Microsoft: MyLifeBits
Digitale Schuhschachtel, Horrorvision oder harmloses Datenbankprojekt?
Im aktuellen New Scientist findet sich ein Artikel über MyLifeBits, ein Projekt, an dem Wissenschaftler von Microsoft Research arbeiten.
Im New Scientist klingt das Ganze ziemlich bedrohlich:
Es dürfte Microsoft-Kritiker kaum überraschen, dass diese Softwarefirma die totale Kontrolle über das Leben aller will. New Scientist kann enthüllen, dass Bill Gates' Software-Engineers daran arbeiten, jedes Fotos, das Sie machen, jeden Brief, den Sie schreiben - ja, jede Ihrer Erinnerungen und Erfahrungen - in ein Ersatzhirn hochzuladen, das nie vergisst.
Wir erfahren Folgendes über einen MyLifeBits-Benutzer:
Alle seine E-Mails werden automatisch in das System gespeichert, genauso wie alles, was er liest oder online kauft. Er hat auch angefangen, seine Telefongespräche und Meetings mitzuschneiden, um sie als Sounddateien abzulegen. Die Privacy- und Corporate-Security-Risiken sind klar.
Sind wir schon so weit? Zum Glück nicht ganz. MyLifeBits ist nicht die finale Verschwörung, mit der Microsoft endgültig die Weltherrschaft übernehmen will, sondern zunächst ein Forschungsprojekt. Was hinter MyLifeBits steckt, legt ein Paper (PDF-Datei) klar dar.
Die Grundüberlegungen hinter MyLifeBits sind, dass Festplattenspeicherplatz heute schon in Hülle und Fülle bereit steht und dass kein Ende dieser Entwicklung abzusehen ist. Damit ließen sich alle Dinge, die man ansonsten im Schuhkarton aufbewahrt (alte Fotos, Briefe u.a.) in digitaler Form speichern, was den Vorteil bieten würde, dass sie sich durchsuchen ließen (sofern man diszipliniert genug ist, all die Schlagworte und Zusammenhänge zu definieren...).
Die Microsoft-Forscher haben sich überlegt, welche Features eine solche Datenbank bieten müsste. Vier grundsätzliche Eigenschaften wollten sie einbauen:
- Die Organisation darf nicht als Hierarchie gestaltet sein. Bilder zum "14. Geburtstag der Schwester" müssen sowohl über "Geburtstag" als auch über Schwester erreichbar sein. Neben der Suche wird dies mit Hilfe von Collections gelöst. [N.B.: ThumbsPlus bietet dieses Feature übrigens schon länger unter dem Namen Gallery]
- Möglichst viele Visualisierungen sollen unterstützt werden. [N.B.: Um auf ThumbsPlus zurückzukommen: Neben den Thumbnails gibt's die Slideshow, die Einzelansicht...]
- Anmerkungen zu nicht-textlichen Medien sind extrem wichtig [N.B.: Bei ThumbsPlus ist das ein Rechtsklick auf den Thumbnail, dann Properties, dann Keywords]
- Unterstützung für Transklusion, d. h. doppelseitige Links für neu hinzugefügte Medien.
Die mehrfachen Verweise auf ThumbsPlus sollen nicht bedeuten, dass das Projekt "schon da" wäre. Sie sollen lediglich zeigen, in welche Richtung MyLifeBits geht. Man darf sich das Ganze anscheinend wirklich als eine Art Image-Browser vorstellen, der halt noch alle Arten von Textdokumenten unterstützt, die in Vollsuche durchsuchbar sind und die zusammen mit den anderen Medienformen in Collections organisiert werden können. Kommentare sollen auch per Spracherkennung gemacht werden können. Alles sinnvolle Features, die man aber auch den heute schon featurereichen Imagebrowsern hinzufügen könnte.
Wie gesagt, es handelt sich um eine Datenbank, die jeder installieren kann oder nicht, und in die jeder speichern kann, was er will oder nicht.
MyLifeBits ist mit SQL Server und Index Server implementiert (das steht im oben zitierten PDF-Paper). Trotzdem läuft dies offensichtlich lokal, allein schon, weil die genannten Datenmengen (zumal wenn Video ins Spiel kommt) kaum über derzeit verfügbare Datenleitungen gehen könnten. Dennoch steht auf der Microsoft-Website etwas von "online" und "location independence when you are connected to MyLifeBits". Da sich nichts davon in den Papieren der Forscher wiederfindet, könnte es sich schlichtweg um ein Missverständnis handeln.
Und was ist mit dem Menschen, dessen E-Mails sämtlich automatisch gespeichert werden? Das ist er: Gordon Bell. Er fällt durchaus aus dem Microsoft-Klischee, weil er auch seine ganze CD-Sammlung in seine MyLifeBits-Datenbank integriert hat und auch das Capturen von DVD-Filmen für die große Sammlung anspricht).
Bell will sämtliche Papierdokumente (außer den gesetzlich aufzubewahrenden) wegwerfen. Im Paper wird schon an die Urenkel gedacht, die sich das Leben der Vorfahren anschauen wollen. Zwar hat das Paper eine Einleitung zum Thema, wie groß heutige Festplatten sind, wie viel Platz man für bestimmte Medien braucht etc., aber auf Themen wie RAID, Backup, Datenwiederherstellung wird nirgends eingegangen. Dann wollen wir mal hoffen, dass Bells Urenkeln wirklich Bilder des Uropas erhalten bleiben...