Mit den Frauen kam das Wissen

Seite 2: Zuwanderung erfolgte über viele Generationen

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Es handelt sich nicht um Einzelfälle. Die Zuwanderung der erwachsenen Frauen erfolgte über viele Generationen, die fremden Familienmitglieder finden sich nicht nur in den ältesten Bestattungen von 2.500 v.Chr., sondern durchgehend bis zu den jüngsten von 1.650 v.Chr. Mindestens 800 Jahre lang änderte sich als nichts an dem Muster weiblicher individueller Mobilität.

Dass sie als Sklavinnen verschleppt oder nur als Mägde angeheuert wurden, schließen die Wissenschaftler aus, denn die Frauen wurden als gleichberechtigte Mitglieder der Familien bestattet, auch in der traditionellen Position zusammen mit ihren Männern in Doppelgräbern. Sie hatten zu Lebzeiten den gleichen Status wie die Einheimischen, sie waren ein geachteter Teil der bäuerlichen Gemeinschaften. Sie kamen aus der Fremde, heirateten in die Bauernsippen ein und gehörten als vollwertige Mitglieder zur Familie.

Doppelgrab einer Frau und eines Mannes im Lechtal. Foto: Stadtarchäologie Augsburg

Die Forscher nennen es Patrilokalität, wenn die Frauen ihre Herkunftsfamilien verlassen, um fortan an einem neuen Wohnort bei den Sippen ihrer Männer sesshaft zu werden. Im Lechtal war das offensichtlich im Übergang von der Kupfersteinzeit zur Frühen Bronzezeit Jahrhunderte lang üblich. Frühere Studien hatten bereits an verschiedenen Orten Europas gezeigt, dass zwischen 2500 und 2150 v.Chr. bereits an vielen Orten Patrilokalität praktiziert wurde.

Die neue Studie ist ein weiteres Puzzlestein im großen Bild der weiträumigen Kommunikationsnetzwerke in Europa in den Zeiten der großen Umbrüche, die mit viel menschlicher Mobilität verbunden war.

Seit Jahrzehnten debattiert die Wissenschaftswelt, wie sich Wissen, Kultur und Technologien unter den Menschen verschiedener Regionen verbreiteten. Ein Modell geht vom Wissenstransfer über Nachbarschaften, über die Aneignung durch Nachahmung oder Erzählung aus. Dagegen steht die These von der Migration, die besagt, dass Menschen ihr Wissen mitbringen, und es dann an einem Ort, wo sie sich niederlassen, durch den direkten Kontakt vor Ort vermitteln, ihre Kulturtechniken durch Vermischung mit den Einheimischen verbreiten.

UGrab einer der Frauen. Foto: Stadtarchäologie Augsburg

Migration: Einzelne und Gruppen

Es mehren sich die Belege für das Migrationsmodell. Schon die ersten Bauern Mitteleuropas waren Zuwanderer, sie kamen mit ihren Pflanzen und Tieren, um das Land urbar zu machen und sich niederzulassen (vgl. Die ersten Bauern tranken keine Milch).

Allerdings herrschte bislang überwiegend die Vorstellung der Migration ganzer Gruppen. Beim Übergang ins Zeitalter der Metallbearbeitung könnten es aber vor allem einzelne Menschen, bzw. Frauen gewesen, die das Wissen um die Herstellung und Bearbeitung von Bronze überbrachten und damit ein neues Zeitalter einläuteten, in dem sich das Leben grundlegend veränderte. Die Umbruchszeit bringt neue Ideen, neue Bestattungsformen und kulturelle Veränderungen weit über regionale Grenzen hinaus mit sich.

Ein Symbol dafür ist die Himmelscheibe von Nebra, die nicht nur einen sehr frühen astronomischen Kalender darstellt, sondern auch aus Materialien hergestellt wurde, die aus verschiedenen Teilen Europas stammen (vgl. Sonne, Mond und Sterne). Oder das noch frühere Stonehenge, in dessen Nähe um 2300 v.Chr. der Bogenschütze von Amesbury mit vielen wertvollen Grabbeigaben bestattet wurde - er stammte aus den Alpen (vgl. The Amesbury Archer: The King of Stonehenge?.

Die Menschen waren in der frühen Bronzezeit in Bewegung und in Kontakt, sie handelten miteinander und tauschten sich aus. Wie das Kommunikationsnetzwerk aussah, und ob es eventuell gemeinsame religiöse Vorstellungen in weiten Teilen Europas gab, darüber wird noch viel spekuliert. Wahrscheinlich gab es Treffpunkte, große Märkte und überregionale Feste.

Wie die Frauen aus dem Lechtal tatsächlich ihre zukünftigen Männer und Familien vor ihrem Aufbruch kennenlernten, ob es frühgeschichtliche Partnerbörsen oder Heiratsvermittler gab, bleibt vorerst noch im Dunkel der Geschichte verborgen. Sicherlich sind sie nicht allein einfach ins Blaue los marschiert, um ihr Glück zu suchen.

Sicher ist bislang nur, dass sie sich auf den Weg machten und das in großer Zahl über einen sehr langen Zeitraum hinweg. Nicht die Männer brachen ins große Abenteuer des Unbekannten auf, sondern die Frauen - und sie brachten ihr Wissen, ihre kulturellen Praktiken, Technologien und Know-how mit in ihr neues Leben.

Philipp Stockhammer zieht das Fazit: "Individuelle Mobilität hat das Leben der Menschen in Mitteleuropa bereits im 3. und frühen 2. Jahrtausend stark geprägt. Es scheint, dass zumindest ein Teil dessen, was bislang als Migration von Gruppen bewertet wird, auf einer institutionalisierten Form von Mobilität Einzelner beruht."