Menschenopfer und Menschenhandel

Ein Ghanaer wirft Nigerianern vor, bei der illegalen Einreise nach Italien Passagiere über Bord geworfen zu haben, um Geister zu besänftigen

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Ein Ghanaer, der auf einem Boot illegal über das Mittelmeer nach Italien einreiste, beschuldigte letzte Woche mehrere Nigerianer, seinen Bruder und mindestens vier weitere Mitfahrer ins Meer geworfen zu haben. Grund dafür sei der Glaube an Geister gewesen, die mit Menschenopfern dazu gebracht werden sollten, das Unternehmen gelingen zu lassen. Zudem sei es unter den etwa 460 Personen an Bord auch zu Vergewaltigungen gekommen.

Obwohl Emanuela Salvatori von der der Organisation Save the Children, der gegenüber der Ghanaer die Behauptungen zuerst machte, der Presse sagte, nun würde die Staatsanwaltschaft im sizilianischen Agrigent ermitteln, verlautbarte diese kurze Zeit darauf, dass sie die Behauptungen als "höchst unwahrscheinlich" einstuft und deshalb kein Verfahren eröffnet.

Angeblich bestätigte nur ein kleiner Teil der befragten Passagiere die Aussage, was freilich nicht unbedingt heißen muss, dass der Ghanaer erwartet, mit einer möglichst rührseligen Räuberpistole die besten Chancen auf finanzielle Unterstützung und einen langen Verbleib in Europa zu haben, sondern auch darauf zurückzuführen sein könnte, dass ein Teil der Passagiere in Abhängigkeit zu religiös-kriminellen Netzwerken steht und deren Taten entweder gutheißt oder die Dominanz der Täter akzeptiert.

2010 war ein Gericht in Syrakus zu dem Ergebnis gekommen, dass bei einer illegalen Überfahrt tatsächlich 13 Personen über Bord geworfen wurden und hatte deshalb vier Nigerianer zu je 30 Jahren Haft verurteilt. Dieser vielleicht auch dem Ghanaer bekannte Fall könnte ihm als Vorlage gedient haben, wenn er sich die Geschichte ausgedacht hat. Dazu würde auch seine Aussage passen, dass die Opferung "für nigerianische Stämme typisch" sei. Allerdings spielten Menschenopfervorwürfe auch bei der britischen Eroberung des im Südwesten Nigerias gelegenen Edo-Köngigreichs Benin (das nicht mit dem heutigen Staat Benin identisch ist) eine wesentliche Rolle.

Rekonstruktion der Flagge des Königreichs Benin. Bild: Public Domain.

Doch sowohl Menschenopfer als auch Anthropophagie tauchen in der Geschichte häufig als Hörensagenszuschreibungen auf und dienten in dieser Form als Rechtfertigung für Eroberungen. In den 1980er und 1990er Jahren führte die Entdeckung dieses Musters dazu, dass manche Kulturwissenschaftler von einem Extrem ins andere verfielen und auch durch archäologische Funde oder Augenzeugenberichte verhältnismäßig wahrscheinliche Taten für bloße Propaganda erklärten, wie dies etwa der Schweizer Ethnologe Peter Hassler mit den aztekischen Menschenopfern machte.

Für die Menschenopfer im Nigeria des 19. Jahrhunderts gibt es (ebenso wie für die in Mexiko) direkte Zeugenaussagen, darunter die des britischen Captain Alan Maxwell Boisragon, der beim Einmarsch 1897 von Massen geknebelter und aufgehängter Leichen mit kreuzförmig aufgeschlitzten Bäuchen und heraushängenden Eingeweiden sowie von mit Blut überkrusteten Götzenstatuen berichtet, was die britischen Soldaten so erzürnte, dass sie "die meisten der Heiden massakrierten".

Auch im heutigen Nigeria werden immer wieder verstümmelte Leichen gefunden. Außerdem baten in der jüngeren Vergangenheit tausende von Bürgern um Polizeischutz, weil sie von Geheimbünden bedroht wurden. Solche Geheimbünde gibt es nach Angaben von nigerianischen Behörden tatsächlich, auch wenn viel darauf hindeutet, dass sie ein relativ neues Phänomen sind und mit dem Organisierten Verbrechen in Verbindung stehen, das unter anderem im Menschenhandel aktiv ist.

Obwohl diesem Organisierten Verbrechen entgegenkommt, dass die Freilassung eines gefangenen Mörders lediglich 25.000 Naira (beziehungsweise etwas über 100 Euro) kosten soll, kommt es in manchen Fällen auch zu Verurteilungen: 2003 sah es der nigerianische High Court beispielsweise als erwiesen an, dass sieben Personen 1996 an einem Ritualmord am elfjährigen Ikechukwu Okonkwo mitgewirkt hatten und verurteilte sie zu einer Strafe, die sich ebenfalls als rituelle Tötung betrachten lässt.

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