Miss Real geht nach Washington
Gesetzesvorhaben des neugewählten amerikanischen Kongresses
Nachdem sich die amerikanische Legislative in den letzten acht Jahren durch eine nicht unbedingt internetfreundliche Gesetzgebung auch international einen Namen machte, stehen für den im November neu gewählten 107. Kongress eine Reihe von weiteren internetrelevanten Gesetzgebungsvorhaben an.
Der Kongress besteht aus zwei Kammern: dem Senat, in den aus jedem Bundesstaat zwei Vertreter entsandt werden, und dem Repräsentantenhaus, in dem eine an der Bevölkerungszahl orientierte Zahl von Politikern aus den Bundesstaaten tagt.
Das Patt im Senat (das allerdings durch die Stimme des Vizepräsidenten aufgehoben werden kann) und die relativ knappe republikanische Mehrheit im Repräsentantenhaus geben Anlass zur Hoffnung, dass die Bevölkerung - ähnlich wie im 106. Kongress - zum Teil durch eine gegenseitige Blockade der Parteien vor schädlichen Gesetzen geschützt ist. Obwohl Unterschiede weniger zwischen demokratischen und republikanischen Politikern bestehen, als vielmehr darin, wer welchem Unternehmen seine Karriere zu verdanken hat und dementsprechend entscheidet. So kandidierte z.B. im Bundesstaat Washington Slade Gorton (Microsoft) gegen die mit Insider-Aktiengeschäften reich gewordene Maria Cantwell (Real).
In der 107. Legislaturperiode, die am 3. Januar begann, stehen unter anderem Gesetzgebungsvorhaben zum Schutz der Privatsphäre und zum Copyright an.
Zum Schutz der Privatsphäre wird ein Gesetz erwartet, dass den Handel mit personenbezogenen Finanzdaten wie Kreditkartennummern oder der Kreditgeschichte regelt. Der Handel mit personenbezogenen Daten hat vor allem in den letzten 10 Jahren ein erhebliches Potential zur Einschränkung der Privatsphäre entwickelt. Kein "großer Bruder" Staat, sondern ein Netzwerk vieler "kleiner Brüder", vom Supermarkt über die Bank bis zur Tankstelle, schufen den "gläsernen Konsumenten."
Hinzu kam der Verkauf von Behördendaten zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben. Ende der 1980er Jahre wurde dem FBI noch der vollständige Zugriff auf öffentliche Datenbanken verweigert. Mittlerweile haben Behörden wegen der Kürzung ihrer Mittel jedoch derart viele Datenpakete verkauft, dass solch ein Anliegen gar nicht mehr beantragt werden muss. Die Daten können einfach zusammengekauft werden.
Die US-Handelskammer, die den Standpunkt vertritt, dass die betroffenen Firmen sich selbst ausreichende Standards für den Schutz personenbezogener Daten gesetzt hätten, verhinderte bisher wirksame Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre. Gesetze und Gesetzentwürfe zur Sicherung der Privatsphäre bieten solch enorm große Schlupflöcher für den organisierten Datenhandel, dass sie weitgehend wirkungslos sind. Besonders zynisch war der republikanische Senator Greg Judd aus New Hampshire, der ein Gesetz zugunsten des Handels mit Daten nach einer jungen Frau aus seinem Heimatstaat nennen wollte, die von einem Mann getötet wurde, der sich ihre Daten von einem Online-Datenhändler besorgt hatte. Einzige positive Ausnahme waren die Ergänzungen zum Driver's Privacy Protection Act (DPPA), eingebracht vom republikanischen Senator Richard Shelby, die den Bundesstaaten verbieten, den Inhalt ihrer Datenbanken ohne ausdrückliche Zustimmung der betroffenen Individuen zu verkaufen.
Auch eine erneute Verschärfung der Copyright-Gesetze ist zu erwarten. Trotz der zahlreichen Ausweitungen des Copyrights in den letzten acht Jahren arbeiten Film- und Musikkonzerne auf einen noch weiter gehenden Schutz ihrer Investitionen hin. Die unter dem unverdächtigen Titel "Public Safety Medal of Valor" eingebrachten erheblichen Verschärfungen der Gesetze gegen Computerkriminalität lassen interessante Tarnnamen für die zu erwartenden Gesetze vermuten: Wird eine Copyright-Verschärfung in einem Gesetz versteckt, das die Mindestanforderungen für staatlich anerkannte Bienenzüchtervereine regelt?
Die Legitimität des Kongresses und der Politik überhaupt litt in den 1990er Jahren zunehmend unter Gesetzesvorhaben wie dem Communications Decency Act (CDA), dem Digital Millennium Copyright Act (DMCA) und dem Sonny Bono Copyright Term Extension Act. Die Situation glich immer mehr dem Szenario aus Frank Capras Filmklassiker Mr. Smith Goes to Washington - allerdings ohne Jimmy Stewart.
Nachdem 1994 die Republikaner unter Führung von Newt Gingrich mit einer explizit gegen das politische Establishment gerichteten Rhetorik einen Erdrutschsieg erringen konnten, wurde sich die Bevölkerung im Laufe der folgenden Sitzungsperioden ernüchtert bewusst, dass sich die gewählten Rebellen in ihren Taten kaum von den abgewählten Berufspolitikern unterschieden.
Beliebteste Argumente des amerikanischen Kongresses für die Notwendigkeit von Gesetzen zur Einschränkung von verfassungsmäßig garantierten Rechten im Internet waren der internationale Terrorismus und die Kinderpornographie.
Der Verwerflichkeit von Kinderpornographie widerspricht kaum jemand - was sie zum perfekten Instrument zur Erlangung von Kontrolle über ein neues Medium macht. In den Jahren 1995-97 erreichte die Debatte um Kinderpornographie im Internet und damit auch die Zensurforderungen von außerhalb des Internets ihren Höhepunkt. Das Medium wurde weniger als Träger schon vorher vorhandener illegaler Pornographie denn als Verursacher des Übels gebrandmarkt. Auf die Verhältnismäßigkeit wurde dabei keine Rücksicht genommen: In Familien kommen weitaus mehr Fälle von sexuellem Missbrauch vor als im Internet1 - trotzdem wollte niemand Familienwohnungen mit Überwachungskameras ausstatten. Gesetzentwürfe wie der des amerikanischen Politikers Hatch inkriminierten schlichtweg jede Form der Darstellung verbotener sexueller Handlungen - nach dem Hatch-Entwurf wäre auch das Reden über Kinderpornographie strafbar gewesen. Durch den Telecommunications Reform Act von 1996, der einen Communications Decency Act (CDA) zur Zensur des Internets enthielt, wurde das Internet auf einen Schlag von einer größtenteils unregulierten Form der Kommunikation formal zu einem der am meisten durch Zensur regulierten Kommunikationsbereiche (Vgl. Richard Barbrook, Hypermedia Freedom Der CDA kriminalisierte alle im Internet verfügbaren Daten mit "anstößigem" Inhalt ohne Rücksicht auf Klassiker der Literatur und wissenschaftliche oder medizinische Forschung.2 Der Katalog der Kongressbibliothek, in der Bill Clinton die Telecommunications Bill unterzeichnete, war nun ein Verstoß gegen Bundesrecht, da die Bibliothek keine Kindersicherung für den Online-Abruf hatte. Eine Woche nach Unterzeichnung des CDA verbot der von George Bush senior ernannte konservative Richter Ronald Buckwalter Anklagen unter dem CDA bis zur Entscheidung über dessen Verfassungsmäßigkeit. Am 26 Juni 1997 erklärte schließlich der Oberste Gerichtshof der USA das Gesetz wegen Verstoßes gegen die im Ersten Verfassungszusatz geschützte Redefreiheit für verfassungswidrig.
Nicht nur der CDA, auch andere übereilt beschlossenen Gesetze, wie der 1998 verabschiedete Child Online Protection Act (COPA), wurden von Gerichten wegen Verfassungsverstößen wieder aufgehoben (Vgl. US-Jugendschutzgesetz als verfassungswidrig abgelehnt").
Ein anderer Teil schädlicher Gesetze ging auf die Lobbyarbeit der Medienindustrie zurück. Der 1998 verabschiedete "Sonny Bono Copyright Term Extension Act" verlängerte die Laufzeit des Copyrights von Filmen bis mindestens 2019 - eine Maßnahme, deren öffentlicher Nutzen nur schwer zu begründen war. Hintergrund des auch als "Mickey Mouse Law" bezeichneten Gesetzes war die massive Einflussnahme des Disney-Konzerns, dessen beliebteste Figur nicht in die Public Domain fallen sollte.
Der 1998 verabschiedete DMCA macht unter anderem Internet Provider grundsätzlich verantwortlich für Copyrightverletzungen ihrer Kunden. Da viele Anbieter die Kosten eines Prozesses mit scheinbar finanzallmächtigen Konzernen scheuten, sperrten sie Webseiten, Benutzer oder Ports, auch wenn tatsächliche Rechtsverletzungen nicht vorlagen.
Noch im letzten Jahr leitete die USSC, die US Sentencing Commission, ein Paket mit von der Medienindustrie angeregten Richtlinien an den Kongress weiter. Darin wurden drakonische Strafen für die Benutzung des Internets zur Begehung von Straftaten gefordert. Die Initiative diente vor allem der Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen, durch die die Konzerne ihre Profite gefährdet sah (Vgl. The Register US urges stiffer penalties for net crimes). Doch die Arbeit von Bürgerrechtsorganisationen wie dem Center for Democracy and Technology und der American Civil Liberties Union machte den Erlass von Gesetzen, die mit einer erheblichen Einschränkung von Bürgerrechten verbunden waren, zu einer immer schwierigeren Aufgabe. Was tun, fragte sich da der 106. Kongress und entwarf kurz vor Jahresende noch ein Ehrenmedaillengesetz, in dem er, wie der Weihnachtsmann die Schokolade in den vor die Tür gestellten Schuhen, zwei Gesetze zur Bekämpfung der Computerkriminalität versteckte. Der US-Kongress ist im Gegensatz zu den meisten anderen Gesetzgebungsorganen nicht daran gebunden, dass Titel und Inhalt eines Gesetzes übereinstimmen. So wurden unter dem unverdächtigen Titel "Public Safety Medal of Valor" umstrittene Regelungen aus dem Internet Security Act of 2000 und dem Computer Crime Enforcement Act untergebracht. Den unvorbereiteten Computerbenutzer erwartet, sollte das Gesetz tatsächlich verabschiedet werden, eine unangenehme Überraschung: erheblich in Persönlichkeitsrechte eingreifende Regelungen über die Beschlagnahme von Computergeräten (Vgl. Trojanisches Gesetz gegen Computerkriminalität)
Ein beliebtes Trojanisches Instrument waren auch harmlos klingende Formulierungen wie die "administrative Vorladung unter Strafandrohung." Die "Vorladung" verpflichtet eine "Informationsaufsicht" (etwa einen Internet-Provider) zur Herausgabe von Daten ohne richterliche Anordnung und ohne Benachrichtigung des Betroffenen.
Andere anstehende Gesetzesvorhaben mit Internet-Bezug wurden vom 106. Kongress vertagt. Nur der Children's Internet Protection Act (CIPA) passierte beide Kammern und zwingt jetzt öffentliche Schulen und Bibliotheken zur Installation von Filtern, damit Amerikas Jugend vor schmutzigen Bildern geschützt wird. Nachdem George W. Bush den öffentlichen Schulen mit dem angekündigten Gutscheinsystem sowieso den Garaus zu machen droht, kein weiter wichtiges Gesetz.
Das negative Bild das 106. Kongresses kann einzig der Vergleich mit anderen politischen Organen etwas abschwächen. Der Kongress verhinderte nämlich die schlimmsten Exzesse anderer Regierungsorgane, wie das vom Justizministerium massiv geforderte Cyber-Hacking-Gesetz.
Clintons Justizministerin Janet Reno phantasierte in einer Weihnachtsbotschaft: "Das internationale Verbrechen nutzt die Profite aus Raubkopien, um unter anderem Waffen, Drogen, Pornographie und Terrorismus zu vergünstigen." Renos Lösungsvorschlag: schärfere Gesetze , die das Internet kontrollieren sollen (Vgl. The Register Clinton Admin goes out in a blaze of cyberterror). Sind Waffen- und Drogenhandel tatsächlich so wenig profitabel, dass sie der Subvention aus "Softwarepiraterie" bedürfen? Und kann der christliche Fundamentalist John Ashcroft, der als Justizminister im Kabinett George W. Bush feststeht und über den sich alle Welt beklagt, tatsächlich noch weltfremdere Vorstellungen hegen als Janet Reno?
Die gesamte Clinton-Administration wurde nicht müde, ständig neue Maßnahmen gegen Cyberkriminelle anzukündigen und (was wohl der schwierigere Teil war) diese zu rechtfertigen. So warnten Sicherheitsberater Richard Clark und der Direktor des National Infrastructure Protection Centre (NIPC), Michael Vatis, Ende letzten Jahres vor Neujahrscomputerattacken die "noch weit verheerender" sein sollten als die zur Jahreswende 1999/2000. Ebenso gut hätten sie sich auf die Vernichtung New Yorks durch Godzilla berufen können.
Das Justizministerium erhielt aufgrund solcher Warnungen besondere Mittel für das Fiskaljahr 2001: insgesamt 155 Millionen Dollar Steuergelder für das FBI und lokale Gesetzeshüter zum Extra-Kampf gegen das digitale Verbrechen. Vielleicht haben die Amerikaner George W. Bush und seine angekündigten Steuersenkungen für Superreiche ja weniger wegen des direkten Einflusses auf den eigenen Geldbeutel gewählt, als wegen der geringeren Menge an Unsinn, die mit entsprechend weniger Steuergeld finanziert werden kann.