Merkwürdigkeiten bei der Mehrstaatigkeit

Ein ziemlich abstraktes Thema wie die doppelte Staatsbürgerschaft konnte die Hessenwahl vor neun Jahren drehen. Was wurde daraus?

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Vor allem aus konservativem Blickwinkel muss, a posteriori, die Verhinderung der Mehrstaatigkeit im neuen Staatsangehörigkeitsgesetz von 2000 als Irrtum angesehen werden. Neben den angeblich substantiellen Gründen (z. B. Rechtssicherheit) – die sich allein dadurch schon als hohl entlarven, dass die allermeisten Staaten die Mehrstaatigkeit akzeptieren, ohne im Chaos zu versinken – dürfte wohl vor allem der Wunsch mitgespielt haben, „überzeugte“ Neudeutsche zu generieren, nicht vaterlandslose Gesellen, die den deutschen Pass ihrer Sammlung hinzufügen.

Die faktischen Auswirkungen sind den intendierten diametral entgegengesetzt. Gerade viele erfolgreiche Zuwanderer – also gerade diejenigen, die man sich als Konservativer mit deutschen Pass wünschen würde – verzichten ganz explizit darauf.

Der Grund ist, dass die so genannte Niederlassungserlaubnis praktisch genauso gut ist. Sie ist unbefristet, erlaubt die Aufnahme jeder Erwerbstätigkeit, und man kann beliebig Deutschland betreten und verlassen. Im Vergleich zum deutschen Pass hat sie nur einen großen Haken: Sie erlischt, wenn man sechs Monate oder länger Deutschland am Stück verlässt. Gerade für einen Ausländer, der sein Leben ohnehin komplett in Deutschland lebt, ist dies allerdings offensichtlich keine Einschränkung.

Dagegen bedeutet der Verlust des Ursprungspasses ein echtes Problem, falls das Betreten des Herkunftslandes ein Visum erfordert oder sonst irgendwie umständlich für Ausländer ist. Wer je ein russisches Visum beantragt oder die „immigration“ in die USA hinter sich gebracht hat, versteht, warum Elena, die russische Unternehmensberaterin, oder Jason, der amerikanische Chefredakteur eines deutschen Magazins, bei der Niederlassungserlaubnis bleiben. (Beides übrigens keine fiktiven Beispiele.) Selbst innerhalb der EU ist der Wunsch nach zwei Pässen als natürlich anzusehen, und sei es nur das Anliegen, die eigenen Wurzeln nicht zu verleugnen und das aktive Wahlrecht zu behalten.

Umgekehrt hat der „vaterlandslose Gesell“ aus dem Klischee natürlich gar kein Problem, seinen alten Pass in einen neuen deutschen umzutauschen, um so mehr so, weil ihn der deutsche Pass im Extremfall vor einer Abschiebung (oft auch der nächsten Verwandtschaft) schützt – im Gegensatz zur unsichereren Niederlassungslassungserlaubnis (was andererseits für rechtstreue Bürger wiederum keinen Nachteil darstellt). Kurzum: Je erfolgreicher, integrierter, gesetzestreuer ein in Deutschland lebender Ausländer ist, um so weniger „braucht“ er einen deutschen Pass.

Trotz des Grundsatzes der Vermeidung der Mehrstaatigkeit gibt es jede Menge Ausnahmen davon. Beispiele: Die doppelte Staatsbürgerschaft erhält nämlich automatisch, wessen Heimatland gar nicht ausbürgert (Mexiko, Uruguay …) oder es in der Praxis nicht tut (Afghanistan, Iran, Libanon, Marokko …). Zudem wird bei politisch Verfolgten davon ausgegangen, dass für sie die Aufgabe der Ursprungsstaatsangehörigkeit unzumutbar, d.h. sie können sie ebenfalls behalten. Es gibt noch weitere Ausnahmen; zu einer davon kommen wir später.

Außerdem ist die Einbürgerung Ländersache, und dabei kann es zu bemerkenswert unterschiedlichen Interpretationen führen, so dass die Hinnahme der Mehrstaatigkeit in bestimmten Fällen vom Bundesland abhängen kann.

Betrachten wir ein konkretes Beispiel. Ein Pole hat sein gesamtes Studium in Deutschland verbracht (ein Jahr Sprachkurse, ein Jahr Studienkolleg, acht Jahre Studium), hat danach einen gut bezahlten Job angenommen (den er seit zwei Jahren hat) und möchte sich nun einbürgern lassen.

Wenn er dies nicht gerade über die Abkürzung „Heirat“ unternehmen will – die effizienteste und schnellste aller Methoden, die jedem, unabhängig von seiner realen Integrationsfähigkeit, offen steht –, kommen im Prinzip zwei Varianten für ihn in Frage, die Anspruchseinbürgerung (§10 StAG) und die Ermessenseinbürgerung (§8 StAG).

Die Anspruchseinbürgerung ist an diverse Voraussetzungen geknüpft (Auskommen, Wohnung, Sprachkenntnisse …), die unser polnischer Absolvent ohnehin erfüllt. Eine dieser Voraussetzungen sind 8 Jahre rechtmäßiger, gewöhnlicher Aufenthalt.

Er geht also zum zuständigen Amt seines Wohnorts Rostock (Mecklenburg-Vorpommern) und fragt, ob er sich einbürgern lassen kann. Der Sachbearbeiter erklärt ihm, dass es sogar einen Anspruch darauf hat. Der Pole fragt, ob er seinen polnischen Pass behalten darf. Der Sachbearbeiter verweist auf §12 Abs. 2 StAG, der eine explizite Ausnahme für alle EU-Staatsangehörigkeiten (plus Schweiz) macht. Der Pole stellt seinen Antrag, erhält nach ein paar Monaten die deutsche Staatsbürgerschaft, und behält die polnische.

Versuch Nummer 2. Unser Pole ist für seinen Job nach Rosenheim (Bayern) gezogen und fragt beim zuständigen Amt, ob er sich einbürgern kann. Der Sachbearbeiter erklärt ihm, dass eine Anspruchseinbürgerung vorerst nicht in Frage komme, denn dafür brauche er 8 Jahre rechtmäßigen, gewöhnlichen Aufenthalt.

Nun sei es zwar außer Frage, dass er sich sogar mehr als zehn Jahre rechtmäßig in Deutschland aufgehalten habe; aber er war ja nur Student, und Studenten wollen ja wieder irgendwann nach Hause (so jedenfalls die Interpretation des bayerischen Innenministeriums), er befand sich also nicht gewöhnlich in Deutschland. Polen trat der EU am 1. Mai 2004 bei; nach dem 1. Mai 2012 könne er anspruchseingebürgt werden, und wenn er einen hilfreichen Integrationskurs mache (wo er ausreichende deutsche Sprachkenntnisse erlangen könne und ein bisserl was über die Kultur Deutschlands lerne), dann würde man ihm ein Jahr erlassen, und er könne schon nach dem 1. Mai 2011 seinen Antrag stellen.

Weil unser Pole gar so traurig aussieht, weist ihn der Sachbearbeiter auf die Möglichkeit der Ermessenseinbürgerung hin. Dort gibt es praktisch gar keine festgelegten Voraussetzungen außer Auskommen, Wohnung und Vorstrafenfreiheit; allerdings setzt man in der Praxis die gleichen Hürden (8 Jahre Aufenthalt, Sprache …), wenn es sich nicht gerade um Spitzensportler handelt. Wegen der eigentümlichen bayerischen Interpretation des „gewöhnlichen“ Aufenthalts verwendet man hier gern die Ermessensbürgerung, um erfolgreiche Absolventen doch einzubürgern.

Unser Absolvent überlegt sich also gerade, was er in seinem Besinnungsaufsatz „Warum ich Deutscher werden will“ schreiben soll – im Gegensatz zum Anspruchseinbürgerung ist der tatsächlich bei der Ermessenseinbürgerung notwendig –, als ihn der Sachbearbeiter noch auf ein Problem hinweist: Er muss seine polnische Staatsangehörigkeit aufgeben.

Und das kommt so: §12 Abs. 2 StAG (Hinnahme der Mehrstaatigkeit bei EU-Bürgern) ist eine Ausnahme, die sich explizit auf die durch und durch geregelte Anspruchseinbürgerung bezieht, die ihrerseits die Aufgabe der Mehrstaatigkeit (§10 Abs. 1 Nr. 4 StAG) vorsieht.

Bei der Ermessenseinbürgerung ist viel weniger geregelt; vielleicht will man ja einem Spitzensportler die Mehrstaatigkeit erlauben. Und da die Mehrstaatigkeit nicht explizit verboten ist, gibt es im Gesetz logischerweise auch keine expliziten Ausnahmen. Es existiert zwar eine „Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Staatsangehörigkeitsrecht“, die wieder die üblichen Ausnahmen für Mexikaner und Afghanen macht, dabei aber die Gruppe der EU-Studenten mit Wohnsitz in Bayern vergisst.

Muss unser Pole nun auf seine polnische Staatsangehörigkeit verzichten? Ja, aber nur ein paar Wochen lang. Das sagt ihm zwar der Sachbearbeiter nicht mehr, aber dies ist Teil des Nutzwerts dieses Artikels.

§25 Abs. 1 legt fest, dass ein Deutscher (egal, ob durch Geburt oder Einbürgerung) seine Staatsangehörigkeit automatisch verliert, wenn er eine ausländische Staatsangehörigkeit auf Antrag annimmt. Diese Erfahrung mussten viele Türken machen, die sich nach der erfolgten Einbürgerung als Deutsche ihren türkischen Pass wieder holten.

Doch §25 Abs. 1 hat auch einen Satz 2, und der lautet: „Der Verlust nach Satz 1 tritt nicht ein, wenn ein Deutscher die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union … erwirbt“. Will heißen: Solange das polnische Konsulat mitspielt1, kann unser Deutscher polnischer Herkunft unmittelbar nach der erfolgten Einbürgerung seine Einbürgerung in Polen beantragen, ohne dass dies irgendwelche Auswirkungen auf den deutschen Pass hätte.

Ist dies eine theoretische Möglichkeit, oder funktioniert das in der Praxis? Nach diversen Telefonaten mit der Pressestelle des bayerischen Innenministeriums und ein paar E-Mails kam schließlich die Bestätigung, dass diese meine Interpretation richtig ist. Damit kommt diese Verwaltungspraxis in Bayern einer gezielten Subventionierung der Konsularabteilungen der neuen EU-Staaten gleich, die sich über zusätzliche Einnahmen dank Wiedereinbürgerungsanträgen sowie Passneuausstellungen freuen dürfen.