Milia '98
Big Business, die Hacker im Keller, das Netz im Fernsehen
Jubiläen sind eine feine Sache, besonders, wenn wir feststellen, daß aus einem kleinen Pflänzchen ein ansehnliches Bäumchen geworden ist. 5 Jahre ist sie nun jung, die Multimedia-Messe Milia, die jedes Jahr im Februar an der Côte d'Azur, im sonnenverwöhnten Cannes, stattfindet.
Um es vorweg zu nehmen: ihrem Ruf, die Mulitmedia-Messe schlechthin zu sein, ist die Milia 1998, die sich lang "The International Content Market for Interactive Media" nennt, mehr als gerecht geworden. Klar, die Zeit der großkotzigen Repräsentation und haltlosen Euphorie ist vorbei, also gewöhnen wir uns ans Arbeiten. Es gibt bekanntlich Schlimmeres im Leben. Das fällt, unter blauem Himmel und bei strahlendem Sonnenschein, nicht immer ganz leicht, doch wie keine andere Messe versteht es die Milia eben das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden.
Wie lange multimediale Umsetzungen dauern können, davon kann Douglas Adams, Kultautor der Bücher "Per Anhalter durch die Galaxis", ein Lied singen. Über zwei Jahre hat seine Londoner Firma gital Village gebraucht, um das Computer-Spiel Starship Titanic zu erarbeiten. 16 Stunden Dialog, mindestens 4 Spielroboter, unzählige Aufgaben und eine stählerne Ästhetik vereint die am 2. April erscheinende und auf der Milia erstmals zu begutachtende CD-Rom.
Über 1100 Aussteller aus 42 Ländern, mehr als 7300 Fachbesucher aus 53 Ländern und fast 1000 Journalisten lockte die Milia '98 an. Geschickt verbindet der Veranstalter Reed Midem seit Jahren das Messegeschehen mit Vorträgen, Konferenzen, Round-Table-Gesprächen, Presse-Konferenzen und Preisverleihungen ("Milia d'Or") - eine umfangreiche, gutgepflegte Kommunikations- und Kontaktbörse ist so im Lauf der Jahre entstanden. Das diesjährige Motto lautete: "Switch on Content - Plug in Business", wobei der eigentliche Fokus auf die Computerspiele-Industrie gelenkt werden sollte.
Wer sehenden Auges durch das Palais du Festival ging nahm das "Big Business" z.B. in Form von Sony Playstations, die überall herumstanden, genauso wahr, wie die geistige Elite von Morgen. Dazu gehörte der stets gut besuchte "New Talent Pavilion", wo junge AutorInnen, KünstlerInnen und Computer-Begeisterte ihre multimedialen Werke präsentieren. Die Entdeckungen des Jahres kamen für uns aus Japan: Tota Hasegawa, Student am Royal College of Art in London und heute bei Sony, Tokyo, sowie Hiroshi Okamura von der Nippon University landeten bei uns ganz oben. Tota zeigte mit seiner CD-Rom "Mircophone Fiend" (Mikrophonsüchtiger), wie Computer-Objekte mit Hilfe eines Mikrophons und dem menschlichen Atem gesteuert werden können. Ein Drache, der entsprechend dem menschlichen Gepuste durchs Mikrophon Feuer spuckt, eine rasende Autofahrt durchs Gelände, das Sichtbarmachen von Bildern, vergleichbar dem Enteisen von Autoscheiben, das Verschwinden von Nudeln auf einem Teller - alles reguliert über die Puste. Nicht weniger beeindruckend ist Hiroshi's buntes "Bausteine Werkzeug" mit dem lustigen Namen "Poporon". In x-Farben und -Formen lassen sich hier auf dem Computerbildschirm Objekte zusammenbauen, -flechten oder -stecken, ganz ähnlich dem Lego-Prinzip im richtigen Leben. Natürlich dreidimensional, mit witzigen Sounds unterlegt und in den schönsten Bonbonfarben dieser Welt.
Das online-basierte Spiel gibt es auch auf CD-Rom bei der japanischen Galerie Digitalogue. An deren Stand war perfekte Einfachkeit in der Anwendung mit verblüffenden Ergebnissen zu bewundern. "Reactive Books" heißt das CD-Rom-Projekt des jungen MIT-Professors John Maeda, das Digitalogue verlegerisch betreut. Maeda geht es, wie er selbst sagt, um "die Überbrückung der Kluft zwischen Vor- und Nach-Computer-Designern". So wird beispielsweise auf seiner CD-Rom "Flying Letters" den Buchstaben durch die Handbewegung des Bedieners "Leben eingehaucht". Der kleine Stand von Digitalogue wurde, zum Erstaunen vieler großer Aussteller, geradezu von Menschen belagert.
Ein neues, gemeinsam von der Milia und France Telecom initiiertes Projekt, die Hacker im Keller, mit dem Titel "Servo 98" ist schon alleine für sein Idee zu loben: Der "Cyber-Elite" von heute eine Brücke zum "Big Business" zu bauen. 4 Tage lang arbeiteten im Untergeschoß des Palais ca. 100 junge Menschen an den besten digitalen Anwendungen in 5 Kategorien. Wenn es nächstes Jahr noch gelingt, den Teams "Übersetzer" für die durchaus geneigten Betrachter mitzugeben, könnte "Servo" genau die Mittlerfunktion übernehmen, die es beabsichtigt. Wie sehr wir alle bei der Beurteilung von "Neuen Medien" immer noch von der äußeren Form abhängig sind, offenbarte ein als Getränkeautomat getarnter Computer. Die mannshohe Maschine mit festinstallierter Tastatur und eingebautem Bildschirm dient zum Surfen im Netz gegen Bargeld oder Kreditkarte. Wie ein Computer sieht das Ganze allerdings nicht mehr aus. Wohl dem, der auf so einfache Lösungen kommt, um die Menschen an Digitalität heranzuführen.
Besonders auffällig war das weitere Zusammenwachsen von Computer, Netz, Fernsehen, Datenbank, CD-Rom bzw. DVD und Satellit. Bei Loewe durften wir erstmals auf einem Fernsehbildschirm im Netz surfen und gleichzeitig TV sehen. Xelos@media nennt sich das Gerät, zu dem eine Infrarot-Fernbedienung und -Tastatur gehört (mit PC ab DM 4500,-). Passend dazu hat Loewe New Media, übrigens ein Gemeinschaftsunternehmen der Kirch Gruppe und Loewe, gleich ein Redaktions-, ein Kiosk- und ein Channel-System entwickelt! Die nun zu Intel gehörende sympathische Schweizer Firma Fantastic und Eutelsat stellten die erweiterten Möglichkeiten vor, via Satellit ins Netz einzutauchen, und NetGem führte seine NetBox, eine Set-Top Box für den Internetempfang im Fernsehen, vor. Wie weit die Verflechtung von TV und Netz schon geht machte Infomedia deutlich. Das Luxemburger Unternehmen pflegte eine über das Internet zu erreichende Datenbank über den gesamten Inhalt von 300 TV-Stationen aus aller Welt - natürlich auch im Fernsehen zu empfangen, falls wir entsprechend ausgestattet sind.
Einer der wenigen deutschen Aussteller, Ravensburger Interactive Media, hat übrigens in der Kategorie "Lifestyle & Hobby-Titel" für seine CD-Rom "Moving Puzzle" den Multimediapreis "Milia d'Or" gewonnen. Das Prinzip ist einfach: Ein laufendes Video wird in 12-30 Quadrate verschnitten, die Einzelteile werden verdreht und vertauscht - und muß es wieder zusammengesetzt werden.