Vergangenheitsbewältigung oder Standortpolitik?
Erinnerung an das Massaker vom 2. Oktober 1968 - Wie Mexikos Regierung versucht, ihr Image in Sachen Rechtsstaatlichkeit aufzupolieren
Am 2. Oktober 1968 richtete das mexikanische Militär kurz vor der Olympiade ein Massaker an demonstrierenden Studenten an. Es markiert den Beginn eines schmutzigen Krieges, dem auch in den 70er Jahren noch Hunderte von Oppositionellen zum Opfer fallen sollten. Die heutige Regierung zeigt sich entschlossen, die Verantwortlichen von damals jetzt zur Rechenschaft zu ziehen, und hat zu diesem Zweck eigens eine Sonderstaatsanwaltschaft eingerichtet. Doch haben Menschenrechtsaktivisten von damals und heute erhebliche Zweifel an den Motiven für diesen Schritt. Anläßlich des Jahrestages des Massakers sind die Menschenrechte in Mexiko wieder ins Zentrum der öffentlichen Debatte gerückt.
Luis Echeverría ist ein alter Mann. Von 1970 bis 1976 leitete er die Staatsgeschäfte in Mexiko, der vorherigen Regierung diente er als Innenminister. Echeverría hat das Land zu seiner Zeit erheblich modernisiert, er hat endlich die Verbreitung von Verhütungsmitteln legalisiert und holte 1975 die Vereinten Nationen mit der ersten Weltfrauenkonferenz ins Land. Dass ein so renommierter, altgedienter Politiker eine Vorladung von der Staatsanwaltschaft erhält, ist in Mexiko ein Skandal. Das weiß auch Echeverría - und deshalb schweigt er einfach zu den Fragen, die ihm gestellt werden. Ein schlechtes Resümee für Ignacio Carrillo Prieto, den "Sonderstaatsanwalt für soziale und politische Bewegungen in der Vergangenheit". Dabei zweifelt heute in Mexiko niemand mehr daran, dass der ehemalige Innenminister und Staatspräsident eine Schlüsselrolle im blutigen Kampf gegen die mexikanische Opposition der Sechziger- und Siebzigerjahre spielte. Hinrichtungen ohne Gerichtsverhandlung, Folter, Dutzende von Verschwundenen, immer wieder Massaker an der Landbevölkerung und eine traumatisierte Linke, das ist die Bilanz seiner Politik. Dies nun juristisch nachzuweisen, gehört zu Prietos Aufgaben, seit er im Januar das Amt bei der neugeschaffenen Behörde übernommen hat.
Sonderstaatsanwalt Carrillo Prieto nimmt seine Aufgabe sehr ernst - zumindest sieht alles danach aus. Er trifft sich mit alten Aktivisten und reist in Bundesländer, in denen politische Gefangene in geheimen Kerkern gefoltert wurden. Es gelte, die Verantwortlichen ausfindig zu machen, meint der Strafverfolger. "Niemand soll außerhalb des Gesetzes stehen," erklärt er und ließ folgerichtig auch den ehemaligen Staatspräsidenten zur Vernehmung laden. Schon zu Beginn seiner Amtszeit hatte Prieto wissen lassen, er werde "so weit gehen, wie es nötig sein wird".
Doch dass dem Juristen enge Grenzen gesteckt sind, wurde nicht erst mit Echeverrías Aussageverweigerungen deutlich. 71 Jahre lang regierte in Mexiko die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), bis der konservativ-liberale Vicente Fox im Jahr 2000 als erster Oppositionskandidat die Amtsgeschäfte übernahm. Doch hat sich an den Strukturen der mexikanischen Gesellschaft bisher weniig geändert: Der Geist des korporatistischen Systems, das Unternehmer, Militärs, Gewerkschaften und soziale Organisationen in ein festes hierarchisches Loyalitätsgefüge einband, an dessen Spitze der Präsident stand, lebt in den staatlichen Institutionen ungehindert weiter.
Vor allem bei den Streitkräften funktioniert der Corpsgeist nach wie vor, und die Beteiligten von damals halten dicht - was den mexikanischen Soziologie-Professor Sergio Zermeño wenig verwundert: "Wenn ein Militär gegen die eigenen Reihen aussagen würde, wäre er ein toter Mann. Das ist der militärische Kodex." Schlechte Karten also für Prieto, denn schließlich spielt das Militär die wohl wichtigste Rolle in der langjährigen Repressionsgeschichte des PRI-Staates, in der das Studentenmassaker von Tlatelolco nur einen Höhepunkt markiert.
Paramilitärs als Provokateure
Am 2. Oktober 1968, also zehn Tage, bevor in Mexiko-Stadt die Olympischen Spiele begannen, demonstrierten 100 000 bis 200 000 Studenten auf dem Platz der Drei Kulturen im Stadtteil Tlatelolco. Neben der staatlichen Bildungspolitik kritisierten sie die brutalen Methoden, mit denen das Militär gegen die Opposition vorgegangen war.
Zuvor hatte die Armee eine Woche lang das Gelände der UNAM, der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko, besetzt, um dem seit Monaten währenden Aufstand der Studierenden ein Ende zu setzen. Einige Demonstranten saßen bereits im Gefängnis. "Damals Student zu sein, war ein Verbrechen", erinnert sich Ex-Aktivist Salvador Martínez della Rocca, den alle Welt Pino nennt. Dennoch hatte niemand mit dem gerechnet, was dann an diesem 2. Oktober geschehen sollte. Während der Kundgebung fielen plötzlich Schüsse aus dem 3. Stock des benachbarten Hochhauses "Chihuahua". Militärs erwiderten das Feuer und schossen in die Menge. Von den zurückbleibenden Leichen fehlt bis heute jede Spur.
Wie viele Menschen an diesem Tag tatsächlich starben, ist ungeklärt. Waren es 300, wie die Augenzeugen von damals und die internationale Presse berichteten? Oder kommt tatsächlich die Zahl 38 "der wirklichen Anzahl am nächsten", wie Staatsanwalt Prieto jüngst behauptete? Heute ist das nur noch schwer zu ermitteln, denn die Angst vor der Willkür der Macht ging nach dem Massaker so weit, daß niemand vermisste Angehörige öffentlich beklagen wollte. Zudem wurden am selben Tag Tausende Menschen verhaftet, einige von ihnen blieben für immer verschwunden.
Aber auch die Frage, wer an diesem Tag zuerst geschossen hat, blieb über 30 Jahre lang ein Staatsgeheimnis. Für viele der damaligen DemonstrantInnen bestand kein Zweifel: Eröffnet wurde das Feuer vom so genannten Batallón Olimpia,(Vgl. Mexiko 1968 - Massaker für ungestörte Olympiade) einer paramilitärischen Einheit, die direkt dem Innenminister Echeverría unterstand und sich durch das Tragen weißer Handschuhe auszeichnete. So berichtete etwa der damalige Studentenführer Florencio López Osuna, dass er im 3. Stock des Chihuahua-Gebäudes zahlreiche junge bewaffnete Männer gesehen habe. "Alle trugen einen weißen Handschuh." In einem sind sich folglich fast alle Aktivisten dieser Zeit einig: Das Batallón Olimpia sollte eine bewaffnete Reaktion des Militärs gegen die Demonstrierenden provozieren und rechtfertigen. Doch warum sollte die Regierung an einem Massaker Interesse gehabt haben, zumal angesichts der bevorstehenden Olympiade die gesamte Weltöffentlichkeit auf Mexiko blickte? Eine Frage, die sich auch Ex-Aktivist und Soziologe Zermeño, der heute an der Unam über soziale Bewegungen lehrt, oft gestellt hat. Der schwachen Regierung des Präsidenten Díaz Ordaz (1964-70) sei die Konfrontation über den Kopf gewachsen, erklärt er, zumal das für die Olympiade vorgesehene Aztekenstadion auf dem Gelände der Unam liegt. Aber auch einen Machtkampf zwischen Militär und Regierung schließt er als Hintergrund des Massakers nicht aus. "Ich gehe davon aus", so Zermeño, dass es "verschiedene Sichtweisen darüber gegeben hat, wie das Problem mit den Studenten zu lösen sei."
Die Weltöffentlichkeit? Nein, meint Ex-Studentenführer Pino, Mexiko habe auch damals schon billige Arbeitskräfte für internationale Konzerne bereitgestellt, und jeder hätte wissen können, dass hier keine demokratischen Verhältnisse herrschen. Das habe bei der Entscheidung für die Olympiade niemanden interessiert. Seine Erklärung für den Angriff: Die Politik der Staatspartei PRI sei immer darauf ausgelegt gewesen, Arbeiter- oder soziale Bewegungen zu vereinnahmen. "Ein solcher Staat kann es sich nicht erlauben, dass sich Strukturen entwickeln, die sich nicht in die Institutionen einbinden lassen. Es scheint, als sei es damals weniger subversiv gewesen, für den Sozialismus zu kämpfen als für die Demokratie," sagt er mit leicht zynischem Blick. Pino arbeitet in dem fünfköpfigen Komitee mit, das Staatsanwalt Prieto zu seiner Unterstützung herangezogen hat. Auf seinem Schreibtisch stapeln sich die Akten mit Aufschriften wie "MAR" oder "FLN". Sie stehen für den Movimiento Armado Revolucionario und Frente para la Liberación Nacional, zwei jener vielen Guerillagruppen, die sich aus der 68er Bewegung gegründet haben und die im Verlauf des schmutzigen Krieges der frühen 70er Jahre zerrieben wurden.
Denn spätestens nach einem weiteren Überfall, bei dem eine von der Regierung unterstützte Gruppe namens Halcones (Falken) im Juni 1971 zwischen 15 und 50 Demonstranten ermordete, waren zahlreiche Linke abgetaucht. Viele bezahlten diese Entscheidung mit dem Leben. Insbesondere gegen die Guerilla ging der mittlerweile zum Präsidenten avancierte Echeverría hart vor. Unzählige verschwanden in geheimen Kerkern, wurden gefoltert und sind nie wieder aufgetaucht. Auch hier weiß man bis heute nicht, wie viele es waren, die dem Militär- und Polizeiapparat zum Opfer fielen.
Mit diesen Fragen sollen sich Strafverfolger Prieto und sein Unterstützungskomitee nun beschäftigen. Also vernimmt er Militärangehörige, Politiker sowie Zeitzeugen und wälzt die Archive, die Präsident Vicente Fox hatte öffnen lassen. "Am Schluss muss dann ein Gericht entscheiden", sagt Prieto. Doch über die Erfolgsaussichten dieser Arbeit macht nicht nur Soziologe Zermeño sich keine große Illusionen: Natürlich müsse man davon ausgehen, dass die Archive längst von den Militärs gesäubert worden seien.
Der Präsident selbst hat dem Unterfangen noch ganz andere, strukturelle Grenzen gesetzt: Die "Sonderstaatsanwaltschaft" ist der Generalstaatsanwaltschaft Mexikos (PGR) unterstellt, und die wiederum wird von einem amtierenden Armeegeneral geleitet. "Mindestens 13 weitere Militärangehörige" hätten leitende Positionen in der Behörde, kritisiert amnesty international (ai ) den Deal, mit dem Fox bei seinem Amtsantritt die Balance zwischen ziviler Regierung und dem oft autonom agierenden Militär arrangiert hatte. Es gebe "keine wirksamen Mechanismen für unabhängige gerichtliche Untersuchungen" mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen, die Militärangehörigen oder Mitarbeitern der PGR vorgeworfen wurden," so ai weiter.
Dennoch hat die Einrichtung der Sonderstaatsanwaltschaft immerhin dazu geführt, dass die Verbrechen seit Monaten öffentlich diskutiert werden. Das allein ist Grund genug für Pino, sich an den Untersuchungen zu beteiligen. Die Öffnung der Archive wäre unter einer PRI-Regierung kaum vorstellbar gewesen, meint der Altaktivist. Die Behauptung, Fox habe ein Interesse an Aufklärung, stelle die Sache aber auf den Kopf. "Fox ist lediglich durch öffentlichen Druck gezwungen, so zu handeln."
Rechtsanwältin Aline Castellanos von der unabhängigen Menschenrechtsorganisation Limeddh geht noch weiter:
Wir fragen uns, warum man jetzt die Priorität auf die Ereignisse der 70er Jahre legt, anstatt auf das, was aktuell passiert und durchaus schlimm genug ist. Wir haben gesicherte Erkenntnisse darüber, dass auch heute im ganzen Süden von Mexiko die schweren Menschenrechtsverletzungen wie Folter, illegale Hinrichtungen und Straflosigkeit für die Verantwortlichen gegenüber sozialen Aktivisten, dem indigenen Widerstand oder auch gegenüber Menschenrechtsverteidigern oder Journalisten weiterhin praktiziert werden. Und in Bezug auf diese aktuellen Ereignisse hat Fox überhaupt keine Verantwortung übernommen. Deshalb denken wir, dass er sich mit dieser Art der Vergangenheitsbewältigung vor allem nach außen hin Legitimität verschaffen will als ein Präsident, der der Straflosigkeit keine Chance mehr gibt. Aber die Straflosigkeit geht unterdessen auch in seiner Amtszeit ungebrochen weiter. Er will international das Bild vermitteln, dass Mexiko jetzt den Übergang zur Demokratie geschafft hat, dass es ein Rechtsstaat ist und die Menschenrechte gelten. Wir sehen aber, dass das nicht stimmt, täglich gibt es Menschenrechtsverletzungen, ohne dass irgendetwas dagegen unternommen wird. Sollen wir vielleicht noch einmal dreißig Jahre warten, bis auch in diesen Fällen eine Sonderstaatsanwaltschaft eingerichtet wird?
Tatsächlich wurde die Behörde im Januar gegründet, wenige Wochen, nachdem die Zeitschrift "Proceso" Fotos veröffentlicht hatte, die eindeutig beweisen, dass das Batallón Olimpia an jenem 2. Oktober gegen die Studenten agierte. Zuvor hatte Fox, wie alle Präsidenten vor ihm, die Existenz der Spezialeinheit geleugnet. Doch sind politische Stabilität und ein demokratisches Image heutzutage wichtige ökonomische Standortfaktoren, und das weiß auch der Wirtschaftsliberale Fox. Deshalb ist er gezwungen, vermeintliche Erfolge im Kampf für Menschenrechte aufzuzeigen. "Diese Untersuchungen", resümiert Zermeño, "sind sinnvoll, aber sie stehen im Interesse des neuen Regimes." Dieses "neue Regime" jedoch setzt alte Traditionen in der Gegenwart ungebrochen fort. Es kommt also darauf an, ihm die Debatte um und die Definition von Menschenrechten aus der Hand zu nehmen. In einer Zeit, in der auch international militärische Operationen längst humanitär begründet werden, gilt dies nicht nur für Mexiko.