Menschenrechtsverletzungen mit Vorbildcharakter
amnesty international erhebt schwere Vorwürfe gegen die USA und befürchtet, dass sich andere Regierungen vom Verhalten der Bush-Regierung inspirieren lassen
Schon die Kurzfassung des Jahresberichts 2005 reicht aus, um einmal mehr resigniert festzustellen, dass sich auf dem blauen Planeten dank seiner menschlichen Bewohner nichts zum Positiven verändert hat. amnesty international dokumentiert in der aktuellen Studie, die den Berichtszeitraum vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2004 umfasst, Menschenrechtsverletzungen in 149 Ländern, Folter und Misshandlungen durch staatliche Sicherheitsorgane in 104 Staaten, ungezählte Todesurteile und fast 3.800 Hinrichtungen, gewaltlose politische Gefangene in 35 und Verstöße gegen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in 79 Ländern.
Diese Zahlen sind erschütternd, aber selbst in ihren abstrusen Ausmaßen für die Öffentlichkeit offenbar schon zu bekannt, um mehr als einen Sturm im Wasserglas zu entfesseln. amnestys Generalsekretärin Irene Khan stellte bei der Präsentation des Berichts in London deshalb ein Land in das Zentrum ihrer Betrachtungen, das dort nach dem Selbstverständnis seiner Regierung durchaus fehl am Platz ist. Khan warf ausgerechnet den selbsternannten Verteidigern von Demokratie und Freiheitsrechten schwerste Menschenrechtsverletzungen vor.
Die Vereinigten Staaten von Amerika hätten im rechtsfreien Raum Guantanamo den "Gulag unserer Zeit" errichtet, und ebendort – wie auch in Afghanistan und im berüchtigten irakischen Gefängnis Abu Ghraib – Gefangene misshandelt. Sie versuchten, die Bestimmungen der Genfer Konvention zu unterlaufen und Folter neu zu definieren, indem nicht über den wahren Sachverhalt, sondern über verharmlosende Wortschöpfungen wie "Stressposition" oder "sensorische Manipulation" gesprochen werde. Der Bericht kritisiert darüber hinaus die Behandlung von "feindlichen Kombattanten", aber auch von Flüchtlingen und Asylsuchenden – und natürlich die Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe in verschiedenen Bundesstaaten der USA.
Besondere Aufmerksamkeit widmet amnesty den weltweiten Auswirkungen des amerikanischen Fehlverhaltens. Im Rahmen des Anti-Terrorkampfes hätten sich viele Länder am Vorgehen der USA ein Beispiel genommen und ihrerseits Menschenrechtsverletzungen begangen. Der aufmerksame Beobachter mag dabei recht schnell an Russland oder China gedacht haben, doch amnesty weist darauf hin, dass auch Israel, Usbekistan, Ägypten oder Nepal gewaltsame Operationen nun mit den Notwendigkeiten der Terrorismusbekämpfung begründen.
Wenn sich das mächtigste Land der Welt nicht an Gesetze und Menschenrechte gebunden fühlt, dann stellt es anderen eine Lizenz aus, ähnliche Verbrechen begehen zu können, ohne anschließend bestraft zu werden.
Irene Khan
Allerdings könne sich auch die UN-Menschenrechtsorganisation nicht aus der Verantwortung stehlen. Sie habe mit dafür gesorgt, dass Verdachtsfälle und offenkundige Verbrechen nicht untersucht worden seien. Die Kommission habe sich zu einem Forum "for horse-trading on human rights" entwickelt, kritisierte Irene Khan.
Scott McClellan, ein Sprecher des Weißen Hauses, reagierte im Rahmen einer Pressekonferenz ohne erkennbare Veränderung seines ausgeglichenen Gemütszustandes auf den amnesty-Bericht.
Ich denke, die Vorwürfe sind lächerlich und entbehren jeder Grundlage. Die Vereinigten Staaten spielen die führende Rolle, wenn es darum geht, die Menschenrechte und die Menschenwürde zu verteidigen. Wir haben 50 Millionen Menschen im Irak und in Afghanistan befreit. Wir haben daran gearbeitet, Freiheit und Demokratie in der Welt zu verbreiten, (...).
Scott McClellan
Auch der Kampf gegen AIDS, an dem Präsident Georges W. Bush mit großem Engagement beteiligt sei, dürfe als wichtiger Beitrag zur weltweiten Durchsetzung der Menschenrechte gewertet werden. Als sich ein Journalist durch diesen überraschenden Ausfallschritt nicht beirren ließ und nach den "Einzelfällen" von Misshandlungen auf Guantanamo oder in Afghanistan fragte, stellte McClellan sein Talent für pathetische Grundsatzerklärungen unter Beweis, ohne dessen formvollendete Ausprägung sich offenbar niemand ernsthafte Hoffnungen auf einen Job in der Bush-Adminsitration machen darf:
Wir sind eine Gesellschaft, die auf Gesetzen und Werten basiert es sind nicht nur Gesetze, sondern Werte, die wir hochhalten. Und sicher, was Sie da gesagt haben, beschmutzt das Bild der Vereinigten Staaten. Aber wenn Sie sehen, wie wir mit diesen Vorfällen umgehen, dann zeigt das unsere tiefe Verbundenheit mit den Menschenrechten und der Menschenwürde. Wir machen Personen verantwortlich, wenn da eine Misshandlung geschieht. Wir unternehmen Schritte, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert, und wir machen das in einer sehr öffentlichen Weise, um der Welt zu zeigen, dass wir durch beispielhaftes Verhalten führen und dass wir Werte haben, die wir hochhalten und an die wir glauben.
Scott McClellan