Kabelsalat in der Ostsee: Zwischen Fakten und Fiktion
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Computerillustration eines Unterseekabels
(Bild: JesperG/Shutterstock.com)
In der Ostsee häufen sich beschädigte Seekabel. Der Westen macht Russland verantwortlich, doch die Washington Post weist in eine andere Richtung. Eine Betrachtung.
1832 schrieb der Militärtheoretiker Carl von Clausewitz: "Das erste Opfer ist die Wahrheit". Er meinte damit das erste Opfer des Krieges. Bis heute sind seine Gedanken aktuell.
Denn die Weisheit von damals ist heute zu einer kollektiven Wahrheit geronnen. Zu offensichtlich sind die Lügen um den Sender Gleiwitz im Zweiten Weltkrieg, die Brutkastenlüge oder das Bild vom Kormoran.
Als die Iraker vor den anrückenden US-Soldaten die Ölquellen öffneten, ging ein ölverschmierter Vogel durch die Weltpresse. Umweltsünde, Kriegsverbrechen, Diktatur, so die allgemeine Meinung. Wie sich später herausstellte, stammte das Foto von einer Umweltkatastrophe in Alaska. Aus Alaska, einem der rund 50 Bundesstaaten der USA.
Doch wer dachte, die Welt habe sich zum Besseren gewendet, in Presse und Berichterstattung seien politische Meinungen und Verstrickungen inzwischen einer einheitlichen Qualität und Recherche gewichen, wird enttäuscht.
Im Monatstakt werden in der deutschen Medienlandschaft neue Vorwürfe gegen Russland verbreitet, zuletzt: Russland (und teilweise auch China) greifen durch gezielte Sabotage Tiefseekabel in der Ostsee an. Doch was steckt dahinter?
Zwischen Nordstream und Irland: Moskau
Zu Beginn der letzten Januarwoche überschlugen sich die Meldungen erneut. Wieder wurde ein Seekabel beschädigt, diesmal zwischen Lettland und Schweden.
Betroffen war das Kabel des staatlichen lettischen Rundfunks und Fernsehens in schwedischen Gewässern auf Höhe der Insel Gotland.
Der Vorfall reiht sich ein in eine Serie: Am ersten Weihnachtsfeiertag wurde das Stromkabel EastLink 2 zwischen Estland und Finnland beschädigt, der Tanker Eagle S (aus St. Petersburg und unter der Flagge der Cook-Insel) wurde festgesetzt.
Bereits im November beschädigte der chinesische Massengutfrachter Yi Peng 3 ein Datenkabel zwischen Dänemark und Schweden.
Lange vermutete man die Hintermänner der Nordstream-II-Sprengung in Moskau, obwohl man weder die Täter kannte noch überzeugende Motive für eine Beteiligung Russlands sprachen und Recherchen eher eine andere Richtung weisen.
Selbst das außenpolitisch oft gallische EU-Dorf Irland reiht sich in die lange Reihe westlicher Anschuldigungen ein – am 16. November 2024 sei ein angebliches russisches Spionageschiff aus irischen Gewässern eskortiert worden. Damit ist das Internet auf der grünen Insel vorerst sicher.
Inzwischen hat sich die Nato eingeschaltet. Das Militärbündnis schickte Fregatten, Drohnen und Patrouillenboote im Rahmen der Mission Baltic Sentry.
Washington Post: Unfälle statt Anschläge
Das Problem bei allen Geschichten: sie sind Normalität in der Seefahrt und es fehlen, trotz anders lautender Überschriften, die Beweise gegen Russland.
Die Berichterstattung des Deutschlandfunk kann als exemplarisch gelten: Es wird mit Vermutungen gearbeitet. Die russische Schattenflotte betreibe gezielte Sabotage. Annalena Baerbock und Boris Pistorius sprangen zur Seite: Sabotage und Absicht klangen durch die Pressemeldungen.
Interessanter lesen sich folgende Fakten: Der Sprecher der unabhängigen Arbeitsgruppe Kritische Infrastrukturen, Manuel Atug, gab an, dass von jährlich 200 Schäden an Seekabeln in der Ostsee maximal einer auf Sabotage zurückzuführen sei.
Der Rest sei durch Unfälle mit Fischerbooten zu erklären, Schleppnetze von Trawlern und Anker würden die Kabel regelrecht zerfetzen. Am 12. Dezember berichtete der Spiegel, dass jährlich 150 bis 200 Schäden auf Seebeben, Anker oder Schleppnetzfischerei zurückzuführen seien.
Dem Spuk ein Ende bereitet dagegen eine Recherche der Washington Post. Unter Berufung auf Informationen aus Kreisen europäischer und amerikanischer Offizieller und der aktuellen Beweislage geht die Washington Post von Unfällen durch schlecht gewartete Schiffe, unerfahrene Besatzungen und schlicht von Missgeschicken aus.
Vorsätzliches Handeln könne aufgrund der Beweis- und Faktenlage zum jetzigen Zeitpunkt ausgeschlossen werden.
Lebensadern des modernen Finanzkapitalismus
Aber: Tiefseekabel sind ein Muss für den finanzialisierten Hightech-Kapitalismus. Sie vernetzen 99 Prozent des weltweiten Internetverkehrs, verbinden Kontinente, Menschen und abgelegene Inselgruppen.
Unterseekabel sind um ein Vielfaches leistungsfähiger als Satelliten und bringen Daten schneller ans Ziel.
Das bedeutet aber auch: Fällt ihre Leistung aus, wird es an den betroffenen Endgeräten dunkel. Die Wirtschaft schreckt auf, denn Kommunikation, Finanztransaktionen, globale Lieferketten, vieles gerät ins Rutschen, wenn Internet und Telekommunikation ausfallen.
Ein entscheidender Nachteil von Unterseekabeln: Sie sind schwer zu sichern. Sie liegen teilweise hunderte Meter unter Wasser, durchqueren Länder und offene Gewässer ohne direkten Besitzanspruch.
Die maritimen Kapazitäten der Anrainerstaaten reichen in der Regel bei weitem nicht aus, um die Seekabel als Teil der kritischen Infrastruktur zu schützen. ZDF-Experte Peters wird mit den Worten zitiert, die Kabel würden verlegt, "und das war's dann".
Die Folge sind und waren zahlreiche Unfälle und ganz vereinzelt auch Überfälle. Die Wirtschaftswoche als Fachblatt der großen deutschen Finanzwirtschaft schlägt folgerichtig Alarm. Echte Sicherheit, so ein Kommentar, gebe es nur mit Satelliten und Europa müsse sich besser gegen jede Form der hybriden Kriegsführung wappnen.
Die Wirtschaftswoche legt den Finger in die Wunde: Deutschland und Europa hinken im Satellitenwettlauf hinterher, China sei der Branchenprimus – und auf das Starlink-Projekt des AfD-Schmuddelkindes Elon Musk wolle man noch nicht verzichten. Doch der Artikel geht noch weiter: Putin als personalisiertes Russland sei schuld an dem Dilemma.
Geheimhaltungsfaktor mangelhaft
Um es vorsichtig zu formulieren: Die Seekabel und die Schiffsbewegungen in der Ostsee sind laienhaft geschützt. Es bedarf weder geheimdienstlicher Expertise noch großer Anstrengungen, um markante Seekabel zu lokalisieren. Die Kabel selbst machen es möglich.
Das Internet beherbergt mittlerweile eine Vielzahl von Tracking-Sites. Die Seite Submarine Cable Map als Beispiel wird monatlich aktualisiert und listet akribisch weltweit (!) alle Unterseekabel mit Länge, Anrainerstaaten, Stadtverbindungen und, mit etwas Fingerspitzengefühl, Geodaten zur exakten Lokalisierung auf.
Allein zwischen dem Baltikum, Deutschland und den skandinavischen Ländern verlaufen laut der Website Dutzende von Leitungen unter dem Meer.
Schiffsbegeisterte wird es freuen: Nicht nur Kabelleitungen werden GPS-koordiniert, sondern vor allem auch Schiffsbewegungen. Mit der Anwendung Marine Traffic lassen sich beispielsweise alle aktiven Schiffsbewegungen in Echtzeit verfolgen. Weltweit, kostenlos, mit ausreichenden Informationen über Tonnage, Eigner und Reiseroute.
Das Ergebnis: Weder Pipelines noch Schiffe unterliegen einer massiven Geheimhaltung.
Im Krieg mit Russland?
Die Angst vor Sabotage und das Unwort der hybriden Kriegsführung erfüllen im aktuellen deutschen EU-Diskurs eine Funktion. Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung leitet aus den Unglücken in der Ostsee ein neues Konjunkturprogramm für die deutsche Rüstungsindustrie ab.
Die "Ostflanke" der Nato müsse dringend besser gesichert werden und die Aufstellung einer deutschen Brigade in Litauen könne nur als Anfang verstanden werden.
Baerbock wird im Bayerischen Rundfunk mit den Worten zitiert, die "Sabotage" sei ein "dringender Weckruf" und es müsse "mehr in die Landesverteidigung investiert werden". Die Botschaft ist klar: Entgegen der Faktenlage braucht es ein Narrativ der verstärkten Militarisierung in Richtung Russland.