Mief der Unterdrückung
Exportschlager Überausbeutung: Die Praktiken des Discounters Lidl in Europa
Die wachsende Kapitalkonzentration im Einzelhandel und der Kampf einiger weniger Ketten um die sinkende Kaufkraft der Kunden haben massive soziale Missstände bei den Beschäftigten zur Folge. Schon länger hat die verdi-Gewerkschaft speziell die Praktiken der Schwarz-Gruppe im Auge, die mit ihren Lidl- und Kaufland-Ketten derzeit massiv in Europa expandiert.
Zu diesem Zweck hat verdi schon vor einiger Zeit ein lang anhaltende, strategisch ausgerichtete Kampagne gestartet, die ihren ersten sichtbaren Höhepunkt in der Veröffentlichung des "Schwarzbuchs Lidl" im Jahr 2004 (vgl. Das System Lidl) fand.
Erschreckende Situation
Neuerdings gibt es ein Schwarzbuch Lidl Europa, das die Situation außerhalb Deutschlands dokumentiert. Was man in diesem Buch zu lesen bekommt, ist erschreckend. Von massenhafter unbezahlter Mehrarbeit, willkürlichen Entlassungen, unmenschlichem Arbeitsdruck, Mobbing, Bespitzelung und Videoüberwachung ist die Rede, von Einschüchterung, ja sogar von Terror. Beispiele? Das Schwarzbuch bringt sie in Hülle und Fülle. Mal geht es um angehende Führungskräfte, die in Irland bis in ihre Privatsphäre hinein bespitzelt wurden. Mal um die europaweit verbreitete Praxis der willkürlichen Diebstahlsvorwürfe, mit denen unliebsame Angestellte "entsorgt" werden.
In Griechenland werden andauernd geltende Tarife zur Überstundenentlohnung verletzt. In vielen Ländern, in denen Lidl präsent ist, gelten Anforderungen als normal, die nur durch Arbeit von morgens bis in die Nacht zu erfüllen sind (zum Beispiel bei Inventuren). In Polen sind geltende Arbeitsschutzregelungen für Lidl-Mitarbeiter eher ein Witz, 14-Stunden-Schichten vor der Eröffnung neuer Filialen kommen durchaus vor, ein ehemaliger Kaufland-Abteilungsleiter berichtet von einem persönlichen Rekord bei 25,5 Stunden Dauerarbeit.
Überall, wo das System Lidl frei schalten und walten kann das gleiche Bild: die Mitarbeiter leiden. Die präsentierte Liste von Verfehlungen ist so massiv, dass dem Gerede von Einzelfällen unmittelbar der Boden entzogen wird. All die vielen Berichte durchzieht ein Mief der Unterdrückung und Triezerei, der sich ab und an auch zu einem veritablen Gestank verdichtet. In Spanien wurde über ein Jahr lang eine Wachfirma engagiert, die hauptsächlich bekannte Rechtsradikale beschäftigt - weil bei Lidl viele Migrantinnen arbeiten und einkaufen, ist das von besonderer Relevanz. In Irland kam es während eines Trainings für Führungskräfte zu Exzessen:
Die Bezirksleiter mussten regelmäßig alle Artikel, die aus dem Verkauf genommen wurden, mit den Listen in der "Write Off Zone" vergleichen. (...) Eine schmutzige Arbeit, denn die Artikel waren gammlig, klebrig und matschig. Einmal wurde absichtlich zu einem Bezirksleitertreffen ein solcher Einsatz angeordnet. Bei diesen Treffen tragen alle Bezirksleiter und Trainees Anzüge oder Kostüme. Natürlich war bei vielen nach dem Aussortieren der abgeschriebenen Waren die Geschäftskleidung ruiniert. Einzelne Mitarbeiter wurden bei solchen Einsätzen regelrecht vorgeführt: So musste ein Bezirksleiter, der bereits zwei Jahre bei Lidl beschäftigt war, vor dem anwesenden Personal kniend mit einem Messer einen festgetretenen Kaugummi vom Boden entfernen.
Belgien und Dänemark: kein Problem mit dem "System Lidl"
Aber es geht auch anders. In Belgien und Dänemark, wo von vornherein ein hoher Organisationsgrad der Beschäftigten zu verzeichnen ist, sind die Probleme, die das System Lidl anderswo erzeugt, nahezu unbekannt. Aber auch dort, wo Lidl zunächst versucht, die Belegschaft durch Einschüchterung, "persönliche Gespräche" und Entlassungen an gewerkschaftlicher Arbeit zu hindern, kann Hartnäckigkeit Wirkung zeigen.
Nachdem 1998 ein 34-tägiger Streik in einer Filiale in Rosny-Sous-Bois Solidaritätsaktionen in einem Lidl-Lager in Rousset hervorgerufen hatte, konnte die Hauptforderung durchgesetzt werden: Angestellte, die nach substanzlosen Diebstahlsvorwürfen entlassen worden waren, mussten wieder eingestellt werden. Andere Verbesserungen betrafen das Lohniveau und die Arbeitsbedingungen. Ein Streik gegen die exzessive Videoüberwachung in einem Lidl-Lager in Nantes - 65 Kameras kommen auf 60 Angestellte - führte hingegen in der Hauptsache nicht zum Erfolg.
Dennoch gab es Verbesserungen bei der Arbeitsorganisation. Zu den Schnüffeleien gegen die Lidl-Angestellten am Rande ein Detail: Der französische Lidl-Generaldirektor Pascal Tromp gab im 2001 dem Magazin "Le Nouvel Observateur" gegenüber zu, Privatdetektive auf Mitarbeiter angesetzt zu haben. Für französische Gewerkschafter, die mit den Praktiken von Lidl vertraut sind, war das keine große Überraschung.
Standards bei anderen Discountern nicht wesentlich höher
Das Schwarzbuch Lidl Europa war also wie sein Vorgänger lange nötig und stellt ein Stück konkrete, handfeste Gewerkschaftsarbeit dar. Es ist wichtig, dem weit verbreiteten, nebulösen Gerede von den "Heuschrecken" Studien gegenüberzustellen, die konkret belegen, wie Handelsunternehmen aus der Überausbeutung ihrer Mitarbeiter strategische Vorteile im Kampf um Marktanteile ziehen.
Haarig wird die Argumentation des Schwarzbuchs immer dann, wenn suggeriert wird, Lidl müsse nur irgendwie netter sein, und die Welt wäre wieder in Ordnung. Manchmal wirkt der Text wie ein Appell zur Mäßigung an die Adresse der Lidl-Verantwortlichen, als seien die unhaltbaren Zustände in vielen europäischen Lidl-Filialen das Ergebnis einer besonderen Bösartigkeit speziell des Lidl-Managements.
Wenn empört vermerkt wird, dass bei Lidl "Produktivität um jeden Preis" das Thema sei, dann könnte man den Autoren entgegnen: Genau, so geht nämlich Kapitalismus. Es mag wohl sein, dass Lidl im Moment bestimmte Strategien der Überausbeutung besonders aggressiv verfolgt, weil man sich nun einmal in den Kopf gesetzt hat, bei den großen Einzelhändlern in Europa mitzumischen und daher eine Aufholjagd inszeniert.
Grundsätzlich sind solche Strategien im Konkurrenzkampf der Giganten immer drin, und während das Schwarzbuch in der Einleitung noch bestreitet, dass sie dem System der Konkurrenz selbst geschuldet sind, wird im Haupttext immer wieder belegt, dass die Standards bei anderen Discountern nicht wesentlich höher liegen und im Handumdrehen noch weiter sinken, wenn Lidl angreift.
Ob bei Lidl oder anderswo: Wenn die Mitarbeiter bessere Bedingungen wollen, dann müssen sie dafür kämpfen, durch Organisation, Vernetzung im Internet, Streiks und Arbeitsgerichtsprozesse. Moralische Appelle an die soziale und ökologische Verantwortung des Unternehmens kann man sich sparen. Mit so etwas geht Lidl souverän um, indem ein paar "fair gehandelte" Produkte in den Regale auftauchen und ein bisschen Geld für die "Wirtschaftsethik" abfällt.
Trotz alledem: Wer wissen will, wie es im Discount-Einzelhandel in Europa aussieht, für den ist das "Schwarzbuch Lidl Europa" ein guter Einstieg.