Mit Kleinstaaterei den Neoliberalismus überwinden?

Zwischen Globalismus und Demokratie: Der Soziologe Wolfgang Streeck beleuchtet eine Wirtschaftsordnung im nationalen Rahmen

Wolfgang Streeck gehört zu den wenigen deutschen Sozialwissenschaftlern, die es sich nicht nehmen lassen, bei der Bewertung sowohl der Europäischen Union (EU) als auch der Globalisierung gegen den Strom zu schwimmen. In seinem 2013 veröffentlichten Buch "Gekaufte Zeit - Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus"1 hatte der frühere Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung beschrieben, wie die EU die historisch erkämpften demokratischen Strukturen der Mitgliedstaaten in "marktkonforme Demokratien"2 umwandelt.

Streeck gehörte als Mitglied der Initiative "Full Brexit" zu denen, die den Austritt Großbritanniens aus der EU unterstützten. In Deutschland engagierte er sich an der Seite von Sahra Wagenknecht in der Bewegung "Aufstehen". Im Frühjahr 2021 hat er nun ein mehr als 500 Seiten umfassendes Werk mit dem Titel "Zwischen Globalismus und Demokratie - Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus"3 vorgelegt.


Wolfgang Streeck
Zwischen Globalismus und Demokratie
Politische Ökonomie im ausgehenden Neoliberalismus
Suhrkamp Verlag, 28,- €


Sein zentrales Anliegen benennt der Autor bereits im Vorwort: "Meine in diesem Buch ausgearbeitete Intuition ist, dass eine Überführung der Staatlichkeit in global governance, eine 'Überwindung' des Nationalstaats zugunsten internationaler Organisationen oder globalisierter oder regionalisierter Superstaatlichkeit auf die Errichtung einer dem demokratischem Einfluss entzogenen Techno- oder Merkatokratie - Experten- oder Marktherrschaft -, oder beider zugleich, hinauslaufen und eine Rückgewinnung demokratischen Einflusses auf die kapitalistische Ökonomie auf lange Zeit unmöglich machen würde." (11 f.)

Seine Kritik an der EU ist faktenreich, präzise und scharf. Mit der "grün-linken postindustriellen Mitte der Gesellschaft" (12) rechnet er im Kapitel "Globalismus von links" ab. Er beschreibt, wie diese Wendung der Grün-Linken funktioniert:

"Möglich war und ist das, weil der Neoliberalismus mit seiner, wie auch immer auch ideologischen, Forderung nach Überwindung des Nationalstaats an ein universalistisch erweitertes Gerechtigkeitsverständnis andocken kann, dass sich vor allem bei einer neuen Mittelschicht im Gleichschritt mit der wirtschaftlichen Globalisierung und dem Verschwinden der organisierten Arbeiterklasse als historisches Subjekt herausgebildet und verfestigt hatte." (32)

Die Bedeutung des Nationalstaats

Streeck ist zwar ein entschiedener Kritiker des Kapitalismus, doch kommt es ihm nicht in den Sinn, blind gegen ihn anzurennen. Er plädiert vielmehr dafür, an den gegebenen historischen Besonderheiten dieses Systems anzusetzen und so die Widersprüche zwischen Nationalstaat und Globalisierung zu nutzen:

"Ziel ist, der Unterschiedlichkeit der historischen Konkretisierung des Kapitalismus sowohl in der Zeit, im Prozess kapitalistischer Entwicklung, als auch in Gestalt spezifischer nationaler Ausprägungen dessen, was ich als Kompromiss zwischen Kapitalismus und Gesellschaft bezeichne, systematisch Rechnung zu tragen (…)" (25)

Überzeugend fällt sein Plädoyer für den Erhalt des Nationalstaats aus:

"Nur ein souveräner Nationalstaat kann die Grenzen sichern, die für eine Zerlegung der unregierbaren Komplexität einer globalen Markt- und Konzernwirtschaft in beherrschbare Unterteilungen nötig sind. Und nur nationalstaatlich souverän begrenzte Gesellschaften können demokratisch organisiert und dadurch in der Lage sein, einen kollektiven, für alle Bürger geltenden politischen Willen hervorzubringen und mit legitimer Autorität durchzusetzen (…). " (438)

Für diesen Staat hält der Autor auch einen Namen bereit, er nennt ihn Keynes-Polanyi-Staat" .4 (439) Im Kapitel "Große Krise, kleine Staaten" (462 ff.) umreißt er die Funktionen, die ein solcher Staat haben müsse: "Zunächst wäre (…) die weltweite Tendenz zu einer Verkürzung von Lieferketten und einer territorialen Wiederverdichtung zuletzt global ausgedehnter Produktionssysteme aufzunehmen und zu verstärken." (465)

Ein Keynes-Polanyi-Modell "sollte und könnte sich offen als wirtschaftspatriotisch oder gar protektionistisch bekennen." (466) Notwendig dafür ist ein anderes Wachstumsmodell: "Ein Rückzug aus der Hyperglobalisierung bedeutet ein Umschwenken der Wirtschaftspolitik auf Binnenwachstum. (468) Eine "Ökonomie des Alltagslebens" aufbauend auf "kollektiven Gütern" (469 f.) ist in den Mittelpunkt zu rücken. Dazu gehören ein "nationales Bankensystem, regionale Sparkassen und sektorale Genossenschaftsbanken" (471) sowie "neue Formen des Gemein- oder Verantwortungseigentums". (472)

Geschützt werden muss eine solche Ökonomie durch "Kapitalverkehrskontrollen auch bei ausländischen Direktinvestitionen". (472) "Am Horizont sichtbar würde, was man eine Beteiligungsökonomie nennen könnte - eine Wirtschaftsdemokratie (…)" (473). Streeck knüpft mit seiner Forderung nach einer Wirtschaftsdemokratie an gewerkschaftliche und sozialdemokratische Konzepte der Zwischenkriegszeit an, die selbst noch in den 1950er Jahren im Deutschen Gewerkschaftsbund vertreten wurden.

Die vom Autor hier skizzenhaft dargestellten Umrisse einer Wirtschaftsordnung im nationalen Rahmen könnten programmatische Leitlinie für eine künftige, grundlegend erneuerte Linke werden, vorausgesetzt eine solche Linke wäre fähig, die zentrale Bedeutung des Nationalstaats für den gesellschaftlichen Fortschritt zu erfassen und sich zugleich von der Illusion einer demokratischen und sozialen EU zu befreien.

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