Michael Jackson wartet auf sein Urteil
Der gefallene Erzengel Michael und seine verbotenen Spiele
Dieser Tage wird einiges an den Strand der öffentlichen Aufmerksamkeit gespült, was keine rechte Verbindung eingehen will: Friedrich Schiller, der Freiheitspathetiker, Albert Einstein, der Relativitätstheoretiker, und Michael Jackson, der "King of Pop". Und doch: Alle drei sind Grenzverletzer, von denen zwei in den Olymp der Geistesriesen aufgenommen wurden, während der dritte kurz davor steht, endgültig in den Orkus des Verbrechens gestoßen zu werden.
Familiäre Verstrickungen
Jacksons Kinderschänder-Prozess ist längst eine bittere Farce geworden. Bitter, weil 20 Jahre Haft drohen, eine Farce, weil Showbiz und intimitätsgeile Medien kräftig in der trüben Melange mitrühren, die sich über den tief gefallenen Popstar ergießt. Sicher zweifelt niemand mehr daran, dass die Übergänge zwischen Peter-Pan-Romantik und handfesteren Beziehungen zu minderjährigen Neverland-Besuchern fließend waren. Michaels Verständnis einer unbeschwerten Kindheit strahlt längst nicht nur Hautgout aus. Der bühnenwirksame Griff zum Gemächt war augenscheinlich mehr Programm, als es seine juvenilen Fans je geglaubt hätten. Ist Michael ein "smooth criminal, so "Bad" (1987) und "Dangerous" (1992), wie es sein Mainstream-Pop trotz aller Beteuerungen zu keiner Zeit werden wollte?
Jackson kokettierte bereits mit dem Bösen, dem Verbrechen, als die fiesen Gangsta-Rapper noch nicht da waren. Zwei als Beweismittel zugelassene Fotobände mit Bildern von nackten Jungen verraten Michaels Neigungen jenseits seiner spät entdeckten familiären Ambitionen. Seit dem Abbruch der Dangerous-Tournee 1993 verfolgen ihn die Pädophilie-Vorwürfe. Die Kurzzeit-Ehen mit Elvis-Presley-Tochter Lisa Marie 1994 und der Krankenschwester Debbie Rowe 1996 nebst drei Kindern vermochten an den hartnäckigen Gerüchten nichts zu ändern. Immerhin hat Debbie Rowe gerade noch als Zeugin der Anklage versagt: Jackson sei ein liebevoller Vater, der gut mit Kindern umgehen könne. Aber gerade der Umgang mit Kindern ist ja das Problem.
Das Kind Michael selbst wurde vom eigenen Vater Joseph Jackson mit biblischen Erziehungsmethoden drangsaliert. Also ist die Gesellschaft verantwortlich und Michael zumindest bei den hartgesottensten Fans rein gewaschen. "Michael, wir lieben dich!" Gewiss, doch entscheidend ist nun, um welche Liebe es hier ging. Die virtuelle Selbstschöpfung einer fröhlich unbeschwerten Kindheit ist kein Verbrechen, aber ein verquerer Geschlechtstrieb kann zum Verhängnis werden.
Das Motto "Eines Freundes Freund zu sein" (Friedrich Schiller) hat Jackson in seiner infantilen Perspektive einer zu entschädigenden Kindheit äußerst riskant interpretiert. Kann man Michael Jackson überhaupt zur Rechenschaft ziehen? Ist er nicht möglicherweise schuldunfähig? Peter Pan könnte man doch nur dann bestrafen, wenn sich herausstellte, dass er in Wirklichkeit der böse Kapitän Hook höchstselbst ist. Und dieser Eindruck hat die Öffentlichkeit jenseits der Fangemeinden inzwischen eingeholt.
Die Geburt des Alien
Doch wer oder was ist Michael wirklich? Der "King of Pop" hat sich längst bis zur Unkenntlichkeit in eine virtuell androgyne Figur verwandelt. Besaß er zuvor schwarze Haut und hatte ein markantes Gesicht, hat er nun weiße Haut und das Gesicht einer daliesk zerlaufenden Schinken-Plastik. War Jacko zuvor unschwer als Mann zu erkennen, sieht er inzwischen seinen Schwestern ähnlicher, als es die Gene zulassen dürften.
Zu Aliens, Extra-terrestrials, Vampiren oder "Freaks", wie sie etwa der Filmemacher Tod Browning darstellte, fühlte sich Michael immer hingezogen, weil sich in ihnen das offene Geheimnis seines Andersseins spiegelt. Affe "Bubbles" soll einer seiner Bettgenossen gewesen sein. So erwarb Jackson angeblich das Skelett von Joseph Merrick des "Elefantenmenschen", jenes unfreiwilligen Schaustellers von Körperabnormitäten, der als hinlänglicher Beweis gelten darf, dass "Ich ein Anderer ist" (J.Lacan). Zwar dürfte die Story des Knochenkaufs falsch sein, aber die Deformation als Lebensschicksal stiftet eine unheimliche Bruderschaft zwischen den beiden. Marilyn Manson ist auch ein solcher travestischer Normflüchtling, der seinem Schicksal als "all american boy" weglaufen will. Oder Slipknot, die aus Gesichtern vernähte Visagen gemacht haben, weil allein diese das wahre Antlitz von gewaltbereiten Gesellschaften zeigen. Doch schon Tod Browning, der 1932 mit seinem Film die "Normalos" als die wahren Freaks outen wollte, scheiterte an den Standards der amerikanischen Moralgesellschaft und ihrer Zensoren, die sich ihre sauberen Kategorien nicht nehmen lassen.
Die alte mediale Differenzierung zwischen dem Schein der Freiheit auf der Bühne und den alltäglichen bis drögen Existenzen, die in der Boulevard-Presse hervorgepellt werden, gilt für Jackson nicht. Während Mick Jagger als älterer distinguierter Herr allenfalls zur Showtime die Sau rauslässt, sind bei Jackson Inszenierungen und Authentizitäten längst eins geworden. Mundschutz und weiße Handschuhe als Schutz vor Ansteckungen, Haarvorhang und Sonnenbrille als Sichtblenden outen den scheuen Paranoiker, während die auch im Prozess getragene Armbinde schon fast die mitleidige Frage nach dem Blindenhund aufwirft.
Die Verwandlung, die die Unmöglichkeit zur Selbstfindung kompensiert, war immer ein obsessives Motiv seiner inszenierten Songs. Die Verwandlung in ein anderes Wesen befreit wenigstens für einen kurzen Bühnenkick vom Schicksal, so wie Michaels kaum kopierbare Tanzartistik ein erdfernes, transzendentes Dasein feierte. Doch gerade sein legendärer Moon-Walk ist zugleich die unentschiedene Dynamik des auf der Stelle Tretens: Geht es vorwärts oder rückwärts? Wo geht und steht der Mann eigentlich? Seine Karriere dürfte jedenfalls ihren Zenit schon vor dem hässlichen Prozess überschritten haben. "Thriller" wurde 1982 mit 50 Millionen Scheiben zum erfolgreichsten Album aller Zeiten. "The Thrill is gone", selbst die mit hochgerüsteten Musik- und Promomaschinen, die hinter Jackson wild rotieren, sind gegen den Zeitgeist, der inzwischen auf coolere und jüngere Nummern setzt, machtlos. Von wegen "Invincible".
Auch das Gerichtsverfahren selbst ist die inzwischen langweilig werdende typische Inszenierung amerikanischer Medienprozesse: schmutzige Wäsche, Demontage von Zeugen, Lügen, Widersprüche und Halbwahrheiten. Die Wahrheit selbst wird eine Inszenierung sein – oder sie wird nicht sein, möchte man in Abwandlung von André Breton sagen. Die eilfertig nach jedem Prozesstag mit Schauspielern von "E! Entertainment Television" und "British Sky Broadcasting" nachgestellten Gerichtsszenen sind indes schon deshalb langweilig, weil der abgebrühte Medienzeitgenosse unterhalb von Reality-TV und Live-Soaps in diesen Reality-Stunts längerfristig weder Sensus noch Stimulus findet. Michael ist zwar die Inkarnation des Nichtauthentischen, aber ein Gerichts-Double hat er auch nicht verdient.
No Sex Nowhere
Ob Jackson nun diese oder jene Pornobücher im Schlafzimmer durchblätterte, ist vielleicht müßig gegenüber der Frage, ob eine Gesellschaft nicht auch den Preis für ihre bejubelten Freaks zahlen muss, die sie so bitter so brauchen scheint.
Jackson ist ein Produkt, das seinen vielen Machern gut geraten wäre, wenn sich nicht die inakzeptablen Grenzverletzungen als wahr erweisen sollten, die als Krankheits- und Freiheitssymptome dieser globalen Ware gelten dürfen. Jackson ist nicht normal. Wäre er es, wäre das nicht normal. Doch es scheint so, als habe sich die binäre Weltformel "normal/unnormal" endgültig verbraucht, wenn sie denn je Sinn gehabt haben soll.
Jede Gesellschaft bekommt die Freaks, die sie verdient. In der amerikanischen No-Sex-Gesellschaft, die das Hymen nur dem Ehebund opfert und in der Priester pädophile Fluchten aus dem zölibatären Notstand suchen, ist Michael sehr normal. Wir erleben eine Gesellschaft, die sich heute nicht erst dann echauffiert, wenn sich Jim Morrison auf der Bühne sadomasochistisch windet, sondern schon beim Vorspiel, wenn die harmlos antiseptische Schwester Michaels, Miss Janet Jackson, ein blankes Brüstchen blitzen lässt. "Nipplegate" ist für die amerikanische Gesellschaft moralisch verwerflicher als Abu Ghraib. Lynndie Englands Prozess wegen Malträtierung irakischer Gefangener ist jedenfalls gerade geplatzt.
Eine moralinsaure Gesellschaft, die groteske Jungmänner präsentiert, die sich rein halten bis zur Eheschließung mit der Einen und Einzigen, auch wenn sie die 30 schon passiert haben und die Märchenprinzessin eine Walt-Disney-Chimäre bleiben dürfte, wird den benediktinischen Segen Roms nicht missen müssen. Angeblich gibt es im sexualphobischen Gottesstaat USA 700 Keuschheitsprogramme zwischen Worth the wait und Abstinence only, die deutlich machen, was Amerika unter der nächsten sexuellen Revolution, will sagen: Regression, versteht.
Die amerikanische Rückkehr zu den Pilgrim Fathers, die Refundamentalisierung jenes Puritanismus und bigotten Protestantismus, wie ihn etwa Nathaniel Hawthorne angeprangerte, lässt Vergleiche zur vorläufig verblichenen Taliban-Gesellschaft Afghanistans genauso zu wie zu anderen sexualrepressiven Gesellschaften in trister Gegenwart und düsterer Vergangenheit. Jedenfalls ist mindestens in großen Teilen Amerikas die Aufklärung im zweifachen Sinne des Wortes gescheitert - und Jackson ist der beste Exponent dieses infantil-sexuell-apolitischen Komplexes, der sich auch ohne tiefenanalytische Einblicke entlarvt. Nach Freud ist der Sexualtrieb jedenfalls plastisch, d.h. unter anderem, dass er sich auch im Lustkorsett altpuritanischer oder neoviktorianischer Verhältnisse ein wenig miefige Luft macht.
Schlimm wäre es aber, wenn sich Rosa von Praunheims Motto so abwandeln ließe: Nicht der Perverse ist pervers, sondern die Gesellschaft, die ihn verfolgt. Ja, wo kämen wir dann hin? Dann würden sich die Kannibalen aller Länder und nicht nur von Rothenburg in den globalen Chat-Rooms versammeln und Priester könnten Messnerknaben weiterhin ihr eigenartiges Liturgie-Verständnis lehren.
The Verdict
Muss Jackson also verurteilt werden? Ist er schuldig? Dass Jackson Dreck am Stecken hat und diese Metapher schon keine mehr sein könnte, mag vermutet werden. Die von ihm gezahlten Schweigegelder in Millionen-Höhe an minderjährige Märchenpark-Besucher mögen solche Vermutungen schüren. Warum gibt einer ein Vermögen für das Schweigen einer geldgierigen Familie? Vielleicht, um jenseits der Schuldfrage solche Prozesse zu vermeiden?
Ein Prozessbeobachter der Washington Post meinte spöttisch, man sollte sie alle, Jackson und die Familie, die den Stein ins Rollen brachte, in das Gefängnis werfen. Denn sauber ist hier niemand. Der 15-jährige Kläger wie sein jüngerer Bruder haben sich in Widersprüche über Michaels angebliche Avancen verwickelt. Seit dem Simpson-Prozess stellt sich zudem die juristisch brisante Frage, ob die amerikanischen Gerichte im Fall stärkster Beteiligung der Öffentlichkeit ihr Diktum nicht wenigstens teilweise an den kollektiven Medienzensor übertragen. Jacksons Schuldfähigkeit ist bisher nicht ernstlich in Zweifel gezogen worden. Für den Prozess wäre nachhaltiger die Frage zu stellen gewesen: Ist "Wacko Jacko" verantwortlich oder selbst ein verirrtes Kind, das unter Kuratel zu stellen wäre?
Die Vorstellung, Michael einem amerikanischen Zuchthaus zu übergeben, ist zumindest unschön: Der "King of Pop" – und was ist Amerika ohne Pop? – wird in den Knast gesteckt. Boxer Mike Tyson passte noch ausgezeichnet in das Klischee des brutalen Buben. Er hatte selbst tatkräftig daran gearbeitet. Michael dagegen ist ein seltsames Produkt, für das es jenseits der Bühne wohl kein richtiges Asyl gibt. Vielleicht sind Prozesse die falsche Erkenntnisform, um das hormonell-mediale Chaos dieses Megastars zu fassen. Jackson ist ein Superstar, nicht weniger als ein Superwürstchen, das ohne seine augenscheinlich bedingt tauglichen Berater noch hilfloser sein dürfte. Das Denkmal für die virtuellste Persönlichkeit, die Amerika, an virtuellen Figuren nicht gerade arm, je hervorgebracht hat, hat er sich redlich verdient. Aber es steht zu befürchten, dass das nicht das Schlusswort in diesem Prozess ist.