den schmalen Darm eines Einwanderers aus Haiti einen Stock rammen, was viel zu oft der Fall ist.
Die Aufteilung zwischen Minderheit und Mehrheit, die in den USA meist nach Gesichtspunkten der Rasse, der Ethnie und der Immigration geschieht, wurde in Jugoslawien, einem fundamentalistischen Staat mit einer expliziten herrschenden Ideologie (dem Marxismus) immer gemäß der Ideologie praktiziert. Heute wird dies unter ethnischen und ideologischen Gesichtspunkten betrieben. Die Polizei wird nicht jemanden töten, weil er schwarz ist, aber sie wird eine Waffe schneller einsetzen, als sie es tun würde, wenn ein Täter der Mehrheit angehört.
1985 wurde eine Jurastudent in Zagreb wegen der Sammlung von Unterschriften für eine dumme Petition eingesperrt, deren Ziel die meisten Menschen heute vergessen haben. Er wurde zu drei Jahren Sicherheitsverwahrung verurteilt, 18 Monate in Einzelhaft gehalten und erhielt, wie berichtet wurde, sechs Monate keine Kleider. Seine Wächter waren Serben. 1991 gründete er eine der schlimmsten kroatischen paramilitärischen Gruppen. Sein Name: Dobroslav Paraga. Sein engster Freund und Mitarbeiter aus der Zeit der Petition erblickte niemals das Gefängnis. Er sprang während der Durchsuchung der Polizei über den Balkon seiner hochgelegenen Wohnung. Die Polizei sagte, daß sie ihn nicht aufhalten konnten. Sie sagte dasselbe hier in East Harlem vor zwei Monaten, als eine Frau, Shirley Colon, aus dem 18. Stock eines Gebäudes hinunterfiel - angeblich mit Handschellen gefesselt.
Auch wenn klar ist, warum die Mitarbeiter der kommunistischen Geheimpolizei einen politischen Feind über den Balkon werden (den bekanntesten Stoß aus einem Fenster erlitt der Sohn von Deng Xiao Ping in China, der seitdem gelähmt ist), aber für den Fall von Colon gibt es keine derartige Erklärung. In beiden Fällen geht es eher darum, daß es der Polizei egal war, was die Menschen und die Medien über ihre Tat denken könnten, weil sie wußten, daß sie damit durchkommen würden, weil in beiden Fällen das Opfer ein Angehöriger der Minderheit war: Paraga gehörte einer ideologischen und Colon einer rassischen oder ethnischen Minderheit an.
Die kürzliche bekannt gewordene Penetration von Abner Louima, einem Einwanderer aus Haiti, erweckte meine Aufmerksamkeit wegen der Schärfe der Reaktion des Bürgermeisters Giuliani. Er dezimierte nahezu den 70. Distrikt, in dem sich das ereignet hatte. Dabei aber müssen wir berücksichtigen: a) Giuliani bereitet sich auf die Wiederwahl vor. b) Er beeinträchtigte die Lebensqualität, um die Kriminalität zu reduzieren, was er schaffte. Aber das heißt, daß bettelnde Windschutzscheibenputzer, "Graffitikünstler", Straßenhändler, Bettler etc. eingesperrt werden und die Polizei von New York eine bislang nicht existierende Macht erhielt, unter Umgehung des vorgesehenen Verfahrens die Identität von verdächtig aussehenden Menschen zu überprügen und diese festzunehmen. Es gibt viele Fälle des Machtmißbrauches von Polizisten während der Regierungszeit fon Giuliani. Sie werden normalerweise in den Medien verschwiegen und der Rechtsprechung des Geldes überlassen. Beispielsweise müssen die Taxisfahrer in New York zuerst einmal die Polizisten dafür bezahlen, sie vor den Barbaren zu beschützen, und dann müssen sie für die Barbaren, die von der Polizei auf brutale Weise bgeschlagen, sodomisiert oder sogar willentlich getötet wurden. c) Louima sagte den Medien die magischen Worte, nämlich daß der Polizist, der ihn vergewaltigt hatte, meinte: "Du kannst schreien, so viel du willst. Das ist die Regierungszeit von Giuliani und nicht von Dinkins." Dinkins, eine früherer Bürgermeister, besuchte Louima den nächsten Tag.
Deswegen führt Giuliani diese Säuberung mit einem klaren politischen Interesse durch. Und die Medien konzentrieren die Aufmerksamkeit auf diesen Fall, wodurch sie ihn von allen anderen isolieren und diese so vergessen lassen.
In Jugoslawien war die Vergewaltigung durch Polizisten eine gebräuchliche Technik der Erniedrigung. Vojislav Seselj, heute der Bürgermeister von Zemun und einer der radikalsten Führer der serbischen paramilitärischen Nationalisten, wurde wiederholt im Gefängnis vergewaltigt, meistens von islamischen kriminellen Mithäftlingen, aber mit der Zustimmung der Wächter). Ich hätte gerne, daß die amerikanische Mehrheit das mit einiger Aufmerksamkeit lesen würde: Seselj und Paraga zeigen, daß sich eine Mißhandlung im Gefängnis auf die Gesellschaft schwerwiegend auswirkt.
Während der Studentenproteste im Winter 96/97 wurde Bulatovic, ein Belgrader Student und einer der Organisatoren der Proteste, von der Polizei verhaftet, auf dem Polizeirevier geschlagen und gefoltert und auch mit dem Polizeiknüppel sodomisiert, der ein ganz Stück dicker ist als die Stange des Toilettenreinigers, was vielleicht die serbische Polizei noch bestialischer als das NYPD macht, wenn das jemanden trösten sollte. Auch Bulatovic landete auf der Intensivstation. Er ist Serbe, aber er ist ein ideologischer Feind, weswegen er als Angehöriger einer Minderheit behandelt wird, was bedeutet, daß sie niemand darum kümmert, was mit ihm geschieht: er ist für die Polizei ein Stück Scheiße, die die Ordnung für die Mehrheit schützt.
Alarmierend ist beim Fall Bulatovic, daß die verantwortlichen Polizisten noch immer ihre Abzeichen und Waffen tragen und normalen Dienst machen, daß sie vielleicht sogar befördert wurden. Die meisten Polizisten, die Paraga als Nationalisten verhaftet haben, gehören jetzt der Elite der Geheimpolizei des Präsidenten Tudjman an. Der Belgrader Fall ist aber vor allem deswegen so seltsam, weil in der Zwischenzeit in Belgrad ein Bürgermeister der Opposition an der Macht ist. Selbst wenn Giulani Volpe für die Vergewaltigung von Louima befördern und die nächste Wahl verlieren würde, dann würde jeder, der an seine Stelle tritt, die "ethnische Säuberung" des 70. Distrikts zur ersten Amtsaufgabe machen. Warum erkannte Djindjic nicht eine solche ausgezeichnete Chance für eine Eigenwerbung? Er sagt, er habe keine Macht über die Polizei. Das gibt es nur Serbien! Der Bürgermeister der Staat besitzt keine Macht über die städtische Polizei. Die Polizei ist direkt Milosevic verantwortlich, was er auch immer macht und für welche Scheinfunktion er sich auch immer als Front entscheidet, um an den Schlüsselstellen der Macht zu bleiben.
Daraus ziehe ich die Folgerung, daß Belgrad augenblicklich eine belagerte Stadt genau wie Zagreb und Sarajewo ist. Alle, die an der Spitze stehen, holten sich ihre Gefolgschaft von außerhalb - Tudjman aus Hercegovina, Milosevic aus der Krajina und aus Bosnien, Izetbegovic aus Sandzak -, um die verräterischen, allzu sehr kosmopolitischen urbanen Massen der Städte zu überwachen, die einzig dafür da sind, die Grundlage der Steuern für deren uneingeschränkte und lebenslange Herrschaft zu liefern, und deren Bürger in ihren eigenen Städten nur noch als Minderheiten gelten. Schließlich denke ich seufzend, daß es für die USA noch immer eine Hoffnung gibt.
Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer