Migrationskrise im Baltikum: Die Methode Erdogan macht Schule
Weiterhin zahlreiche Grenzübertritte von Belarus nach Litauen: Flüchtende und Migranten als Spielball in einem hochgefährlichen Machtpoker
Der Trend, dass immer mehr Flüchtende und Migranten über die Grenze von Belarus nach Litauen ihren Weg in die EU finden, hält an. Mehr als 4.000 Menschen, vor allem aus dem Nahen und Mittleren Osten, sind über diese Route seit Jahresbeginn gekommen. Zwei Drittel der Zuwanderer kommen aus dem Irak, einige sind aus Afrika oder Afghanistan geflüchtet - und nach Auskunft des litauischen Außenministers Mantas Adomenas gegenüber dem Radiosender Echo Moskwy sind sogar russische Staatsbürger unter den Neuankömmlingen.
Litauen reagiert auf den neuen Zustrom aus Belarus vor allem mit Härte gegenüber den Ankommenden - etwa mit dem Versuch schneller Abschiebungen. Laut der Moskauer Zeitung Nesawisimaja Gaseta ist auch die Verhängung des Ausnahmezustands im litauisch-belorussischen Grenzgebiet möglich, um bei der Grenzwacht die Armee einsetzen zu können. Die Zeitung schreibt, dass der Grenzschutz weitere 2.000 Migranten in einem belarussischen Grenzort beobachtet habe, die sich schon auf den Übertritt nach Litauen vorbereiten.
Dementis aus Minsk wird wenig Glauben geschenkt
Die belorussische Regierung von Alexander Lukaschenko in Minsk bestreitet, aktiv Migranten in die EU einzuschleusen - man hindere sie nur nicht mehr an der Weiterreise dorthin. Diese Angaben werden auch im befreundeten Russland in Zweifel gezogen. Die Zeitung Kommersant bezeichnet die Linienflüge zwischen Bagdad und Minsk als Hauptquelle der Migrationsströme an der Grenze, was auch den hohen Anteil irakischer Staatsbürger erklärt. Das Newsportal Delfi.ru schreibt von einer aktiven Begleitung der Migranten durch belorussische Grenzschützer bis an die Grenzlinie und präsentiert Videoaufnahmen, die das belegen sollen.
Die Nesawisimaja Gaseta bezeichnet die Migrationsbewegung in ihrem Bericht sogar als Lukaschenkos Rache am Westen. Der russische Politologe Walery Karbalewitsch glaubt an die Absicht der Minsker Regierung, den Westen zu Zugeständnissen bezüglich der aktuellen Sanktionen zu zwingen. Russland wiederum solle gezeigt werden, dass Belarus als Zugpferd vorauseilt, um den Westen aktiv zu bekämpfen. Ähnlich beurteilt die Lage sein Kollege Fjodor Lukjanow, Chefredakteur des Fachmagazins Russia in Global Affairs. Er hält im russischen Wirtschaftsmagazin Wsgljad den Zustrom für gezielt organisiert - als Mittel einer Vergeltung und Erpressung, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Flüchtlingskrise 2015 vorgemacht habe.
Litauen ist auf hohe Migrationszahlen nicht vorbereitet
Litauen gerät durch diesen Zustrom mehrfach in Bedrängnis. Das kleine Land ist nicht auf die Aufnahme einer vierstelligen Zahl von Menschen vorbereitet, kann sie aber in der Regel nirgendwohin weiterleiten. Es kam inzwischen auch zu ersten Protesten von Anwohnern der Orte, in denen sie untergebracht wurden. Der russische Außenpolitik-Experte Prof. Wadim Truchatschew hält knapp 6.000 Migranten für ausreichend, um in Litauen eine ernste politische Krise auszulösen.
Litauen sei betont national und habe keine Tradition der Einwanderung von Menschen aus einer anderen Kultur in die Gesellschaft. Rezepte für eine schnelle Reduktion der Zuwanderung sind wiederum rar. Ein angekündigter Grenzzaum wird schon aus Mangel an entsprechendem Material nicht vor Ablauf eines Jahres fertig werden. Eine Reise des litauischen Außenministers nach Bagdad erbrachte kein sichtbares Ergebnis - Die Fluggesellschaft Iraqi Airlines teilte laut Kommersant kurz darauf mit, dass die Anzahl der Flüge vom Irak nach Minsk verdoppelt werde.
Unterstützung anderer EU-Staaten gibt es etwa in Form einer Aufstockung der EU-Frontex-Grenzschutzeinheiten vor Ort auf 100 Personen, zweier Überwachungsdrohnen aus Estland oder auch humanitärer Hilfe aus der Slowakei. Lukjanow sieht diese Einzelaktionen als reine Gesichtswahrung, die Zahl der Grenzübertritte ist dadurch nicht gesunken. Das Interesse an der litauischen Situation sei nach seiner Einschätzung in Brüssel und den westeuropäischen Hauptstädten eher gering. Ähnliches gilt für hiesige Flüchtlingsschutzorganisationen wie ProAsyl, die die neue Ostroute in die EU und die, die sie nutzen, kaum im Blick haben.
Eskalationsgefahr bei Grenzkonflikten
Die Situation birgt in vielerlei Hinsicht weiteres Eskalationspotential zwischen der EU und Belarus. EU-Kommissar Jodep Borrell kündigte die Prüfung von Sanktionen gegen diejenigen an, die an der illegalen Migration nach Litauen beteiligt seien - eine Drohung gegen Minsk. Ob sich mit den vorliegenden Indizien eine regierungsgesteuerte Schleusertätigkeit gerichtsfest nachweisen lässt, ist unklar.
Die Nesawisimaja Gaseta sieht einen weiteren Konfliktherd in der litauischen Ankündigung, Migranten auch nach Belarus selbst direkt zurückzuschicken. Wenn sich Belarus hier widersetze, könnte das im schlimmsten Fall bis zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Grenztruppen führen. Die Geflüchteten werden hier zum Spielball in einem hochgefährlichen Machtpoker zwischen dem Westen und Belarus - die Zukunft ist wegen der weitgehend eingefrorenen Kommunikationskanäle nicht nur für sie ungewiss.