Minima Moralia

Recht und Moral in der Dissensgesellschaft - Kapitel 3

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Kapitel 2: Hypergut "Gerechtigkeit"

Kannibalismus hat verschiedene Ursachen. Seine vorzügliche Eignung für Moralphilosophen ist unstreitig. Dieses erörterungsbedürftige Phänomen bewegt sich zwischen Sitte, Sexuallust und Überlebenswillen.

Herodot (484-420 v. Chr.) erzählt die Geschichte des Königs Darius, der Griechen befragte, wieviel Geld er ihnen geben müsse, damit sie ihre Toten essen und nicht bestatten. Offensichtlich war diese Moralüberwindung nicht käuflich zu erwerben. Dann soll der König die Kallatier aus Indien mit der Frage konfrontiert haben, ob sie für Geld bereit wären, ihre Toten zu verbrennen. Diese Vorstellung soll großen Schrecken ausgelöst haben, weil Tote doch zu verzehren seien. Herodot begründete damit die folgenreiche Theorie des Moralrelativismus.

Der Kannibale von Rotenburg, der von seinem Opfer angeblich gebeten wurde, sein Geschlechtsteil zu verzehren, wurde für den Moralrelativismus der etwas anderen Art wegen Mordes verurteilt. Zum Prüfstein moralischer Aporien wurde ein anderer Fall: Der Kabinenjunge Richard Parker wird am 23. oder 24. Juli 1884 von drei älteren Mitgliedern einer havarierten Schiffscrew gegessen. Seit drei Wochen trieben die Seeleute auf dem Meer und töteten schließlich Parker, der bereits sehr geschwächt war, um dem Hungertod zu entkommen. Not hat kein Gebot - necessitas non habet legem?

Der Fall erinnert an das berühmte Brett des Karneades: Zwei Schiffsbrüchige stoßen auf ein im Meer treibendes Brett, dessen moralphilosophische Eignung darin besteht, dass nur ein Mensch davongetragen würde. A erschlägt B, um sein Überleben zu sichern. In Deutschland wird das als entschuldigender Notstand angesehen, während zahlreiche Philosophen und Poeten Erzählungen von Schuld und Schicksal um dieses moralische Exemplum binden.

Bemerkenswert bleibt die Überlegung Immanuel Kants, dass die Abwägung zwischen dem möglichen richterlichen Diktum der Todesstrafe für den Überlebenden nicht schrecklicher ist, als die Vorstellung zu ertrinken. So denken Pragmatiker, was im Fall von Theoretikern der formalen Vernunft nicht zwingend zu erwarten ist. Hätte das Gericht diese Abwägung genauer betrachtet, wäre zu ermitteln gewesen, dass in existenziellen Situationen, die schlechte Folgen mit noch schlechteren in das Verhältnis setzen, eine korrektive Gerechtigkeit regelmäßig zu spät kommt.

Kannibalismus auf hoher See ereignete sich im 19. Jahrhundert häufiger. Das juristische Nachspiel ("Regina versus Dudley and Stephens") und die bis heute ungebrochene Moraldiskussion unterscheiden diesen Fall von anderen Fällen. Es gab einen gewichtigen Unterschied zur üblichen und zulässigen Vorgehensweise in Gefahr und größer Not: Die Angeklagten hatten nicht das klassische Losverfahren eingesetzt, was kaum juristische Konfusionen ausgelöst hätte. Kapitän Thomas Dudley hatte dem kranken Crewmitglied Parker das Messer an die Kehle gesetzt und ihn getötet. Er ließ sich also von Nutzenerwägungen leiten, dass ein Todkranker ohnehin nicht überleben würde. Dudley und Stephens wurden wegen dieser utilitaristischen Behandlung einer existenziellen Situation zum Tode verurteilt.

Das Problem zeichnete sich schon vor der Entscheidungsfindung klar ab. Die beiden Täter waren von ihrer völligen Unschuld respektive Rechtfertigung ihres Tuns überzeugt. Vor allem aber feierte die Öffentlichkeit die beiden als Helden und vermochte hier keinen Grund zu finden, eine Strafe auszusprechen. Die Justiz steckte gegenüber der öffentlichen Moral zurück. Die Verurteilten wurden zu sechs Monaten Haft begnadigt - was sie im Übrigen auch nicht für akzeptabel hielten. Welche Moral ziehen wir aus dieser Geschichte?

Das Losverfahren ist eine Freizeichnung von der potenziellen Schuld, die jeder Entscheidung innewohnt. Die Entscheidung wird dem Schicksal oder der Vorsehung überlassen. Die gezielte Tötung eines Crewmitglieds erscheint dagegen als Instrumentalisierung eines Menschen als Nahrungsmittel. In dieser Handlung wird der Nutzen bestimmend. In diesen Nutzen wird die Abwägung integriert, dass das eigene Leben einen höheren Wert darstellt als das fremde, zumindest wenn Harmonisierungen mit weniger weitreichenden Folgen undenkbar sind. Hätten die drei überlebenden Seeleute sich gegen den Eingriff entschieden, wäre im Blick auf den kranken Jungen der Verlauf nicht unwahrscheinlich gewesen, dass keiner überlebt.

Als sich im Herbst 2007 in Deutschland diverse, recht spektakuläre Fälle von Kindesverwahrlosung ereignen, kommt es zu politischen Initiativen, Rechte von Kindern in das Grundgesetz aufzunehmen. Das "Kindeswohl" ist durch eine Reihe von Regelungen geschützt, sodass weitere Regelungen scheinbar keinen Regelungsneugewinn mit sich bringen.

Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft

heißt es expressis verbis in Art. 6 Abs. 2 des GG. Sind Kinder trotzdem bloße "Regelungsgegenstände" elterlicher Verantwortung und nicht autonome Träger von Rechten, wie es novellierungsfreudige Juristen behaupten. Appelle, die wiederum ihre normative Kraft bei der Auslegung von einfachgesetzlichen Regeln entwickeln, sind in Verfassungstexten der eigentliche Regelungsgewinn. Weit reichen diese Appelle oft genug nicht. Artikel 20a des Grundgesetzes lautet:

Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung.

In Deutschland wurden im Jahr rund 45 Millionen männliche Küken getötet. Die Tendenz ist steigend. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen wollte das im Erlasswege untersagen. Das Oberverwaltungsgericht Münster erkannte in diesen Massentötungen keinen Verstoß gegen das Tierschutzgesetz. In der Abwägung seien ethische Gesichtspunkte des Tierschutzes und menschliche Nutzungsinteressen zu berücksichtigen, ohne dass einem der Belange ein strikter Vorrang einzuräumen sei. Die Versorgung der Bevölkerung mit Eiern und Fleisch sei nur durch die Tötung wirtschaftlich zu gestalten, da die Aufzucht männlicher Küken für die Betriebe mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden sei.1

Dieser Konflikt wird in dieser Entscheidung nicht sein letztes Wort finden. Wird die Abwägung anders entschieden, wird das - wenn die wirtschaftlichen Voraussetzungen tatsächlich so bestehen - auf eine Gesellschaft hinauslaufen, die sich eine fundamental andere Moral der Ernährung leisten muss. Um die moralische Grundierung dieses Falles zu erkennen, ist ein zweiter Blick notwendig.

Tiertötungen zu Ernährungszwecken finden weltweit zahllos statt. Der Kükenfall birgt die Besonderheit, dass die getöteten Tiere selbst keinen Nutzen für den Menschen abwerfen. Sollte die Kritik weniger einem moralischen Impuls folgen als dem Aspekt, dass diese Tiere "sinnlos" sterben? Fallspezifisch ist weiter der öffentliche Erregungstatbestand, dass Jungtiere "geschreddert" oder vergast werden. Die Verwerflichkeit dieser Tötungsweise wird durch das verheerende Bild der Verdinglichung einer Kreatur als Müll bestimmt.

Insofern verbirgt der diskursive Moralaufwand das auch von den Kritikern teilweise eingeräumte Nutzenargument. Die Kritik erscheint wenig konsequent, wenn sie sich nicht zu der allgemeinen Aussage aufschließt, dass Tiere auch aus vielen anderen Gründen nicht zu töten sind. Das Leiden von Rindern und Schweinen, wie es tagtäglich im Akkordtempo praktiziert wird, oder das von Tieren in der Pharmaforschung oder Pelzindustrie dürfte mit erheblich mehr Schmerzen verbunden sein, ohne dass der moralische Widerstand bisher zu erträglichen Zuständen geführt hätte.

Die Moraldetektor-Gesellschaft

In der Silvesternacht 2015/16 kommt es in Köln vor Dom und Hauptbahnhof zu kollektiven Angriffen gegen Frauen. Berichtet wird von einer großen Gruppe von Männern, die dort Frauen sexuell belästigten ("Taharrush gamea"), Körperverletzungen und Diebstähle begingen. Bei den Tätern soll es sich größtenteils um Männer aus dem nordafrikanischen bzw. arabischen Bereich handeln.

In der Folge wird eine politisch erregte Diskussion entfacht, die sich im Wesentlichen mit der Kollision von differenten Wertewelten befasst. Stammen diese Täter aus patriarchalischen Gesellschaften, in denen Frauen nicht als gleichwertige und gleichberechtigte Menschen gelten? Werden westliche Standards moralischer und normativer Gleichstellung unterlaufen? Relative Einigkeit besteht, dass Gesellschaften nicht warten wollen, bis inkompatible Werte in späteren Generationen harmonisiert werden. Das Beispiel belegt vor allem, wie die Trias aus Moral, Politik und Recht in eine Dynamik gerät, die gesellschaftliches Handeln forciert.

Aus der Perspektive der Täter könnte ihr Verhalten moralisch weniger verwerflich erscheinen, weil es sich "nur" um Frauen handelte, die zudem unverhüllt, jenseits islamischer Kleiderordnungen, sich offen Männer zeigten. Aus der westlichen Perspektive ist die Vorstellung, dass Frauen sexuell belästigt werden, weil sie in den Augen von Männern nicht dezent genug gekleidet sind, moralisch unerträglich.

Bereits im Juli 2016 wird ein Bundesgesetz verabschiedet, das diverse Verschärfungen des Sexualstrafrechts präsentiert. Die Novelle beschreibt sich in der Formel, die dem moralischen und politischen Meinungskampf Rechnung trägt: "Nein heißt Nein." Wie unmittelbar die Übersetzungen von gesellschaftlichen Meinungsbildern und Stimmungen in die normative Praxis ist, belegt die Erweiterung von Ausweisungstatbeständen im Fall von sexuellen Straftatbeständen. Doch die Nachjustierungen gehen noch erheblich weiter in den Fällen von bisher gesellschaftlich ignorierten sexuellen Übergriffen mächtiger Männer in Politik, Wirtschaft und Medien.

Tarana Burke, die Erfinderin von "MeToo" macht indes klar: "Es geht definitiv nicht darum, mächtige Männer abzuschießen." "Restorative Justice" will mehr als Kompensation oder Vergeltung sein. Es gehe um Strukturänderungen, die auch die Täter in den Versuch einzubeziehen, aus dem Teufelskreis der Gewalt herauszukommen. Solche wohlmeinenden Appelle scheitern daran, dass Täter in einem späteren Strafverfahren nicht an der strukturellen Aufarbeitung von Sachverhalten interessiert sind, sondern ausschließlich daran, das Strafmaß möglichst gering zu halten. Auch bei ärztlichen Kunstfehlern wurde gefordert, dass die Verursacher Fehler einräumen sollen, um solche Sachverhalte besser erfassen zu können. Das wäre aber nur dann ein "Inzentiv", wenn diese Kooperation nicht im anschließenden Straf- oder Zivilverfahren als folgenschweres Geständnis gewertet würde.

Erfolgreiche Moraldiskurse sind idealtypisch Laborsituationen für zukünftige Gesetze und geben Auskunft über die legitimatorische Grundlage einer Regelung. Wenn eine MeinungsführerInnenschaft Frauen Recht gibt, dass ihr Bauch ihnen gehört, wird das die Liberalisierung von "Abtreibungsparagrafen" forcieren. Gesellschaften erleben solche Auseinandersetzungen als Diskurs, der mehr oder weniger kämpferisch verläuft und so erscheint, als würden hier Argumente von unterschiedlicher Bedeutung ausgetauscht, bis schließlich Wahrheit und Richtigkeit in einem unhintergehbaren Normbefehl legiert werden.

Gegenüber diesen idealen Verschränkungen von reiner und praktischer Vernunft ist es vorzugswürdig, Ideengeschichte als Infektionsgeschichte zu behandeln. Die epidemische Ansteckungsgefahr durch Rechtspositionen erweist sich historisch in vielen Fällen, die der historische Materialismus vom Sklavenaufstand des Spartakus über die Bauernaufstände und französische Revolution bis zu den modernen Arbeiterkämpfen und Frauenstreiks penibel aufgelistet hat.

Die "Zwölf Artikel von Memmingen" ("dass wir frei sind und sein wollen") aus dem Jahre 1525 müssen als erste Menschenrechts-Charta gelesen werden, die mit dem Freiheitsanspruch zahlreiche Forderungen verbindet, die Willkür gegenüber den Bauern zu beenden. Dieser Forderungskatalog besaß eine agitatorische Dimension, die nie mehr in Vergessenheit geriet. Wer Rechtsverletzungen reklamiert, die von Gruppeninteressen getragen werden können, kann Massenbewegungen auslösen. Kollektive Identitäten, die sich gegen den Staat formieren, waren regelmäßig der archimedische Punkt der Rechtsentwicklung. Karl Kautsky machte klar, dass es an Gefolgsleuten nicht mangelt: "Wo es Lohnarbeiter gibt, gibt es auch Streiks."

Wenn Ethikkommissionen heute erkennen, dass gewisse Grenzen nicht überschritten werden dürfen, sind sie bereits überschritten. Insofern funktionieren solche Institutionen regelmäßig wie der staatliche Hase, der gefährdet ist, den moralischen Wettlauf mit dem Igel des Zeitgeists oder einer schwer kontrollierbaren Technik zu verlieren. Jeder Moraldiskurs transzendiert sich selbst, weil die Frage nach den "Limits of Morality" (Shelly Kagan) zu der produktiven Selbstverunsicherungsgeschichte der Moral gehört.

Das macht andererseits fundamentalistische Positionen strategisch plausibel, Diskussionen zu verweigern und den moralischen Gegner zur "persona non grata" zu erklären. Erregung ist ein gutes Gegenmittel gegen herrschaftsfreie Diskurse und ihre ungewissen Verlaufsformen. Moralische Positionen, die dem Sauerstoff des Gesprächs, dem Austausch von Gründen, ausgesetzt sind, oxidieren dagegen leicht.

Toleranz ist ein schleichendes Gift für jede Art von Fundamentalismus. Das übersehen häufig zum Krieg bereite Demokraten, die die insinuierende Kraft von Ideen gegenüber der "Brute force"-Politik von Terroristen und Fundamentalisten so sehr unterschätzen, dass mitunter der Verdacht aufkommen darf, der Neid auf die Mittelwahl könnte bestimmend sein.

Politiker übersetzen Stimmungen in Gesetzgebungsverfahren, was nicht per se unmoralisch ist, sondern eine zentrale Funktion der Politik anzeigt, moralische Mehrheiten unter mehr oder minder schonender Berücksichtigung von abweichenden Minderheiten zu artikulieren. Doch Erregungskurven, die in einer Mischung aus Halbwissen, nationalen Gesinnungen und mehr oder minder chaotischen Wertewelten steigen, beschädigen Demokratien.

Der "Brexit" zeigt folgenschwer, dass die Komplexitätsreduktion der griffigen Argumente Wählermassen mobilisiert, die ihre eigenen Interessen dahinter vergessen. Die Diskursgesellschaft, die schließlich das bessere Argument für alle einsehbar macht, bleibt in solchen fundamentalen Fragen eine fromme Fiktion.