Militärhilfe und humanitäre Hilfe: Ein Land steht im Mittelpunkt
Die UN und privaten Hilfsorganisationen beklagen Rekorddefizit bei der humanitären Hilfe für ärmere Länder – außer bei der Ukraine
Die gegenwärtig starke Konzentration der Unterstützung des Westens auf die Ukraine hat ihren Preis. Nicht nur wegen der Kosten der Ukrainehilfe oder die Folgen der Sanktionen gegen Russland, sondern auch hinsichtlich Gelder, die Hilfsorganisationen brauchen, um Menschen in armen Ländern zu helfen, die nicht im Fokus der politischen Interessen, der Berichterstattung und der Diskussionen stehen.
Geld für Programme zur Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung sei "relativ reichlich vorhanden". Für die Menschen in den meisten anderen Teilen der Welt sei das aber nicht der Fall, so resümiert die New York Times eine Zwischenbilanz von UN-Hilfsorganisationen und privaten Helfern zur Situation der humanitären Hilfe.
Die UN stehe vor einem Rekorddefizit bei der humanitären Hilfe, berichtet die Zeitung, "aber nicht für die Ukrainer".
Der überwiegende Teil der Hilfe kommt von einer Handvoll Gebern - den Vereinigten Staaten, der Europäischen Union, einigen einzelnen europäischen Ländern, Japan und Kanada. Die Geber können es den Vereinten Nationen überlassen, wohin sie die Gelder leiten, aber der größte Teil der Gelder ist für bestimmte Programme und Länder bestimmt.
New York Times
UN-Generalsekretär Guterres rief kürzlich die wohlhabenderen Länder auf, ihre Herzen und Geldbeutel zu öffnen. Die von der UN und der Türkei vermittelten Getreideexporte aus der Ukraine sollen Ländern zugute kommen, denen die Mittel dafür fehlen.
Es ist Zeit für eine massive und großzügige Unterstützung, damit die Entwicklungsländer die Nahrungsmittel aus diesem und anderen Häfen kaufen können - und die Menschen sie kaufen können. Die Entwicklungsländer brauchen jetzt Zugang zu Finanzmitteln. Sie brauchen jetzt einen Schuldenerlass. Sie brauchen jetzt Mittel, um in ihre Bevölkerung zu investieren.
António Guterres
Der Appell, den Entwicklungsländern zu helfen, hat es im Augenblick schwer, auf die Resonanz zu treffen, die sich Hilfsorganisationen wünschen. Es hat den Anschein, als ob die westlichen Länder, die doch für das Gute stehen wollen und die die regelbasierte Ordnung zu ihren Gunsten verteidigen, ihre Geldbörsen lieber dann öffnen, wenn es um geostrategische Interessen geht. Dort, wo der Westen nicht (mehr) verteidigt wird, hält man sich zurück.
2022 wurden bislang für humanitäre Hilfe an die Vereinten Nationen nur 30 Prozent der 48,7 Milliarden Dollar gezahlt, um mehr als 200 Millionen Menschen in Not zu helfen, eigentlich wären es über 300 Millionen.
Die derzeitige Ausrichtung unter den reichen Gebern, den USA, der EU, Großbritannien oder Deutschland, auf ein einziges Land hat drastische Folgen für andere Länder.
Für Haiti wurden nur 11 Prozent der erforderlichen Hilfe gezahlt, für El Salvador 12 Prozent, für Burundi 14 Prozent oder für Myanmar 17 Prozent. Für die größten humanitären Krisen in Syrien, Afghanistan, Jemen und Äthiopien wird mehr Geld zur Verfügung gestellt, aber mit Ausnahme von Somalia viel weniger als für die Ukraine. "Das ist die größte Finanzierungslücke, die wir je gesehen haben", sagte Martin Griffiths, Leiter des Büros der Vereinten Nationen für humanitäre Hilfe und Nothilfe, gegenüber der New York Times.
Sechs Millionen Ukrainer halten sich in europäischen Ländern auf, über 6,5 Millionen sind Binnenflüchtlinge. Könnte es sein, dass Geld auch deswegen bereitwilliger fließt, weil die Ukrainer weiß und christlich sind, weswegen ukrainische Flüchtlinge auch offener aufgenommen werden, als wenn sie aus Afrika oder dem Nahen Osten kommen? Dort sind uns Kriege, die uns nicht direkt berühren, eher egal, die Opfer auch, die nicht so viel zählen wie diejenigen, die uns näher sind.
Der Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass in dem Land nach OCHA fast 18 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe und Schutz angewiesen sind, im April waren es 15 Millionen. Die UN-Hilfsorganisation hat daher ihren Mittelbedarf bis Ende des Jahres von 2,25 Milliarden Dollar zu Beginn des Krieges auf 4,5 Milliarden erhöht, wovon 57 Prozent bereits finanziert sind. 6,3 Millionen Menschen sollen Bargeld für notwendige Einkäufe erhalten, bislang waren es 2,3 Millionen.
Im Jemen sind 42 Prozent der angeforderten Mittel für die Hilfe von 23 Millionen Menschen finanziert, in Afghanistan sind von den erforderlichen 4,4 Milliarden Dollar für 24 Millionen Menschen 41,8 Prozent finanziert.
Aber für viele Länder ist die Zahlungsbereitschaft weitaus geringer. Beispiel Venezuela: Hier sind von den 800 Millionen Dollar für 8 Millionen Menschen in Not gerade einmal 13 Prozent finanziert. Für Syrien sind nur 24 Prozent der erforderlichen 4,4 Milliarden für über 14 Millionen Menschen finanziert, in Äthiopien sind es 33 Prozent, im Irak 32 Prozent.
Zur Hilfe von über 100 Millionen Flüchtlingen weltweit sind nach der UNHCR, der Flüchtlingsbehörde der Vereinten Nationen, 10,7 Milliarden Dollar notwendig, finanziert sind nur 45 Prozent davon.
An direkten Hilfen, militärische Hilfe eingeschlossen, an die Ukraine kommen zum Vergleich nach dem Ukraine Support Tracker des Kiel Institut für Weltwirtschaft – warum gibt es für andere Kriege, Krisen, Katastrophen nicht auch solche Tracker? – aus den USA 44,2 Milliarden, davon 25 Milliarden Militärhilfe. Die EU gab 16,2 Milliarden, inklusive 2,5 Milliarden für Waffenhilfe, Großbritannien 6,5 Milliarden, davon 4 Milliarden an Waffenhilfe, und Deutschland an vierter Stelle 3,2 Milliarden, davon 1,2 Milliarden an Waffenhilfe.
Aktuell hat Bundeskanzler Scholz schnell noch mal laut Tagesschau 500 Millionen Euro an Waffenhilfe für die Ukraine nachgelegt. Dazu kommt ein "Ringtausch" mit der Slowakei, die 30 Schützenpanzer sowjetischer Bauart der Ukraine übergibt und 15 deutsche Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 A4 erhält. Die größten Lieferungen wurden von der US-Regierung versprochen. (Ukraine-Krieg: Weitere Waffenlieferungen aus dem Westen).
Der Text erscheint in Kooperation mit dem Overton-Magazin.