Mit Kleinstaaterei den Neoliberalismus überwinden?

Seite 4: Russland und China - die neuen Feindbilder des "Westens"

Der demütigende Rückzug der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan zeigt, dass es dem "Westen" immer schwerer fällt, Kriege zu gewinnen. Bereits zuvor hatte sich die Invasion im Irak als verlustreicher Fehlschlag erwiesen. Auch der Sturz des libyschen Staatschefs Gaddafis führte nur zu Chaos im Land. Angesichts dieser ernüchternden Erfahrungen schreckte man schließlich vor einer offenen Invasion in Syrien zurück.

Der globalisierte US-geführte Neoliberalismus ist aber deshalb keineswegs weniger aggressiv geworden. Nachdem im Jahr 2000 der US-Freund Boris Jelzin von Vladimir Putin abgelöst worden war, trat Schritt um Schritt Russland an die Stelle des alten Feindbildes Sowjetunion. Amtlich wurde dies 2014 mit dem Ausschluss des Landes aus der Gruppe der wichtigsten Wirtschaftsnationen, in die es 1998 aufgenommen worden war.

Aus der Gruppe der G8 wurde wieder die alte G7. Seitdem hat sich das Verhältnis des "Westens" gegenüber Russland immer mehr verschlechtert. Mit der Unterstützung bzw. Initiierung samtener bzw. farbiger Revolutionen in Interessensphären Moskaus - erst in Serbien, dann in Georgien, in der Ukraine, und nun auch in Belarus - versucht man den politischen und militärischen Spielraum Russlands weiter einzuengen.

Mit vergleichbarer Aggressivität beantwortet der globale "Westen" den Aufstieg Chinas zu einer führenden Macht. Befürchtet wird, dass das große Land den Weg bereiten könnte für eine andere, alternative Globalisierung, die sich orientiert am Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder, und die ausgeht vom Grundsatz, dass sich Handel und Direktinvestitionen am beiderseitigen Vorteil zu orientieren haben, eine Ordnung, die vor allem davon absieht, Staaten durch Sanktionen oder militärische Gewalt zu erpressen.

Unter Führung Chinas ist es bereits gelungen, auf diesem Weg hin zu einer anderen, alternativen Globalisierung einige Schritte voranzukommen. Mit der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank (AIIB) entstand 2015 in Peking eine multilaterale Entwicklungsbank, die im Wettbewerb zur Weltbank, zum Internationalen Währungsfonds und zur Asiatischen Entwicklungsbank steht.

Gegenwärtig sind 87 Länder Mitglied der AIIB, unter ihnen Großbritannien, Deutschland und Italien. Die 2001 gegründete Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) widmet sich der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit sowie Wirtschafts- und Handelsfragen und der Stabilität in der Region. Ihr gehören gegenwärtig acht Staaten an, darunter Russland, Indien und Pakistan.

Streeck lässt all diese Entwicklungen unerwähnt. Dabei sind doch diese Integrationsschritte hoffnungsvolle Ansätze für die von ihm selbst geforderte "polyzentrische nationenbasierte Ordnung (PNO)", die an die Stelle der "neoliberalen imperialen Ordnung" (491) treten soll. Doch China kommt in seinem Buch lediglich in Fußnoten und dort ganz dem westlichen Duktus entsprechend vor.13

Zu den hoffnungsvollen Ansätzen einer anderen Globalisierung gehört auch die Einrichtung der G20, die Gruppe der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer. Entstanden bereits 1999 wurde sie 2007/2008 zur Bewältigung der Auswirkungen der Weltfinanzkrise auf Drängen Chinas aufgewertet, indem ihr neue Aufgaben, vor allem zur Stabilisierung des Weltfinanzsystems, übertragen wurden.

Die westlichen Staaten zeigen aber nur ein geringes Interesse an diesem Format. Sie bevorzugen weiterhin, alle Entscheidungen der Globalisierung unter sich - in der Gruppe der G7 - auszumachen. 14

Diese neuen, alternativen Formen der Globalisierung, aber auch die Erfahrungen des bereits 1967 gegründeten Verbands Südostasiatischer Nationen (ASEAN), dem zehn Länder angehören, geben wertvolle Hinweise darauf, wie die hierarchisch aufgebaute EU, die darauf abzielt, ihren Mitgliedsländern immer mehr Souveränitätsrechte zu nehmen, grundlegend verändert werden kann.

Wie kann die neoliberale imperiale Ordnung überwunden werden?

Die alles entscheidende Voraussetzung für die Etablierung einer neuen globalen Ordnung ist die Ablösung der imperialistischen USA als dominanter Weltmacht. Es gilt, ein multipolares Staatensystem zu schaffen. Dies aber setzt die Existenz großer Staaten voraus, sowohl was Territorien und Bevölkerungen, vor allem aber Wirtschaftskraft angeht. Klein- und Mittelstaaten vermögen da nichts auszurichten. Der von Wolfgang Streeck vorgeschlagene "Ausweg nach unten" in die "Kleinstaaterei" (387 ff.) ist rückwärtsgewandt und führt in die Irre.

Imperialistische Staaten wie Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Japan und heute vor allem die USA, versuchten bzw. versuchen weiterhin, die Gegner ihrer Hegemoniepolitik in Klein- und Mittelstaaten zu zerlegen und damit auszuschalten. Mit der Auflösung der Sowjetunion ist ihnen dies - unter tatkräftiger Mithilfe des dort neu entstandenen Bürgertums - gelungen; ebenso verhielt es sich in Jugoslawien.

Der von einer Allianz westlicher Staaten besetzte Irak wurde föderalisiert, um ihn beherrschen zu können. Heute nun versucht der "Westen" China aufzuteilen. Deshalb wird der Dalai Lama als Führer eines nach Selbstständigkeit strebenden Tibets hofiert, spricht man in den USA, aber nicht nur dort, von einem "Völkermord" an den Uiguren, die offen zum Aufstand gegen die chinesische Zentralregierung aufgefordert werden. Und aus diesem Grund bestreitet man die Zuständigkeit Pekings für Hongkong und stellt mit der Aufwertung Taiwans die auch vom "Westen" anerkannte Ein-China-Politik erneut infrage.

Es ist abermals der "Westen", der sich "als Hüter des moralischen Bewusstseins der Menschheit aufspielt und sich deshalb ermächtigt fühlt, auf der ganzen Welt Destabilisierungen und Staatsstreiche sowie Embargos und 'humanitäre' Kriege zu entfesseln."15

In Deutschland besteht heute in Politik und Medien weitgehend Konsens über die Notwendigkeit einer Mobilmachung gegenüber Russland und China. Vorneweg marschieren dabei einmal mehr die Grünen. Die bürgerliche Frankfurter Allgemeine Zeitung sieht es ganz richtig: "Ihre Haltung gegenüber Moskau ist strenger als die Laschets und gegenüber Peking kritischer als die der von China faszinierten Merkel."16

Eine Linke, die sich nicht dieser imperialistischen Politik entgegenstellt, hat ihre Bezeichnung nicht verdient.

So richtig die Kritik von Wolfgang Streeck an der EU und der US-geführten Globalisierung ist, so wichtig seine Verteidigung des Nationalstaats in einer Zeit zählt, in der er von neoliberalen Kräften denunziert wird, so wenig trägt aber sein Buch dazu bei, diese zutiefst inhumane Ordnung zu überwinden.

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