Menschenrechtler in Kairo entsetzt über Lage der Presse- und Meinungsfreiheit
Kritik an der neuen Übergangsregierung in Ägypten ist nicht erwünscht
In Ägypten ist der alte Sicherheitsapparat wieder eingesetzt, mit den bekannt brutalen Einschüchterungsmaßnahmen (siehe The deep return); Opfer sind missliebige Journalisten, Bürgerrechte und die Zivilcourage. Die Muslimbrüder Muslimbrüder werden pauschal als Terroristen gebrandmarkt und vom politischen Leben ausgeschlossen. Das brachiale Vorgehen gegen die Organisation erlebte am Montag einen neuen Höhepunkt: ein Gericht in Kairo ordnete die Auflösung der Muslimbrüder und ihr angeschlossener Organsiationen an und das Enfrieren sämtlichen Vermögens.
In juristischen Experten-und Behördenkreisen wird über die Implikationen des Urteils, das sämtliche Aktivitäten der Muslimbrüder untersagt, diskutiert. Die Muslimbrüder haben Einspruch eingelegt; das Gericht habe für ein solch weitreichendes Urteil gar nicht die instanzliche Kompetenz, werden Vertreter der MB zitiert. Sicher ist, dass die gerichtliche Anweisung an die Übergangsregierung, der MB die Existenzgrundlagen zu entziehen, mit der Agenda dieser Regierung gut übereinstimmt.
Die Übergangsregierung unter Präsident Adly Mansur hat einen Ausnahmezustand verhängt, der zunächst bis Mitte September in Kraft bleiben soll. Er stattet Polizei und Armee mit weitreichenden Befugnissen aus, so dass sie im Interesse einer vermeintlichen nationalen Sicherheit jederzeit Zivilisten festnehmen und die Medien zensieren dürfen.
Lizenz zur Gewalt und Einschüchterung
Für die Menschenrechtsorganisaton Human Rights Watch in Kairo bietet die Verhängung des Ausnahmezustands den Sicherheitskräften einen willkommen Freibrief. "Sie werden die Entscheidung als eine Lizenz zu noch mehr rücksichtslosem und ungesetzlichem Einsatz von Gewalt auffassen", schreibt die Organisation in ihrem jüngsten Bericht zur Lage in Ägypten. Bis zum Sturz von Mubarak in 2011 wurde das Land 30 Jahre lang durchgängig im Ausnahmezustand regiert.
Presse- und Meinungsfreiheit sind drastisch eingeschränkt, Journalisten und Medien, die den Muslimbrüdern nahestehen, werden eingeschüchtert. Die Fernsehsender der Muslimbrüder und Salafisten wurden geschlossen. Eine kritische Berichterstattung über das Militär und die Politik der Übergangsregierung wird gezielt behindert.
Auf der Halbinsel Sinai wurde am 5. September der Journalist Ahmed Abu Draa verhaftet, ein preisgekrönter Reporter, der als Freier für renommierte Zeitungen wie zum Beispiel "Al-Masry al-Yaum" ("Der Ägypter heute"), ein Flagschiff der Liberalen, arbeitet. Abu Draa wurde wegen der angeblichen Verbreitung falscher Nachrichten festgenommen und soll vor ein Militärgericht gestellt werden. Er hatte über Militäroperationen gegen Dschihadisten im Nordsinai berichtet und die Erfolgsmeldungen der Militärs in Zweifel gezogen. Alles was die Lage auf dem Sinai betrifft, gehört zu den heiklen Fragen der nationalen Sicherheit.
"Die Zeitung hat sich überhaupt nicht für ihren Reporter eingesetzt", empört sich Mohammed Zaree vom Cairo Institute for Human Rights. "Al-Masry al-Yaum" hatte die Verhaftung ihres Mitarbeiters kommentarlos gemeldet, kein Wort zu den Anschuldigungen. Selbst renommierte liberale Zeitungen verzichteten derzeit auf eine kritische Berichterstattung, so Zaree und das sei wirklich "schockierend".
Totschlagargument: "nationaler Verrat"
Unter Präsident Mursi verunglimpfte die islamistische Presse politische Gegner gerne als "Ungläubige". Jetzt lautet das neue Totschlagargument: "nationaler Verrat". Es richtet sich gegen alle, die sich überhaupt noch trauen, Kritik an Übergangsregierung und Militär zu üben.
Beim Polizei- und Sicherheitsapparat stehen die Zeichen auf Restauration. Innenminister Mohammed Ibrahim hat im August den verhassten Mabahith Amn ad-Dawla wieder eingeführt, eine Spezialeinheit der Polizei, die nominell nach dem Sturz Mubaraks in 2011 aufgelöst worden war. Ob sie danach wirklich nicht mehr existierte, darf bezweifelt werden. Aber die offizielle Wiedereinsetzung des gefürchteten Sicherheitsdienstes ist ein Schritt zurück in die Mubarak-Ära unter dem Deckmantel der nationalen Rettung. Dabei war die brutale Polizeigewalt eine der wichtigsten Ursachen für die Entstehung der Protestbewegung im Jahr 2011.
Für ägyptische Menschenrechtler liegt das Grundproblem mit den Sicherheitskräften, egal ob unter einem islamistischen Präsidenten Mursi oder unter der neuen Übergangsregierung, im "Fehlen jeglicher Rechenschaftspflicht für die Verantwortlichen". 35 führende NGOs aus 13 Ländern haben in einer gemeinsamen Erklärung das blutige Vorgehen der Sicherheitskräfte bei der Räumung der Protestlager der Muslimbrüder scharf verurteilt.
Der wiederholte Einsatz übermäßiger und tödlicher Gewalt durch die ägyptischen Sicherheitskräfte angesichts von politischem Protest wird nur die politischen Übel verstärken, die die ägyptische Gesellschaft dazu geführt haben, gegen die Politik von Mubarak, vom Obersten Militärrat und der Muslimbruderschaft zu rebellieren.
Die Verantwortlichen für Übergriffe müssen nicht damit rechnen, vor Gericht zu landen, geschweige denn verurteilt zu werden. Bis jetzt wurden lediglich in Ausnahmefällen Polizisten unterer Dienstgrade zu geringfügigen Haftstrafen verurteilt. Die eigentlichen Drahtzieher im Hintergrund gingen stets straffrei aus.
Überzogene Reaktion der Staatsmacht
Als Initiator der Erklärung gilt der Anwalt Gamal Eid, Direktor des 2004 gegründeten Arabic Network for Human Rights Information (ANHRI). Eid ist als unparteiisch anerkannt, weil er stets das Fehlverhalten von Militärs und Muslimbrüdern anprangert. Für ihn bewegen sich beide Konfliktparteien in einem Teufelskreis, in dem sie den jeweils anderen als Sündenbock für eigenes, gewalttätiges Verhalten benutzen.
"Bislang liefern die Islamisten dem Militär die Rechtfertigung, um mit Gewalt gegen sie vorzugehen", sagt Eid. "Sie müssen damit aufhören, zur Gewalt aufzurufen, egal ob es in Kairo ist oder auf dem Sinai." Bei der Räumung der Protestlager in Kairo ging die Gewalt aber überwiegend vom Staat aus. Zwar gab es unter den Protestierenden vereinzelt auch Bewaffnete und eine martialische Rhetorik mancher Anführer.
Für Heba Morayef von Human Rights Watch in Kairo kann von einem systematischen Praktizieren von Gewalt unter den Muslimbrüdern keine die Rede sein. Sie spricht von einer "kleinen Minderheit" unter den Islamisten, die sich während der Demonstrationen nach dem Juli 2013 gewalttätig verhalten hätten. Die Reaktion der Staatsmacht hält sie für "völlig überzogen". Der Staat habe die Pflicht Gewalttäter zu verhaften, dürfe aber nicht ihr Leben gefährden.
Seit dem Sturz von Mursi wurden rund 2000 seiner Anhänger inhaftiert und teilweise misshandelt. Die gesamte Führungsriege ihrer Partei für Freiheit und Gerechtigkeit sitzt im Gefängnis und soll zusammen mit dem Ex-Präsidenten vor Gericht gestellt werden; politisch motivierte Schauprozesse sind zu befürchten.
Eine Gruppe von 64 Islamisten wurde bereits letzte Woche zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Die Muslimbrüder sollen aus dem politischen Spektrum Ägyptens entfernt werden. Bei der angekündigten Überarbeitung der Verfassung wird diskutiert, in Artikel sechs ein Verbot von politischen Parteien auf der Basis von Religion aufzunehmen - das würde den Muslimbrüdern qua Verfassung die Möglichkeit nehmen, sich politisch zu organisieren.