Menschen statt Flaggen: Wenn Comedians ernst werden müssen
Die einen reißen Plakate israelischer Geiseln der Hamas ab. Andere meinen, die Nazis hätten sich wenigstens geschämt. Doch es gibt auch Lichtblicke. Ein Kommentar.
Deutschland 2023 ist, wenn Comedians ernst werden müssen, um gesunden Menschenverstand zu verbreiten, während Politiker, Publizisten und Aktivisten sich einen peinlichen Überbietungswettbewerb in selbstgerechter Vergangenheitsbewältigung und neuem Herrenmenschentum liefern.
Shahak Shapira ist hier im besten Sinn ein Spielverderber. Der Comedian fordert ein Ende des selektiven Humanismus, der im Israel-Gaza-Krieg so leidenschaftliche Formen angenommen hat, dass Fußballfans ihr Team dagegen nur halbherzig unterstützen.
Social-Media-Profile werden mit Nationalfähnchen geschmückt, Kriegsverbrechen bestenfalls verharmlost, wenn nicht gefeiert – und wer Empathie für die zivilen Opfer der anderen Seite zeigt, ist verdächtig, auf der falschen Seite zu stehen.
So wurden in den USA und auch in deutschen Großstädten Plakate mit Fotos israelischer Geiseln der Hamas teilweise wutentbrannt abgerissen. Die Forderung, Gaza "auszulöschen", äußerten auf Demos mit Israel-Fahnen zumindest einzelne Teilnehmer. Beides zeigt Shapira in einem Video, in dem er eine eigene Plakataktion vorstellt.
Die Menschen sollen zuerst ein Gesicht sehen, bevor sie die Opfer von Krieg und Gewalt wegen ihrer Nationalität betrauern – oder eben genau deshalb entscheiden, dies nicht zu tun.
So plakatiert er Fotos von israelischen und palästinensischen Opfern und bittet Passanten, herauszufinden, woher sie stammen. Jeweils zwei DIN-A4-Seiten zeigen nebeneinander dasselbe Foto – einmal steht darüber "Killed in Gaza?" und einmal "Killed in Israel?" - Das Abreißen ist vorgesehen, denn die Antwort steht darunter – auf einem Plakat mit der Aufschrift "We look the same. We bleed the same. We deserve better."
Peinlich berührte, trinkende Nazis – der jüngste Tiefpunkt der Debatte
Ein dringend nötiger Zwischenruf für viele, die sich zu den Guten zählen. Sich den gerechten Zorn "einer Seite" aus sicherer Entfernung möglichst vollständig anzueignen, gilt vor allem unter Deutschen, die sich für gründlich geläutert halten, als Inbegriff der Empathie – die Zivilbevölkerung der anderen Seite zählt nicht, oder zumindest viel weniger – oder sie ist eben selbst schuld, weil sie die jeweilige Führung nicht rechtzeitig gestürzt hat.
Da mussten unsere Großeltern schließlich auch durch. Moment. Also, das sollte jetzt keine direkte Gleichsetzung sein, wir wollen ja jetzt nicht behaupten, der Holocaust sei als industrieller Massenmord nicht singulär gewesen – aber mal im Ernst: Haben sich die Nazis im Gegensatz zur Hamas nicht wenigstens für ihre Taten geschämt?
Ein Interview des britischen Senders TalkTV mit dem rechten Publizisten und Aktivisten Douglas Murray, der dies nahelegt, hat sich am Wochenende großer Beliebtheit erfreut. Auch Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat es auf der Plattform X geteilt, was ihm gut einen Tag später doch ein wenig peinlich war.
Der frühere Linken-Politiker Fabio De Masi stellte aber fest, dass Lauterbach mehr als 24 Stunden für diese Erkenntnis und die Löschung des Tweets gebraucht habe.
"Die SS-Bataillone, die tagein, tagaus Juden in den Kopf schossen und sie in Gräben warfen, mussten sich abends sehr, sehr betrinken, um zu vergessen, was sie getan hatten", hatte Murray in dem rund siebenminütigen Gespräch erklärt. Die Hamas-Terroristen hätten dagegen am 7. Oktober mit Freude und Stolz gemordet und nicht einmal versucht, ihre Taten zu verdecken.
Die "Haltung" von Juden und "Aggro-Arabern"
Neben Lauterbach hatten Veronika Grimm, Mitglied des Sachverständigenrats Wirtschaft, Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien und sogar der Antisemitismus-Beauftragte des Landes Baden-Württemberg, Michael Blume, einen Tweet des Focus-Kolumnisten Jan Fleischhauer geteilt, der das Interview des britischen Journalisten mit Murray in den höchsten Tönen gelobt hatte:
"Das ist großartig. Von beiden Seiten. So etwas wäre im deutschen TV undenkbar. Die ganze Erziehung von Fernsehjournalisten zielt bei uns darauf ab, solche glasklaren Fragen zu vermeiden – und solche glasklaren Antworten", so Fleischhauer.
Das Motiv für seine Begeisterung über Murrays Aussagen dürfte klar sein. Schon die Überschrift in seiner letzten Kolumne lässt keinen Zweifel daran: "Die Juden oder die Aggro-Araber: Wir müssen uns entscheiden, wen wir halten wollen".
Es geht darum, im großen Stil unliebsame Ausländer loszuwerden – vor allem solche, die sich an Demonstrationen gegen die Bombardierung Gazas beteiligt haben, und sei es nur aus Sorge um die Unversehrtheit von Angehörigen.
Im Zweifel gilt dann die Demo-Teilnahme als antisemitische Positionierung "Pro Hamas", weil israelische Bomben, die so viele Zivilpersonen im Gazastreifen treffen, ja eigentlich für die Hamas gedacht sind. Empathie wegen der menschlichen "Kollateralschäden"? – Fehlanzeige.
Derselbe Publizist, der hier im Grunde "Ausländer Raus" mit "Antisemiten raus" verbrämt, applaudiert Murray für dessen Relativierung und Verharmlosung des Holocaust.
Erfolgreich verdrängt: Lampenschirme aus Menschenhaut
Von geschichtsbewussteren Menschen werden Murrays Aussagen über peinlich berührte, traumatisierte SS-Männer im Netz scharf kritisiert: "Es gibt Hunderte Fotos mit SS-Männern und -Soldaten, die vor Leichen posieren", schrieb der Historiker Jürgen Zimmerer. "Aus tätowierter Haut von ermordeten Jüdinnen ließen manche sich Lampenschirme anfertigen."
De Masi wandte sich auf X direkt an Lauterbach, der durch Verharmlosung des Holocaust die Bombardierung der Zivilbevölkerung Gazas rechtfertige: "Mein Großvater war übrigens im italienischen Widerstand. Er hätte Dir von Säuglingen in Norditalien berichten können, die von deutschen Soldaten an Häuserwände geschleudert wurden", schrieb der Deutsch-Italiener.
Fest steht: Heute ist es ganz sicher kein Ausdruck von Läuterung, wenn Deutsche den Wert von Menschenleben an Herkunft und Wohnort bemessen.
Weltweit gesehen ist es ein Privileg, im Jahr 2023 alle Angehörigen, Freundinnen und Freunde außerhalb von Kriegs- und Krisengebieten zu wissen. Wer dieses Privileg nicht hat, muss nicht darum bemüht sein, die eigene Empathie gerecht zu verteilen.
Er oder sie darf zuerst an die "eigenen Leute" im ganz persönlichen Sinn denken – und sich wünschen, aber auch fordern, dass die Gefahr für sie bald endet, egal wie komplex deren Vorgeschichte ist.
Wer aber dieses Privileg hat, sollte familiär Betroffene nicht vorschnell verurteilen – und Empathie nicht nur für die Opfer einer Seite einfordern, um sie den anderen vollständig zu entziehen.
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