Mensch in Körper und Gesellschaft: Was heißt Freiheit?
Seite 2: Freiheit in der Praxis
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Nach dieser Zusammenfassung des Beitrags der Hirnforschung zur Freiheitsdiskussion können wir uns jetzt dem praktischen Freiheitsproblem widmen.
Nein, ernsthafter als mit einem leeren Abschnitt kann man es auch wie folgt in wenigen Absätzen zusammenfassen: Das von einigen namhaften Hirnforschern in die Medien und dort von Philosophen und Wissenschaftlern kommentierte Problem der Willensfreiheit begegnete uns in zwei Varianten: Die erste bestand im Leugnen eines bewussten Willens, das heißt, in dem Moment, in dem ein Mensch behaupten würde, eine freie Entscheidung getroffen zu haben, hätte sein Gehirn längst unbewusst entschieden.
Den Anstoß hierfür gaben in den 1980er Jahren die Versuche Benjamin Libets (1916-2007), die teilweise bis heute, leider sehr oft aber auch falsch, diskutiert werden. In der Psychologie wurde aber auch schon lange Zeit vorher, nämlich von Sigmund Freud (1856-1939), die Bedeutung des bewussten Willens relativiert (Schleim 2011; 2012), wobei Freud auf Gedanken der damaligen Philosophie zurückgriff.
Die heutige Hirnforschung kann meiner Meinung nach allein schon aus dem Grund wenig Neues zu dieser Diskussion beitragen, weil die Feststellung, was Merkmale bewusster oder unbewusster Gehirnaktivierung sind, auf der Interpretation der Forscher beruht und eben gerade nicht direkt im Gehirn erkannt werden kann. Ferner werden diese Interpretationen dann mit bestimmten postulierten psychischen Vorgängen in Zusammenhang gebracht, wobei die Erklärungslücke zwischen Gehirn, Geist und Verhalten nie völlig geschlossen wird (siehe hierzu auch Schleim, 2018a).
Die zweite Variante der Willensfreiheitsdiskussion bestand darin, auf die Determiniertheit des Gehirns zu verweisen und damit Willensfreiheit auszuschließen. Dieses Determinismus-Argument ist nun schon so alt wie die abendländische Philosophie (Schleim, 2008). Das Argument ist aber darum schon nicht schlüssig, dass auch innerhalb der Neurowissenschaften strittig ist, ob das Gehirn beziehungsweise biologische Organismen allgemein deterministische Systeme sind (Heisenberg, 2009). Davon unabhängig ist die Beziehung zwischen Determinismus und Willensfreiheit komplex.
So behaupten etwa die sogenannten Kompatibilisten, was wohl der Mainstream der heutigen analytischen Philosophie sein dürfte, gerade, dass Willensfreiheit die richtige Form der Determinierung voraussetzt: Der Wille ist also genau dann frei, wenn seine Entscheidungen beispielsweise von der betreffenden Person selbst und im Einklang mit ihren Wünschen und Überzeugungen getroffen wurde und nicht etwa durch äußeren Zwang. "Kompatibilistisch" steht so für die Kompatibilität - oder schlicht: Vereinbarkeit von - Determinismus und Willensfreiheit.
Ein meines Wissens bis heute nicht vollständig gelöstes Problem hat aber auch diese Sichtweise damit, dass die Wünsche und Überzeugungen der Person nicht unbedingt ihre eigenen sein müssen, nämlich in dem Sinne, dass sie Anpassungen an beziehungsweise Konditionierungen durch die Umgebung sind. Oder anders formuliert: Die Person entscheidet sich zum Zeitpunkt t vielleicht im Einklang mit ihren Wünschen und Überzeugungen für die Alternative A, etwa Käsekuchen zu essen statt Marmorkuchen; das Entstehen dieser Wünsche und Überzeugungen selbst unterlag aber nicht der bewussten Kontrolle dieser Person (siehe hierzu auch Sie & Wouters, 2010). Das erstgenannte Problem des bewussten Willens lässt hier wieder grüßen.
Dies ist zugegeben nur ein kurzer Abriss der philosophischen Diskussion, in der auch tiefgründigere Beispiele diskutiert werden als die Wahl eines Kuchens. Dennoch bleiben bei den Bedingungen der tatsächlichen Entscheidungsfindung zahlreiche psychologische und philosophische Fragen offen.
Dass die weitreichenden normativen Schlussfolgerungen etwa zur Abschaffung des Strafrechts angesichts dieser Faktenlage überzogen waren, sollte deutlich sein (Schleim, Spranger & Walter, 2009). Die Diskussion wurde unter sehr ähnlichen Prämissen auch bereits im 19. Jahrhundert geführt. Damals wie heute führte sie in keinem Land zur Einführung eines Neuro-Strafrechts.
Inzwischen hat es zwar in den Niederlanden eine Gesetzesänderung gegeben, die - unter bestimmten Voraussetzungen - Regelungen des Jugendstrafrechts auf bis zu 22-jährige Täter ausdehnt und die man durchaus als "Neuro-Strafrecht" bezeichnen könnte. Wie ich hier aufzeigte, beruhte diese Entscheidung des Gesetzgebers aber gerade nicht auf einem (falschen) Verständnis der Ergebnisse der Hirnforschung zur Willensfreiheit, sondern auf einem (falschen) Verständnis der Ergebnisse der Neurowissenschaften zur Gehirnentwicklung (Schleim, 2019b).
Anstatt sich mit der meiner Meinung nach wenig ergiebigen Diskussion der Willensfreiheit zu beschäftigen, scheint es mir sinnvoller, sich mit einem praktischen Freiheitsproblem zu beschäftigen, nämlich mit der Frage, wie jemand - im Rahmen seiner Möglichkeiten - mit seinem Körper und in seiner Umwelt das Verhalten ausdrücken kann, das er oder sie ausdrücken will. Es geht also nicht so sehr darum, wie man frei Wollen und Entscheiden kann, sonder wie man am besten im Einklang mit seinen Wünschen und Vorstellungen lebt.
Damit kann ich auch endlich auflösen, was sich hinter der Wendung "Mensch in Körper und Gesellschaft" des Titels verbirgt: Dass sich nämlich unser Verhalten in ständiger Wechselwirkung von Körper beziehungsweise Individuum und Umgebung ausdrückt. Auch wenn ich selbst nicht davon ausgehe, dass sich unsere psychischen Vorgänge vollständig auf der körperlichen, zum Beispiel neurophysiologischen Ebene beschreiben lassen, rechne ich hier der Einfachheit halber die psychischen Vorgänge zum Körper/Individuum: Vereinfacht gesagt ist der Körper die Entität, die den Geist in die Welt bringt; oder der "Träger" mentaler Eigenschaften, wie man in der Philosophie des Geistes sagt.
Was könnte nun dazu führen, dass unser Verhalten nicht im Einklang mit unseren Wünschen und Vorstellungen steht? Eigenschaften der Umgebung. Welche Eigenschaften? Denken wir an ein konkretes Beispiel, nämlich unser Kaufverhalten:
Da wir - freilich mit bedeutenden Unterschieden untereinander - einen relevanten Teil unseres Lebens mit dem Kaufen von Dingen und Dienstleistungen verbringen oder, in konkreten Zahlen ausgedrückt, 2018 im Einzelhandel rund € 520 Milliarden ausgaben (siehe Abbildung), womit man den Haushalt der ganzen Bundesrepublik Deutschland eineinhalbmal bezahlen könnte, ist dies ein bedeutendes Beispiel.
Interessanterweise ist dieser Umsatz nun seit dem Jahr 2007 stetig gestiegen, nämlich um rund 22%, nur 2009 und 2010 sorgte die Finanzkrise für einen kurzzeitigen Dämpfer. Diese Zunahme liegt deutlich über der Inflationsrate. Wir konsumieren also immer mehr.
Liegt das daran, dass wir überzeugte Konsumenten sind und unsere Freiheit in dem Sinne maximieren, dass wir immer mehr Produkte und Dienstleistungen kaufen? Oder liegt es vielleicht (auch) an Eigenschaften unserer Umgebung? Dass wir immer mehr kritische Diskussionen über die Produktionsbedingungen unserer Konsumgüter haben, ist ein Indiz dafür, dass wir nicht alle aus voller Überzeugung konsumieren.
Schauen wir uns zum Schluss eine konkrete Umgebung an, in der Kaufentscheidungen getroffen werden, etwa einen modernen Supermarkt. Dabei sollten wir berücksichtigen, dass Supermärkte für uns selbstverständliche Einrichtungen sind und wir von der Kindheit bis zum Greisenalter verstehen, wie sie funktionieren. Jedenfalls in dem Sinne, dass wir unsere Produkte aussuchen und bezahlen, ohne dass die Polizei gerufen wird.
Für jemanden, der im Urwald oder in unserer Gesellschaft vor hundert Jahren aufgewachsen ist, wäre das nicht so selbstverständlich. Es handelt sich also um eine Kulturleistung.
Diese Leistung wird aber auch von bestimmten Experten derart optimiert, dass sie Sie und mich, uns alle zu bestimmten Entscheidungen motiviert. Erinnern Sie sich an den Prolog. Und wissen wir bei genauerem Hinsehen wirklich, wie ein Supermarkt funktioniert, sozusagen hinter den Kulissen?
Auf der Grundlage psychologischer Forschung im Bereich des Marketings wurden Supermärkte nämlich in den letzten Jahren bis Jahrzehnten zu stets kauffreudigeren Umgebungen.1 Es beginnt bereits beim Eingang, wo uns vielleicht ein Bäckerladen mit der Möglichkeit zum Kaffeetrinken erwartet. Das ist nicht nur selbst Konsum, sondern bringt uns auch in eine ruhigere und konsumfreundlichere Stimmung. Danach kommen wir in eine marktähnliche Sphäre mit frischem Obst und Gemüse, was nicht nur einen gewissen Luxus ausstrahlt - anders als beim Discounter -, sondern uns später auch eher zu ungesunden Produkten greifen lässt.
Produkte wie Milch oder Eier, die jeder mal braucht, finden sich oft im entlegenen Winkel, sodass wir eine möglichst weite Strecke ablegen müssen und dabei möglichst oft in Versuchung kommen, weitere Produkte zu kaufen. Der Einfachheit halber sind dann Waren, die häufig zusammen gekauft werden, etwa Nudeln und Tomatensoße, auch nahe beieinander, damit wir leichter zugreifen können.
Wenn der Weg durch den Supermarkt übrigens gegen den Uhrzeigersinn verläuft, dann liegt der Umsatz etwa zehn Prozent höher. Wissenschaftlich erklären lässt sich das bisher nicht.
Wie wir über Preise und Angebote beeinflusst werden, habe ich bereits im Prolog geschildert. Dabei lassen sich nicht nur dank "Big Data" die Erfolge bestimmter Werbeaktionen in Sekundenschnelle quantifizieren, sondern wegen der personalisierten Rabattkarten auch in einem konkreten Individuum nachvollziehen. Von so viel Wissen über einen Menschen kann ein akademisch arbeitender Psychologe oft nur träumen!
Wenn wir auf dem Weg zur Kasse noch einen Kugelschreiber kaufen wollen, dann liegt neben dem Modell für € 0,99 und für € 1,99 wahrscheinlich auch noch ein teures für € 9,99. Das teuerste Modell wird zwar nicht oft gekauft, sorgt aber dafür, dass mehr Kunden den Mittleren wählen an Stelle des Billigsten. Auch das ist gut für den Umsatz. Ob wir deshalb besser schreiben, steht auf einem anderen Blatt.
Bevor wir endlich wieder draußen sind, müssen wir wahrscheinlich noch eine Weile an der Kasse anstehen. Dort finden sich vorzugsweise Süßigkeiten, auf die auch gerne Kinder ansprechen, für die es in Greifhöhe eigene Angebote gibt. Es finden sich also Produkte, die wir dann impulsiv aufs Band legen - und gekauft ist gekauft.
Beinahe pervers erscheint vor diesem Hintergrund das Anbieten von Alkohol- und Tabakprodukten im Wartebereich, was nicht nur abhängigen Menschen die Abstinenz erschwert. Aber auch das ist gut für den Umsatz.