Mensch in Körper und Gesellschaft: Was heißt Freiheit?
Seite 3: Schlussfolgerungen
Dieser kurze Ausflug in eine Kaufumgebung war vielleicht nicht sehr akademisch, doch hoffentlich aufschlussreich. Auf wissenschaftliche Forschung gestützt war er allemal. Aber was hat das nun mit der praktischen Freiheit zu tun?
Um unser Kaufverhalten - um bei dem konkreten Beispiel zu bleiben - im Einklang mit unseren Wünschen und Vorstellungen zu gestalten, müssten wir uns erst einmal bewusst darüber werden, was und wie viel wir eigentlich konsumieren möchten. Ein erster Schritt hierfür wäre Selbstreflexion, also eine zielgerichtete Veränderung des Körpers/Individuums in der Gleichung.
Auch ein Wissen darum, mit welchen Tricks die Kaufumgebung eingerichtet ist, kann uns bei der Entscheidungsfindung und Selbstkontrolle helfen. Dass die Tricks aber selbst dann noch funktionieren können, wenn man sie schon kennt, haben wir bereits im Prolog gesehen.
Um auf die Hirnforschung zurückzukommen, ist es überhaupt nicht klar, was dieser Wissenschaftszweig zum praktischen Freiheitsproblem beitragen könnte. Sie scheint noch nicht einmal über die richtigen Kategorien zu verfügen. Damit ist mitnichten bestritten, dass etwa auch beim Kaufverhalten Gehirnprozesse stattfinden. Das ist eben nur nicht die Erklärungsebene, die für dieses Verhalten relevant ist.
Aber Eigenschaften der Umwelt und des Verhaltens lassen sich doch am direktesten mit den Methoden der Verhaltenswissenschaften wie der Psychologie erforschen und nicht etwa eingezwängt in die Röhre eines fMRT, in der man sich bestenfalls durch eine virtuelle Computerwelt bewegt, schlimmstenfalls die Darbietung relativ sinnfreier Stimuli mit Knopfdrücken links/rechts quittiert. Und selbst wenn Verfahren der Hirnforschung zu dem Zweck entwickelt werden, Gedanken zu lesen, zu schreiben oder zu kontrollieren, dann liegt der Maßstab zur Kontrolle des Erfolgs bis auf Weiteres im Verhalten.
In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, auf einen populärwissenschaftlichen Artikel von Gerry van der List im traditionsreichen niederländischen Wissenschaftsmagazin Elsevier zu verweisen. Der Redakteur schrieb in einem Artikel über das Willensfreiheitsproblem, dass diejenigen, die noch nicht von der großen Bedeutung dieses Problems überzeugt sind…
…trotzdem die Relevanz der Hirnforschung verstehen können. Beispielsweise profitieren Unternehmen erheblich von Erkenntnissen darüber, wie unser Gehirn arbeitet. Sie wissen, dass es schlau ist, die Einkaufswagen in Supermärkten so groß wie möglich zu machen (damit die Kunden mehr Dinge hereintun können), Gemüse und Früchte gleich am Eingang zu platzieren (damit die Kunden ein gutes Gefühl bekommen und sich später trauen, weniger gesunde Produkte zu kaufen)…
Elsevier Magazine vom 5. März 2016, S. 19; meine Übersetzung.
Die Beispiele, die in diesem immerhin als "Artikel der Woche" hervorgehobenen Bericht verwendet werden, sollen die besondere Bedeutung der Hirnforschung belegen. Tatsächlich handelt es sich bei ihnen aber um Ergebnisse von psychologischer beziehungsweise Marketingforschung durch langjährige Beobachtung der Umwelt, in der Menschen ihre Kaufentscheidungen treffen. Dieses Vorgehen, solche Erkenntnisse irrtümlich der Hirnforschung zuzuschreiben, ist beileibe kein Einzelfall.
Natürlich finden bei einem Supermarktbesuch auch Gehirnprozesse statt. Dass bestimmte Eigenschaften der Umwelt bestimmte Entscheidungen wahrscheinlicher machen, wissen wir aber aufgrund der Beobachtung des Verhaltens, nicht des Gehirns. Die Mechanismen zu verstehen, die diesen Entscheidungen zugrundeliegen, wäre nicht nur sehr kompliziert, sondern würde für die Praxis wenig bis nichts zufügen.
In ähnlicher Weise hat der Anthropologe Joseph Dumit, der als einer der Ersten die Wissensproduktion durch die bildgebende Hirnforschung kritisch untersuchte, das Vorgehen der Neuro-Pädagogik hinterfragt (Dumit, 2012): Wenn wir etwa herausfinden, dass Schüler durch das Einüben bestimmter Meditationstechniken besser lernen, wäre es dann nicht sinnvoller, dieses Wissen so schnell wie möglich in die Praxis umzusetzen, als ewig nach den Mechanismen zu suchen, die diesem Effekt zugrundeliegen?
Bei den hier diskutierten Beispielen ging es nur um das Kaufen von Produkten oder das Lernen. Eine ganz andere Dimension erhält mein Argument aber im Kontext der Psychiatrie, wo die Hirnforschung seit den 1980ern zunehmend zum führenden Forschungsparadigma geworden ist:
In einem kritischen Weckruf einiger führender Psychiaterinnen und Psychiater aus dem englischsprachigen Raum wurde nämlich kritisiert, dass wegen der schier ewig dauernden Suche nach den neuronalen Mechanismen Behandlungsmethoden nicht eingesetzt oder verbessert werden, die heute schon Menschen helfen oder - im Bereich der Suizidprävention - sogar Leben retten könnten (Lewis-Fernández et al., 2016). Ein übertriebener Glaube an die besondere Bedeutung der Hirnforschung zur Erklärung des Menschen könnte, krass formuliert, sogar Menschenleben kosten (siehe zur Vertiefung auch Schleim, 2018a; 2018b; 2019a).
Die kritische Analyse der "Neurotelepathie" oder Delgados Utopie der "psychozivilisierten Gesellschaft" hier im Artikel sollten verdeutlichen, dass auch Funde der Hirnforschung kritischer Reflexion bedürfen. Das wesentlich wichtigere Freiheitsproblem findet meiner Einschätzung nach aber nicht im wissenschaftlichen Labor, sondern in unserem Alltag statt.
Für dieses Freiheitsproblem gibt es wissenschaftliches Wissen, das ein optimistischeres Bild vom Menschen zeichnet als das einer von Schaltkreisen gesteuerten komplexen Maschine: Wir Menschen sind zwar einerseits und in unterschiedlichem Maße den Umweltreizen ausgeliefert. Die Reaktion auf diese Reize kann aber durch Prozesse des Lernens oder der Selbstreflexion wiederum beeinflusst werden. So kann sich Freiheit eines autonomeren Menschen in Körper und Gesellschaft ausdrücken.
Hinweis: Dieser Text ist die überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags von Stephan Schleim vom 2. Oktober 2018 auf den "Cologne Futures 2018", der in ähnlicher Form in der "Medienkorrespondenz" Nr. 15-16 vom 19. Juli 2019 erschien. Wir danken dem Herausgeber für die Genehmigung der Online-Veröffentlichung.