Mit Kleinstaaterei den Neoliberalismus überwinden?

Seite 2: Mit "Kleinstaaterei" gegen die Globalisierung

Streeck geht es aber nicht allein nur um die Bewahrung und Stärkung des Nationalstaates an sich, er entwickelt in seinem Buch auch Umrisse einer "historisch-institutionalistischen Staatstheorie":

"Eine gesellschaftliche Rückeinbettung der im Neoliberalismus aus Politik und Gesellschaft herausgelösten kapitalistischen Wirtschaft, die diese als Wirtschaft saniert, indem sie sie als kapitalistische Wirtschaft transformiert, erfordert dazu geeignete Staaten in einem sie unterstützenden Staatensystem. (…)" (507) Als solche "geeigneten Staaten" gelten für ihn nur "friedfertige, nichtimperiale, demokratische und souveräne Klein - und Mittelstaaten" (17).

In polemischer Abgrenzung gegenüber dem Plädoyer von Jürgen Habermas für eine "postnationale Demokratie"5, die ihren zentralen Ort auf der Ebene der EU haben soll, bekennt sich Streeck ausdrücklich zur "Kleinstaaterei". (47)

An der Größe der Staaten scheiden sich für ihn die Geister:

"Die Wahl zwischen Groß- und Kleinstaaterei, zwischen Integration und Differenzierung von Staatensystemen, ist unter den Bedingungen der kapitalistischen politischen Ökonomie von heute eine Wahl zwischen Globalismus und Demokratie beziehungsweise der Möglichkeit von Demokratie." (57)

Doch nicht allein die Größe eines Staates ist für ihn entscheidend, auch dessen innerer Aufbau sei von Bedeutung, denn zentralistisch organisierte Staaten sieht Streeck als ungeeignet an für die von ihm geforderte "Rückeinbettung" der kapitalistischen Wirtschaft:

"Zentralistisch regierte Staaten und Staatensysteme, ob neoliberaler oder neolinker Denomination, entziehen ihre Gesellschaften nicht nur demokratischer Gestaltung, sondern sind darüber hinaus zu einer differenzierten, an unterschiedliche lokale Bedingungen angepassten und dadurch den Ordnungs- und Leistungsansprüchen komplexer Gesellschaften gerecht werdenden Politik unfähig." (508 f.)

Als Konsequenz daraus fordert er, dass sich große Staaten einen föderalistischen Aufbau geben, "der den von einem Staat umfassten Gemeinschaften Rechte zu sub- oder gar quasistaatlicher Selbstregierung und ausgehandelter horizontaler Kooperation einräumt; im Extremfall wird sich dann ein großer, viele Gemeinschaften umfassender Staat nur geringfügig, wenn überhaupt, von einem viele Staaten umfassenden Staatensystem unterscheiden." (45)

Für ihn sind daher gleichermaßen "Imperialismus und Superstaatismus (…) die real existierenden Formen von global governance als institutioneller Rahmen für kapitalistische Globalisierung (…)." (509)

Streeck übernimmt mit seinem Plädoyer für kleine und mittelgroße Staaten zentrale Aussagen des bereits 2019 erschienen Buchs "Die Größe der Demokratie" von Dirk Jörke. Gemäß Jörke sind "unter den etablierten Demokratien die mittelgroßen demokratischer".6 "Die durchschnittliche Einwohnerzahl dieser Gruppe beträgt 9,6 Millionen."7

In der EU entsprechen dem Belgien, Portugal, Österreich, Schweden, Tschechien und Ungarn. Jörke belegt diesen empirischen Zusammenhang mit Untersuchungen, auf deren begrenzte Aussagekraft er allerdings selbst verweist.8 Dennoch kommt er - ganz wie der ihm darin folgende Streeck - zu dem Resümee: "Kleinere Staaten weisen tendenziell einen höheren Grad an politischer Beteiligung und politischem Wettbewerb auf als größere". 9

Doch sind solche Staaten wirklich demokratischer? Blicken wir dazu auf die Schweiz, ein kleines Land mit einem hohen Grad an politischer Beteiligung. Nach Streeck wäre es besser gewesen, wenn es 1871 nicht zur Gründung des Deutschen Reiches gekommen wäre, sondern das Alte Reich sich in eine "Art große Schweiz" (49) verwandelt hätte.

In seinem Buch "Geschichte der Schweiz" beschreibt der Historiker Thomas Maissen die Konstitution dieses Landes hingegen ausgesprochen kritisch: Es leiste "sich eine Verfassung, die in ihrer Bürgernähe politisch unvermeidlich konservativ wirkt: direkte Demokratie und Föderalismus, Zweikammersystem und Ständemehr, schwache Parteien und starke Verbände, eine indirekt gewählte Landesregierung als Kollektivbehörde ohne Führung und mit Verpflichtung auf die Konkordanz. In solchen Strukturen haben schon kleine Gruppen Vetomacht, gewählte Volksvertreter hingegen relativ wenig Gestaltungsmöglichkeiten und politische Verantwortung."10

Die Schweiz zeigt danach, dass eine kleinteilige und direkte Bürgerbeteiligung keineswegs mit Demokratie und schon gar nicht mit sozialer Demokratie gleichgesetzt werden kann. Bereits Karl Marx und Friedrich Engels hielten nichts von jener schweizerischen Demokratie, die sich im Kern bis heute erhalten hat.11

Ganz anders war hingegen ihr Blick auf Frankreich! In diesem Land sahen sie die Hoffnung auch auf die Revolutionierung der deutschen Verhältnisse. Doch ein Land wie Frankreich passt ganz und gar nicht in das Streecksche Prokrustesbett - viel zu groß, viel zu zentralisiert!

Denkt man den Gedanken Streecks zu Ende, dass nur mittlere und kleine bzw. dezentrale Staaten fähig seien, wirkliche Demokratien zu sein, drängen sich absurde Schlussfolgerungen auf: Was sollen Kritiker der Globalisierung in jenen Staaten tun, die nun einmal - aus den unterschiedlichsten historischen Gründen - in großen und oft auch noch zentralistisch organisierten Staaten leben?

Sollen sie in ihrem Kampf um Demokratie die Zerschlagung ihrer Staaten fordern bzw. deren weitreichende Dezentralisierung verlangen, so dass sie am Ende - wie bereits zitiert - "den von einem Staat umfassten Gemeinschaften Rechte zu sub- oder gar quasistaatlicher Selbstregierung und ausgehandelter horizontaler Kooperation einräumt"?

Streek steht mit dieser Haltung im Gegensatz zu den Prinzipien sowie zur Geschichte der nationalen Arbeiterbewegungen. Für sie waren und sind große Staaten stets der ideale Kampfboden um kulturellen und politischen Einfluss gewinnen zu können.

Nur in großen Zentralstaaten können ständische Einzelinteressen und überkommene Privilegien beseitigt werden, können die Massenparteien des Proletariats ihre ganze Wirkung entfalten. Friedrich Engels wies darauf hin, dass es etwa in der französischen Revolution das Proletariat war, dass die Zentralisierung des Landes forcierte.12

Marx und Engels lehnten auch die deutsche Reichsgründung 1871 nicht ab, sondern bedauerten lediglich, dass sie unter preußischer Führung zustande kam. Auch Lenin erklärte stets, dass die Arbeiterbewegung immer ein Interesse am Erhalt großer Staaten haben müsse.

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