Misstrauen gehört zur Emanzipation

Bild: © Concorde Filmverleih

Grant Sputores Debüt "I am Mother" ist ein kluger, schöner Film über Künstliche Intelligenz

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Am Anfang weiß man überhaupt nicht, was eigentlich los ist. Ist dies ein Raumschiff, ein Labor? Was passiert draußen? Ist der Roboter, der aussieht wie Paul Verhoevens "Robo Cop" nun eine Bedrohung oder ein besser Mensch? Ist der ganze Film am Ende eine Fortsetzung von "Matrix"? Denn an "Matrix" erinnert zumindest der riesige Maschinenpark, an dem seltsame Blasen wachsen, die ein bisschen aussehen wie Früchte des tropischen Affenbrotbaumes. Es sind aber menschliche Embryonen, wie sich schnell herausstellt.

Wie in einer Mikrowelle wird eines von ihnen im Eiltempo ausgebrütet. Man kann dabei zusehen und nach 24 Stunden ist das Baby fertig.

Jetzt kommt der Roboter ins Spiel. Denn er - oder besser sie - ist "Mutter", die "Mother" des Titels. "Mutter" ist jetzt nicht mehr allein, denn es gibt "Tochter", das einzige menschliche Wesen in einem riesigen künstlichen, von der Außenwelt abgeschotteten Ort, einer technisch perfekt eingerichteten Überlebenskapsel.

Namen gibt es nicht mehr, Individualität muss sich erst entwickeln, vorerst ist alles Funktion. Der Roboter ist ein Sicherungssystem. Sie (ausgestattet im Original mit der menschlichen Stimme der Schauspielerin Rose Byrne) erzieht Tochter (gespielt von der jungen Dänin Clara Rugaard). Faszinierend zu erleben ist, dass man nicht nur glaubt, sondern auch akzeptiert, dass diese Robo-Mum auf ihre Art durchaus liebevoll ist, dass sie Schutzinstinkte entwickelt, und dass auch die Tochter umgekehrt Gefühle für die Maschine hat - und etwas zärtlich ein paar Schrauben festzieht, einen kleinen Maschinenschaden behebt.

I Am Mother (18 Bilder)

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Ein Roboter, der ganz allein ein Kind aufzieht? Das Zukunftsszenario, das Regisseur Grant Sputore entwirft, klingt zwar schwer vollstellbar, ist aber technisch gar nicht so abwegig: Längst gibt es künstliche Gebärmütter und Brutkästen für Fühgeborene. Und auch sonst haben Roboter viele Positionen in unserer Gesellschaft eingenommen, von denen man nie gedacht hätten, dass dies einmal möglich sein würde.

Alexa und Cortana sind schon in vielen Wohnzimmern zu Hause. In Schulen in Japan werden auch mehr und mehr Androiden eingesetzt. Seit Mitte 2015 gibt es in Tokio das Hotel "Henn na". Es ist das erste Hotel, bei dem fast die komplette Belegschaft aus Robotern besteht. Doch diese nur scheinbar zukunftsträchtige Investition musste das Hotel schnell bereuen. Anfang 2019 "entließ" das Hotel mehr als die Hälfte seiner Roboter in den Ruhestand und ersetzte die Stellen durch Menschen. Was war geschehen? Roboter werden zwar nie müde, allerdings stellte sich heraus, dass die Maschinen mehr Probleme schufen, als sie lösten.

243 Roboter waren in dem Hotel angestellt, doch ihre Tätigkeit barg einige Komplikationen. So konnte zum Beispiel der "Chu-ri", eine Art Zimmer-Page mit Sprachassistent, die Fragen der Gäste regelmäßig nicht beantworten. Zudem sprang er oft mitten in der Nacht an, wenn die Gäste schnarchten. Die mit der Zeit gewonnenen Erfahrungen hätten den Geschäftsführern Takeyoshi Oe und Hideo Sawada gezeigt, dass zum einen die Kosten der technischen Entwicklung, um up-to-date zu bleiben, in keinem Verhältnis zum Nutzen stehen, und zum anderen, dass die Roboter vielen Gästen mehr auf die Nerven gingen als dass sie sie faszinierten.

Im Berliner Pflegeheim Bethanien-Havelgarten ist ein kleiner, putziger Assistenz-Roboter mit dem Namen Lio in der Testphase. Lio hilft als Stütze, wenn er die Rentner auf ihre Zimmer begleitet oder nutzt seinen Greifarm, um Bälle oder ähnliches aufzuheben und weiterzureichen. Hierbei kann er nicht nur sprechen, sondern die jeweiligen Personen mit ihren Namen ansprechen. So unterstützt er das Personal nicht nur allen voran mit seiner Kraft, sondern auch mit Aufmerksamkeit, die er den Menschen schenken kann.

Die Tochter im Hochsicherheitsbunker entwickelt sich zu einem hellwachen, hochintelligenten, fröhlichen und angesichts der deprimierenden Umstände erstaunlich normalen Teenager. Sie tanzt Ballett und lernt die Welt durch Videoaufzeichnungen alter Talkshows kennen.

Das sind natürlich Klischees. Es geht um Metaphern, nicht um naturalistische Korrektheit. Insofern liegt jeder falsch, der drei Ratbücher für Kindererziehung gelesen hat, und dann fragt: "Was wird aus einem Kind, das keine humanen Kontakte besitzt, keine Konflikte mit anderen austragen muss, keine Anregungen, keine Einübung in irgendeine Art von menschlichem Verhalten erhält?" Nix müsste die Antwort lauten. Aber für die Analyse taugt das nicht.

Die Maschine unterrichtet Moral

Tochter bekommt im Philosophieunterricht moralische Aufgaben etwa das bekannte "Trolley-Problem": Darf man einen einzelnen Menschen opfern, um eine höhere Zahl zu retten? Die Maschine unterrichtet Moral, und das hat die Folge, dass sich das menschliche Mädchen hier ein bisschen einer Maschine anpasst. Dass das mit der moralischen Überlegenheit der Menschen längst keine ausgemachte Sache ist - vor allem dann nicht, wenn sie sich den Maschinen anzunähern versuchen? Wichtige Fragen in einem etwas weniger wichtigen Film.

Auch Geschichtsunterricht gibt es: Die Außenwelt sei unbewohnbar, erfahren wir. Mit der Zeit wird so einiges Weitere klar: Nach einem Atomkrieg ist die Menschheit auf der Erde komplett ausgestorben. Aber es gibt zumindest diese gut geschützte Wiederbesiedlungsanlage, in der ein Roboter dafür sorgt, die Menschheit zu bewahren. Über 60.000 Embryonen sind hier gelagert; sie sollen die Grundlage bilden für eine Wiedergeburt der Menschheit unter besseren Vorzeichen. Tochter ist nur der Anfang.

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So ist dieser Film vor allem ambivalent. Man zweifelt immer wieder daran, was hier wirklich vor sich geht, denn es ist früh klar, das Mutter der Tochter nicht ganz die Wahrheit sagt. Welche Mutter tut das schon? Man ahnt als Zuschauer früh, dass irgendetwas nicht stimmt. Und wie der Tochter, so wird auch uns der Roboter irgendwann unheimlich. Andererseits...

Dies ist ein Kammerspiel, das als Flucht- und Befreiungsgeschichte funktioniert und zugleich immer wieder mit Wendungen überrascht. Dazu gehört, dass irgendwann die Außenwelt auftaucht, und irgendwann eine zweite menschliche Figur ins Spiel kommt. Hilary Swank ist für diese ambivalente Figur die perfekte Besetzung, zumal sie mit ihrem kantigen, groben Gesicht auch ein wenig wie ein Roboter aussieht und vielleicht ist sie ja auch eine Art zweite Mutter. Bald ist aber klar. Auch sie hat Geheimnisse, sagt nicht die Wahrheit.

Im Gegenteil: Diese Fremde bringt etwas Rauhes, Rebellisches in die allzu cleane und wohlkalkulierte Welt der Station. Aber sie ist paranoid, vertraut nur sich selbst, eine gottesfürchtige libertäre Selbstversorgerin, die allein in einem Container haust und betet.

Was soll Tochter tun? Und so treten die Frau von Außen und der Android in Konkurrenz. Was ist wahr, was ist falsch? Wer hat wen belogen und warum?

Das Spielfilmdebüt des australischen Regisseurs Grant Sputore entfaltet ein faszinierendes, facettenreiche Szenario. "I am Mother" ist natürlich zunächst einmal eine Science-Fiction-Geschichte, die man ebenso dystopisch verstehen kann wie als utopisch-optimistischen Entwurf: Ein Neuanfang ist möglich.

Zugleich ist dies auch eine symbolisch verfremdete, im Prinzip sehr normale Pubertätsgeschichte. Denn eine Tochter entwickelt in einem bestimmten Alter Distanz zur Mutter. Das ist ganz normal, auch wenn die Mutter ein Roboter ist. Misstrauen gehört zur Emanzipation.

Tatsächlich wird sich die Geschichte dieses Films aber als noch etwas anderes entpuppen: Als ein Drama der Freiheit. Dieses Drama braucht eine Bühne zu seiner Aufführung und einen Regisseur.

"I am Mother" ist somit nicht nur ein herrausragender Science-Fiction-Film, sondern eine kluge, herrausfordernde Meditation über Künstliche Intelligenz und über die Menschlichkeit des Menschen in der Tradition von Filmen wie "Blade Runner" oder "A.I."