Misstrauen gehört zur Emanzipation

Seite 2: Die Maschine unterrichtet Moral

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Tochter bekommt im Philosophieunterricht moralische Aufgaben etwa das bekannte "Trolley-Problem": Darf man einen einzelnen Menschen opfern, um eine höhere Zahl zu retten? Die Maschine unterrichtet Moral, und das hat die Folge, dass sich das menschliche Mädchen hier ein bisschen einer Maschine anpasst. Dass das mit der moralischen Überlegenheit der Menschen längst keine ausgemachte Sache ist - vor allem dann nicht, wenn sie sich den Maschinen anzunähern versuchen? Wichtige Fragen in einem etwas weniger wichtigen Film.

Auch Geschichtsunterricht gibt es: Die Außenwelt sei unbewohnbar, erfahren wir. Mit der Zeit wird so einiges Weitere klar: Nach einem Atomkrieg ist die Menschheit auf der Erde komplett ausgestorben. Aber es gibt zumindest diese gut geschützte Wiederbesiedlungsanlage, in der ein Roboter dafür sorgt, die Menschheit zu bewahren. Über 60.000 Embryonen sind hier gelagert; sie sollen die Grundlage bilden für eine Wiedergeburt der Menschheit unter besseren Vorzeichen. Tochter ist nur der Anfang.

Bild: © Concorde Filmverleih

So ist dieser Film vor allem ambivalent. Man zweifelt immer wieder daran, was hier wirklich vor sich geht, denn es ist früh klar, das Mutter der Tochter nicht ganz die Wahrheit sagt. Welche Mutter tut das schon? Man ahnt als Zuschauer früh, dass irgendetwas nicht stimmt. Und wie der Tochter, so wird auch uns der Roboter irgendwann unheimlich. Andererseits...

Dies ist ein Kammerspiel, das als Flucht- und Befreiungsgeschichte funktioniert und zugleich immer wieder mit Wendungen überrascht. Dazu gehört, dass irgendwann die Außenwelt auftaucht, und irgendwann eine zweite menschliche Figur ins Spiel kommt. Hilary Swank ist für diese ambivalente Figur die perfekte Besetzung, zumal sie mit ihrem kantigen, groben Gesicht auch ein wenig wie ein Roboter aussieht und vielleicht ist sie ja auch eine Art zweite Mutter. Bald ist aber klar. Auch sie hat Geheimnisse, sagt nicht die Wahrheit.

Im Gegenteil: Diese Fremde bringt etwas Rauhes, Rebellisches in die allzu cleane und wohlkalkulierte Welt der Station. Aber sie ist paranoid, vertraut nur sich selbst, eine gottesfürchtige libertäre Selbstversorgerin, die allein in einem Container haust und betet.

Was soll Tochter tun? Und so treten die Frau von Außen und der Android in Konkurrenz. Was ist wahr, was ist falsch? Wer hat wen belogen und warum?

Das Spielfilmdebüt des australischen Regisseurs Grant Sputore entfaltet ein faszinierendes, facettenreiche Szenario. "I am Mother" ist natürlich zunächst einmal eine Science-Fiction-Geschichte, die man ebenso dystopisch verstehen kann wie als utopisch-optimistischen Entwurf: Ein Neuanfang ist möglich.

Zugleich ist dies auch eine symbolisch verfremdete, im Prinzip sehr normale Pubertätsgeschichte. Denn eine Tochter entwickelt in einem bestimmten Alter Distanz zur Mutter. Das ist ganz normal, auch wenn die Mutter ein Roboter ist. Misstrauen gehört zur Emanzipation.

Tatsächlich wird sich die Geschichte dieses Films aber als noch etwas anderes entpuppen: Als ein Drama der Freiheit. Dieses Drama braucht eine Bühne zu seiner Aufführung und einen Regisseur.

"I am Mother" ist somit nicht nur ein herrausragender Science-Fiction-Film, sondern eine kluge, herrausfordernde Meditation über Künstliche Intelligenz und über die Menschlichkeit des Menschen in der Tradition von Filmen wie "Blade Runner" oder "A.I."