Mexikanischer Ex-Präsident geht straffrei aus
Richterin lehnt Antrag auf Haftbefehl wegen Völkermords im Jahr 1971 ab
Enttäuschung bei Menschenrechtsorganisationen und der "Sonderstaatsanwaltschaft für soziale und politische Bewegungen der Vergangenheit" (Femossp) in Mexiko. Die letzte juristische Möglichkeit im Inland, den ehemaligen Präsidenten Luis Echeverría (1970-1976) für seine Verantwortung beim Massaker an oppositionellen Studenten am 10.Juni 1971 zur Rechenschaft zu ziehen, ist ausgeschöpft. Fazit: Echeverría bleibt auf freiem Fuß, die Taten aus dem "schmutzigen Krieg" der 70er Jahre weiterhin ungesühnt.
Zwischen 15 und 50 Tote soll es gegeben haben – niemand kann das genau sagen -, als die paramilitärische Gruppe Halcones (Falken) am 10. Juni 1971 in Mexiko-Stadt gegen demonstrierende Studenten eingesetzt wurde. Bereits am 2. Oktober 1968 war es im Stadtteil Tlatelolco zu einem noch weitaus blutigeren Massaker an Studenten gekommen (siehe: Vergangenheitsbewältigung oder Standortpolitik?). Nach dem 10. Juni 71 zogen viele der Überlebenden die Konsequenzen und gingen in den Untergrund, um sich einer der damals entstehenden bewaffneten Bewegungen anzuschließen. Der schmutzige Krieg hatte begonnen, der für Hunderte junger Mexikaner in extralegaler Entführung, Hinrichtung oder Folter enden sollte.
Genau dieses Image versucht das heutige Mexiko loszuwerden. Es will sich nicht nur in der Gegenwart als Demokratie präsentieren, sondern der Welt auch demonstrieren, dass Schluss ist mit der Straflosigkeit, dass die Verbrechen der Vergangenheit im Nachhinein noch geahndet werden. Aus diesem Grund wurde 2002 von der Regierung Fox die "Sonderstaatsanwaltschaft für soziale und politische Bewegungen der Vergangenheit" gegründet, die Licht und Gerechtigkeit in den Repressionssumpf der 70er Jahre bringen sollte.
Luis Echeverría war 1968 Innenminister, 1971 Staatspräsident. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass er die Strategie, die radikale Opposition physisch auszumerzen, mitgetragen und befehligt hat. Dennoch stritt Echeverría, als er im Oktober 2002 von der Sonderstaatsanwaltschaft Femossp vernommen wurde, und seitdem immer wieder, jede Verantwortung ab. Nichtsdestotrotz erhob Sonderstaatsanwalt Carillo Prieto im Juli 2004 Anklage gegen das ehemalige Staatsoberhaupt. Vertreter der ehemalige Staatspartei PRI warfen Carillo Prieto daraufhin vor, die Institutionalität des politischen Systems zu bedrohen, weil die Institution des Staatspräsidenten unantastbar bleiben müsse. Juan Velázquez, der heutige Rechtsbeistand von Ex-Präsident Echeverría, vertritt eine ähnliche Position:
Mexiko war das einzige Land Lateinamerikas, das ein institutionelles Heer besaß, wo es nie einen Staatsstreich gab und nie eine Militärdiktatur errichtet wurde. Es kann nicht angehen, dass in Mexiko, das sich international gebrüstet hat, politisch Verfolgten Asyl zu gewähren, jetzt eine Behörde der Bundesregierung uns vor der Welt als völkermordende Nation anprangert.
Doch haben Velázquez und seine Mitstreiter ohnehin nichts mehr zu befürchten: Ende Juli entschied eine Richterin, der Straftatbestand des Völkermords treffe in Bezug auf das Massaker vom 10. Juni 1971 nicht zu, weil sich die Mordlust der Paramilitärs nicht "gegen eine nationale Gruppe" gerichtet habe. Studenten seien nicht als solche zu bezeichnen, insbesondere weil sie auf der betreffenden Demonstration unterschiedliche Parolen skandiert hätten.
Letztes Jahr noch hatte der Oberste Gerichtshof ein erstes Urteil in dieser Sache aufgehoben, das sich darauf berufen hatte, das Delikt des Völkermords sei bereits verjährt. Deshalb könnten weder Echeverría noch sein Innenminister mehr belangt werden. Mit dem neuerlichen Urteil von letzter Woche, das mit einer anderen Begründung zu denselben Schlüssen kommt, ist der Rechtsweg innerhalb Mexikos jetzt allerdings ausgeschöpft. Menschenrechtsorganisationen und die Vertreter des Komitee 1968, in dem ehemalige Anführer der Studenten organisiert sind, haben jetzt angekündigt, den internationalen Rechtsweg einschlagen zu wollen, d.h. die Klage vor die interamerikanische Menschenrechtskommission und den entsprechenden Menschenrechtsgerichtshof zu bringen.
Auch Sonderstaatsanwalt Carillo Prieto gab sich enttäuscht über das Urteil. Er akzeptiere es selbstverständlich, könne aber nicht umhin zu sagen, dass er mit dem Rechtsspruch nicht einverstanden sei. Es wäre das Mindeste gewesen, ihm die Akte noch einmal zurückzugeben, damit er seine Begründung für das Völkermorddelikt noch stärker untermauern könne. So habe die Richterin über die tatsächliche Verantwortung Echeverrías für die damalige Repression gar nicht entschieden, sondern sich lediglich über die Definition von Völkermord geäußert.
Für die langjährige Menschenrechtsaktivistin Rosario Ibarra de Piedra kommt das alles nicht überraschend. Ibarra, die seit 30 Jahren mit dem Komitee Eureka für das Wiederauftauchen ihres verschwundenen Sohnes Jesús kämpft, zweifelt nicht nur grundsätzlich an der mexikanischen Justiz, sondern auch an den Motiven des Sonderstaatsanwalts Carillo Prieto. Er wolle nur Lärm machen, aber nicht wirklich etwas erreichen, wirft sie ihm vor:
Warum hat Staatsanwalt Carillo Prieto den Fall nicht über die Verschwundenen aufgezogen, die sehr zahlreich sind, und das ist ein Delikt, das nicht verjähren kann? Warum hat er seine Anklage auf Völkermord (...) aufgebaut und nicht auf das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen? (...) Wenn er wirklich Gerechtigkeit will, muss er den Fall ganz neu aufziehen.
Aktivisten wie Ibarra de Piedra setzen mehr auf Mobilisierung von unten anstatt auf eine Gerechtigkeit, die der Staat von oben nach seinem Gutdünken gewährt. Am kommenden 28. August wird sie mit ihrem Komitee den 27. Jahrestag ihres ersten erfolgreichen Hungerstreiks begehen:
Vor 27 Jahren hat unser Streik Früchte getragen: Wir haben ein Amnestiegesetz hinweggefegt, sie haben uns 148 Personen zurückgegeben, die verschwunden waren, und 1500 politische Gefangene kamen auf freien Fuß.
Zwar hat die Arbeit der Sonderstaatsanwaltschaft bisher keine juristischen Konsequenzen und stellt damit auch nicht Gerechtigkeit her, aber für die Herausbildung eines Rechtsdiskurses und eines rechtsstaatlichen Bewusstseins in Mexiko dürfte sie langfristig trotzdem von Nutzen sein. Zumindest gibt es jetzt einen Präzedenzfall dafür, dass ein Staatspräsident angeklagt werden kann.