Mit der Überreizung leben

Welche Wirkung die allgegenwärtigen Medien auf uns haben

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Jeder kann die magische Kraft bewegter Bilder beobachten, wenn er junge Kinder vor dem Fernseher beobachtet. Selbst Nachrichtensendungen werden von ihnen gebannt verfolgt. Später kommt die Konsole dazu, wieder später der PC. Angesichts der Vielfalt heute zur Verfügung stehender Medien wird immer öfter die Frage gestellt, was deren aktive oder passive Rezeption aus Kindern, aber auch Erwachsenen macht. Als vorweggenomme Antwort muss gelten: Es kommt darauf an.

Die bunten Sequenzen auf einem Bildschirm sprechen den Orientierungssinn der Kleinkinder an, ein grundlegender Reflex, der die Sinne auf jedwede Veränderung in der Umgebung reagieren lässt. Was aber sind die Lanzeitfolgen? Um dies zu beantworten untersuchte der Psychologe Dimitri Christakis 1300 Kinder aus einem Datensatz einer US-Langzeitstudie (National Longitudinal Survey of Youth) und stellte 2004 fest: 20 Prozent der Kinder, die im Alter von 1-3 täglich zwei Stunden Fernsehen durften, haben im Alter von sieben Jahren Probleme mit der Konzentration. Eine Anschlussstudie brachte 2007 ans Licht, dass die Aufmerksamkeitsdefizite besonders groß bei denjenigen waren, die Cartoons geschaut hatten. Sind Tom & Jerry eine der Ursachen der Ritalin-Welle?

Weitere Fragen werfen sich auf: Wie groß muss der Stress oder die Unbedarftheit der Eltern sein, ein Kleinkind täglich zwei Stunden vor der Röhre abzustellen? Und wieso gilt die Beinahe- Selbstverständlichkeit der Aufmerksamkeitsdefizite bei solchen Kindern als wertes Forschungsergebnis, das es bis in einen Beitrag der Fachzeitschrift Nature schafft?

Ein Grund ist sicherlich, dass die Medienwirkungsforschung in den USA ein Schattendasein fristet. Von daher gilt die Studie von Christakis dort als Meilenstein. Und dies trotz der Tatsache, dass Beobachtungsstudien dieser Art mit den bekannten Einschränkungen zu kämpfen haben, denn eine Verbindung zwischen TV-Konsum und Aufmerksamkeitsstörungen ist noch kein kausaler Zusammenhang. Diverse andere Faktoren können eine Rolle spielen: Einkommen der Eltern, genetische Veranlagung, Kindergarten, um nur drei zu nennen.

Der frühe Medienkonsum ist wahrlich kein US-Phänomen. Nach einer Erhebung des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen ( IZI) sitzen bereits 20 Prozent der Einjährigen regelmäßig vor dem Bildschirm, von den Dreijährigen fast 90 Prozent. Kinderärzte und Experten raten aber Eltern dazu, den Medienkonsum des Nachwuchses zu beschränken und Kleinkinder zwischen 1 und 4 Jahren überhaupt kein Fernsehen schauen zu lassen. Eine Botschaft, die offensichtlich nicht angekommen ist. In Frankreich ging man daher im letzten Jahr einen Schritt weiter und hat Sendungen, die auf Kinder unter drei Jahren abzielen, komplett aus dem Äther genommen.

Oscar hilft

Schaden TV und Video den Vorschulkindern also? Es kommt darauf an. Maya Götz von der IZI verweist auf das Beispiel Sesamstraße, eine der ersten Kinderserien, in denen die damaligen Erkenntnisse aus der Kindesentwicklung berücksichtigt wurden. Kinder, die regelmäßig Sesamstraße schauen, erkennen laut Götz leichter Buchstaben und können besser zählen als Kinder, die gar nicht oder nur reines Unterhaltungsprogramm schauen. Dies gilt allerdings nur, wenn die Vorschulkinder mit ihren Eltern über die Sendung sprechen. Dies weist auf den Wert der Interaktion hin. Aus gemeinsamem Spiel und Erleben lernen Kinder immer noch am besten.

Die vorhandenen Studien über den Lerneffekt audiovisueller Medien sind widersprüchlich. Zwei neuere Studien (Zimmermann 2007, Robb 2009), die den Effekt von speziellen, auf Kleinkinder zugeschnittenen Lern-DVDs untersuchten, kamen zu dem Ergebnis, dass die Videos kaum positive Wirkung auf deren kognitiven Fähigkeiten haben. Allerdings kam eine Meta-Review über 12 Studien dagegen zu dem Schluss, dass TV-Konsum bei über 3-Jährigen durchaus zu einer Wissensvermehrung führen kann, wenn die richtigen Programme geschaut werden.

Die vielen negativen Folgen, die ausufernder Medienkonsum haben soll, sind besser belegt: Naturgemäß wird sich vor dem Fernsehgerät wenig bewegt, die Gefahr der Dickleibigkeit ist also erhöht, ebenso sinkt die Spiellust, selbst wenn die Kiste nur im Hintergrund rauscht, auch die Sprachentwicklung wird anscheinend negativ beeinflusst.

Wo früher das Fernsehgerät der Kulminationspunkt des Familienlebens war, vor dem sich alle versammeln, ist er bis heute zwar der - oft auch architektonische - Mittelpunkt des Wohnzimmers geblieben, muss aber seine Stellung mit anderen Medien und Bildschirmen teilen. Papi nutzt das alte Laptop als Medienzentrale, Mutti das MacBook als I-Tunes-Station, Sohnemann den iPod touch als mobile Daddelkiste. Untereinander werden MP3s getauscht, Hörbücher auf Autofahrten gemeinsam genossen. Die Medienvielfalt muss nicht unbedingt zur Vereinzelung führen. Allerdings ist dieses geänderte Medienverhalten der Gesamtfamilie bislang kaum in den Fokus der Wissenschaft geraten.

Inbox = To-Do List

Weitgehend Einigkeit herrscht darüber, dass das Überangebot von allen eine neue Medienkompetenz verlangt. So müssen die Kinder lernen, das Nintendo DS nicht parallel zum Unterricht unter der Schulbank zu nutzen und die Erwachsenen lernen, den E-Mail Client nicht jede einkommende Nachricht über die Lautsprecher jagen zu lassen. Dazu kommen Strategien, wie man mit den täglich hunderten von E-Mails umgehen sollte. Auf einer Konferenz der Information Overload Research Group im vergangenen Jahr berichtete Intel Manager Nathan Zeldes, dass ein leitender Angestellter bei Intel im Durchschnitt täglich 300 E-Mails erhält, bei der Bank Morgan Stanley sollen es zwischen 500 und 600 Nachrichten sein. Glaubt man den Erhebungen, werden 70 Prozent solcher Mails binnen sechs Minuten nach ihrem Eintreffen beantwortet. Als Faustregel gilt: Frauen und Männer werden alle drei bis fünf Minuten bei der Arbeit unterbrochen.

Erschwerend kommt hinzu, dass viele Anwender ihren Account ständig im Auge behalten, um ja keine Mail zu verpassen. Oft spielt eine Rolle, dass viele Menschen keine Möglichkeit oder nur unterentwickelte Fähigkeiten haben nicht zu interagieren. Jede Mail wird als Kontakt eingeordnet. Eine Studie von Karen Renaud kam 2006 zu dem Ergebnis, dass viele User zwar glauben, ihre E-Mail-Abrufsequenzen unter Kontrolle zu haben, sie aber aus Sicht der Forscher schon in einer Art Outlook-Knechtschaft leben.

Angesichts der Auswüchse ist für die Journalistin Maggie Jackson daher die Info-Kompetenz schon verloren gegangen. Sie entwirft in ihrem Buch "Distracted" eine düstere Zukunft für den "Homo connectus", der aus ihrer Sicht Kreativität und enge Freundschaften verliere. Das ständige Piepsen und Klingeln im Büro führe, so Jackson, zu einer Zersplitterung der Aufmerksamkeit, produktive Arbeit sei so nicht mehr möglich, Kreativität gehe verloren.

Störungsresistent

Gilt das tatsächlich, selbst eingeschränkt auf den Teil der Weltbevölkerung, der täglich im Büro vor den Bildschirmen sitzt? Subjektiv dürfte jeder das Gefühl kennen, zunehmend unter den ständigen Ablenkungen durch Piepsen und Klingeln in der Umgebung zu leiden. Auf der anderen Seite ist die Möglichkeit, sich einer Tätigkeit über einen längeren Zeitraum ungestört und voll konzentriert widmen zu können, schon immer ein Luxus gewesen. Davon kann jede Mutter ein Lied singen, die versucht, in aller Ruhe Mittagessen für die Familie zu kochen.

Bei der Beurteilung der Klagen über den Verlust der Aufmerksamkeitskultur ist zudem der latente Kulturpessimismus zu berücksichtigen. Der englische Begriff "Information overload" wurde bereits 1970 von Alvin Toffler in seinem Buch Future Shock geprägt. Schon damals mutmaßte man, dass der Menschheit droht unter Informationsbergen begraben zu werden. Später lief man Gefahr sich "zu Tode zu amüsieren" (Neil Postman).

Etwas kühler lässt sich die Frage nach den Effekten der Ablenkungen in eine individuelle und gesamtsoziale Ebene aufspalten. Auf der persönlichen Ebene ist mittlerweile relativ gut erforscht, welche Auswirkungen die zahlreichen Unterbrechungen haben, denen man im Arbeitsalltag ausgesetzt ist. Zunächst einmal ist dabei nichts weltbewegendes ans Licht gekommen: Wer durch Signale einkommender E-Mails, Instant Messaging oder sonstwas abgelenkt wird, ist kaum in der Lage, seine aktuelle Tätigkeit vernünftig fortzuführen.

Aber man lässt sich umso leichter ablenken, desto weniger man gerade auf eine Tätigkeit konzentriert ist. Mit anderen Worten: Wer gerade tief in seine Arbeit, ein Buch oder einen Film vertieft ist, der nimmt das entfernte Handy-Klingeln gar nicht wahr. Ist man aber gerade eh unkonzentriert oder auf der Suche nach neuen Informationen, lassen einen schon die kleinsten Ablenkungen vom Kurs abkommen. So kann es passieren, dass man zwischen verschiedenen Anwendungen am Computer hin und her springt, weil keine der Aufgaben wirklich wichtig ist oder aber die Schwelle für den plötzlichen Aufmerksamkeitsentzug enorm niedrig ist.

Besteht nun die Gefahr, dass die ständigen Störungen die Fähigkeit zur vollen Konzentration und, mehr noch, die Kreativität untergraben, wie Jackson behauptet? Hier sind die Forschungsergebnisse längst nicht so eindeutig. Im Gegenteil, Chenbo Zhong und sein Team von der Universität von Toronto konnten zeigen, dass Unterbrechungen durchaus dazu beitragen können, kreativen Gedankengängen Platz zu schaffen. Ablenkungen werden von manchen Angestellten eben auch als willkommene Zerstreuung angesehen. 2006 veröffentlichte das Magazin Science ein Experiment von Ap Dijksterhuis. Danach verhindert zu viel Konzentration auf eine Sachlage deren kreative Lösung. Dijksterhuis ist Verfechter der "unconscious-thought theory", nach der unbewusstes Denken in viele Situationen weiter hilft als herkömmliches Grübeln. Seither herrscht Streit in der Wissenschaftsgemeinde, ob hier mit den korrekten Begriffen gearbeitet wird oder ob Ablenkung hier nicht mit dem Sinnieren zwischen Arbeitsschritten verwechselt wird, das, um wirksam zu sein, ungestört bleiben muss.

Evolutionär bedingt sucht der Geist stets nach Gefahren oder Neuigkeiten, die mehr Aufmerksamkeit verdienen, als das gerade fokussierte. Dieses Phänomen der wandernden Aufmerksamkeit ist seit langem bekannt und keine Folge des Informationszeitalters. Es bleibt die Ironie, dass die technischen Neuerungen angetreten waren, das Leben zu vereinfachen. Davon ist wenig übrig geblieben. Die Zumutungen der Arbeitswelt finden anscheinend immer einen Weg, die Anwender auf Hochtouren laufen zu lassen.