Mit fragwürdigen Methoden zurück in die Atomkraft
Erstellten Wissenschaftler im Falle möglicher Altlasten des Atomforschungszentrums GKSS "Gefälligkeitsgutachten"?
Im Bundestagswahlkampf 2009 stand neben der Frage: Wer bezahlt die Krise? die von FDP und CDU/CSU gestartete Kampagne zum Wiedereinstieg in die Atomenergie im Mittelpunkt. Nach gewonnener Wahl machte sich das schwarz-grüne Lager zügig an die Umsetzung ihres Versprechens: Im Koalitionsvertrag ist das Ziel der Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke festgeschrieben worden.
Die Zeit brennt unter den Nägeln: Der Ausstieg aus der Atomenergie mit festgeschriebenen Restlaufzeiten würde das alsbaldige Aus für die nächsten Atomkraftwerke bedeuten. Mit Blick auf neue Regierungskonstellationen drosselten sogar einige Energiekonzerne die produzierte Strommenge alter Atomkraftwerke (wie im ältesten AKW in Biblis, das vom RWE-Konzern betrieben wird), um sie so in die erhoffte schwarz-gelbe Ära der Atomkraftrenaissance hinüber zu retten.
Es geht um unglaublich viel Geld: Die Verlängerung der Laufzeiten würde Milliarden von Euros - nicht nur - in die Taschen der Stromkonzerne spülen.
Unter dem Titel: "Unsere Atomkraftwerke sind noch lange nicht am Ende ihrer Laufzeit" rechnet der RWE-Chef Jürgen Großmann schon einmal laut durch:
Wir sind bereit, die Gesellschaft angemessen an diesem Mehrwert zu beteiligen ... Aber wir wollen auch ein kleines bisschen dabei verdienen ... Es wäre zu überlegen, ob wir 45, 50 oder 55 Prozent davon abgeben.
Eine neue Form der Parteienfinanzierung?
Es geht auch um die Gesundheit der Menschen, um eine Technologie, deren Restrisiko den kalkulierten Tod von Zehntausenden vom Menschen billigend in Kauf nimmt. Ein Restrisiko, für das AKW-Betreiber mit einer Haftungspflicht bis maximal 250 Millionen Euro nur symbolisch aufkommen - was zur Konsequenz hat, dass Gewinne privatisiert und die Folgen eines möglichen nuklearen Unfalls durch eine Staatsgarantie sozialisiert werden.
Was uns mit der Aufkündigung des 2001 in Kraft getretenen "Atomkonsenes"1 bevorsteht, war bereits vor Ausgang dieser Bundestagswahl zu spüren: Plötzlich tauchten Akten auf, die (trotz ihrer Lückenhaftigkeit) belegen, dass die Entscheidung, das atomare Endlager in Gorleben bauen zu wollen durch gezielte Manipulation von Gutachten, Expertisen, durch massive Einflussnahme von Politikern auf wissenschaftliche Gutachten erfolgte.
Man kann getrost von einer professionellen Indiskretion ausgehen, von perfektem Timing und profundem Insiderwissen - aus dem Lager der SPD/Grünen, die die massiven Manipulationen durch die damalige CDU-Regierung in Land und Bund offen legten. Mit Blick auf das fünfzigjährige Bestehen des Atomforums fasste der Noch-SPD-Umweltminister Gabriel die Tätigkeit der "Propagandazentrale der Atomkonzerne"2 überraschend harsch so zusammen: "50 Jahre Atomforum - das bedeutet ein halbes Jahrhundert Lug und Trug."3
Trotz dieser ausgesprochen schwerwiegenden Vorwürfe schwiegen Atomindustrie und CDU. Seitdem wurde es seltsam still um diesen Gorleben-Fall. Aber warum legt man nur eine "Karte" auf den Tisch, anstatt das ganze Spiel hinzuschmeißen? Warum kündigt man nur an, dass man einen Untersuchungsausschuss zu den frisierten und unter Verschluss gehaltenen Gorleben-Akten erwäge?
Ein Parteien-Poker (hinter verschlossenen Türen) statt lückenlose und öffentliche Aufklärung?
Warum SPD und Grünen eine "Karte" nur anspielen, hat einen schlichten und beängstigen Grund: Auch CDU- und FDP-Kreise könnten "Dossiers" in die Öffentlichkeit lancieren, die belegen würden, dass sich bei der Durchsetzung der Atomenergie alle (Regierungs-)Parteien fragwürdiger Machenschaften bedient haben, von der CDU/CSU über die FDP bis hin zur SPD, in deren Regierungszeit bekanntlich die maßgeblichsten Entscheidungen für einen geschlossenen Atomkreislauf (einschließlich einer atomaren Wiederaufbereitungsanlage bis hin zu Endlagern) fielen.
Die Einflussnahme auf Gutachten, die katastrophale Prognosen und "Störfälle" vertuschen, ist also kein Privileg einer einzigen Partei, sondern Bestandteil der "Großen Koalition" in Sachen Atomenergie.
Der Physiker Professor Sebastian Pflugbeil hat in Publik-Forum 3/2009 bereits auf den Verdacht einen Manipulation in Zusammenhang mit einem Gutachten über Kindersterblichkeit rund um Atomkraftwerke aufmerksam gemacht.
Eine Studie, die Atomkraftwerke daraufhin untersuchte, ob sie einem "Terrorangriff" Stand halten würden und im Ergebnis u.a. das AKW Biblis als Risiko einstufte, wird seit dieser "Indiskretion" unter Verschluss gehalten und mithilfe des Siegels "geheim" einer rechtlichen und öffentlichen Überprüfung entzogen.
In dem hier dokumentierten "Fall" geht es um den glücklichen und seltenen Umstand, die Manipulation von Gutachten zugunsten der Atomenergie und die massive Einflussnahme von Aufsichtsbehörden nachzuweisen - ein "Fall", der nicht nur die CDU, sondern vor allem auch die SPD schwer belastet.
Die größte Leukämiedichte der Welt rund um Geesthacht
Anfang der 90er Jahre sorgte eine wachsende Zahl von Leukämiefällen nahe des AKW Krümmel und des staatlichen Atomforschungszentrums GKSS4 für große Unruhe. 1991 und 1992 wurden von den Landesregierungen Schleswig-Holstein und Niedersachsen Untersuchungskommissionen ins Leben gerufen. Die eine beendete ihre Arbeit ergebnislos, die zweite endete im Eklat: Die Mehrheit der darin versammelten Wissenschaftler legte ihre Arbeit nieder, nachdem sie die massiven Behinderungen durch Atomaufsichtsbehörde und Atomwirtschaft anprangerten: "Wir haben das Vertrauen in diese Landesregierung verloren." Seitdem herrschte Stillstand in Sachen Ursachenforschung, während sich die Leukämiefälle zum weltweit größten Cluster verdichteten.
Der Vorwurf von Seiten der Bürgerinitiativen und renommierter Wissenschaftler ist gravierend: Die rund um Geesthacht gefundenen hoch radioaktiven Mikrokügelchen sind weder Wurmkot oder natürliche Nuklide, noch "Emissionen" aus dem Atomkraftwerk Krümmel oder Fallout-Produkte aus dem AKW in Tschernobyl. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind sie das Ergebnis von (misslungenen) "besonderen kerntechnischen Experimenten"5, die nur auf dem Gelände der GKSS stattgefunden haben konnten.
"Und keiner weiß warum ..."
2004 begannen die Journalistinnen Angelica Fell und Barbara Dickmann mit einer ZDF-Dokumentation über die Hintergründe der tödlichen Leukämieerkrankungen rund um Geesthacht. Im Mittelpunkt stand eine erneute Probenentnahme nahe der GKSS, die sie begleiteten und filmisch dokumentierten. Mit der Untersuchung dieser Proben beauftragte man das Institut für Mineralogie der Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt. Mit der Absicht, alle Parteien an einen Tisch zu bringen, setzten sich die Redakteurinnen auch mit dem Leiter der Reaktorsicherheit in Kiel, Dr. Cloosters in Verbindung. Sie informierten ihn über das Vorhaben und boten ihm an, an der Probenentnahme teilzunehmen.
Dr. Cloosters zeigte sich interessiert und nannte zwei Bedingungen. Er wollte wissen, welches Institut mit der Untersuchung beauftragt wurde und nach welcher Methode die Bodenproben untersucht werden sollten. Die ZDF-Redaktion teilte den Namen des Instituts mit - und der Geologe Dr. Axel Gerdes, der die Untersuchung durchführte, legte schriftlich seine Untersuchungsmethode offen. Am 20.12.2004 wurden von Dr. Axel Gerdes in Gegenwart des ZDF-Teams eine Staubprobe und sechs Bodenproben aus der Elbmarsch genommen. Weder Dr. Cloosters noch ein anderer Mitarbeiter der Aufsichtsbehörde waren zugegen. Begründung:
Das Sozialministerium hat eine Teilnahme an dem Drehtermin (...) vor dem Hintergrund jahrelanger Forschung und den dabei gemachten Erfahrungen nicht für zielführend gehalten und deshalb darauf verzichtet."
Sechs Wochen später, am 4.2.2005 erschien das ZDF-Team im Institut für Mineralogie. Man wollte das Ergebnis auch im Bild festhalten und Dr. Axel Gerdes Gelegenheit zur Erläuterung geben. Fazit seiner Untersuchung war:
Die gefundenen Uran- und Plutoniumkonzentrationen sind mit einer Ausnahme als relativ niedrig im Vergleich zu typischen Konzentrationen in Böden und Gesteinen Deutschlands [einzustufen] "6
Nach einem Moment des Schweigens und Nachdenkens bat die ZDF-Redakteurin Angelica Fell darum, Proben unter dem Mikroskop zu betrachten. Ihr Blick war auf den angeschlossenen Monitor gerichtet, als Frau Fell wenige Sekunden später rief: "Da ist eins. Das meine ich!" Dr. Axel Gerdes schaute durchs Mikroskop. Zuerst fragte er: "Wo denn ...?" "Da, da, sehen Sie nicht?" erwiderte Frau Fell und zeigte mit dem Finger auf den Monitor. Kurz darauf räumte Dr. Gerdes ein: "Da sind erstaunlich viele, so um die hundert Stück."7
Die hier beschriebene Filmsequenz wurde aus dem am 2.4.2006 im ZDF ausgestrahlten Film: "Und keiner weiß warum... Leukämietod in der Elbmarsch" herausgeschnitten. Die ZDF-Redaktion begründete diesen Schritt mit belegten Aussagen des Institutsleiters Prof. Gerhard Brey, der mit rechtlichen Schritten drohte, sollte diese Sequenz in die Öffentlichkeit gelangen. Was versetzte den Institutsleiter Prof. Gerhard Brey in solche Panik?
Menschliches Versagen oder angewiesene Blindheit?
Natürlich ist es peinlich, wenn vor laufender Kamera ein Laie "mit bloßem Auge" etwas sieht, was ein Experte nicht finden, also auch nicht analysieren konnte. Aber resultierte die sichtbare Verlegenheit tatsächlich daraus, dass Dr. Axel Gerdes ein Fehler unterlaufen war, oder hielt die Szene vielleicht sogar fest, dass ein Wissenschaftler vor laufender Kamera dabei ertappt wurde, eine Manipulation zu decken?
Der Leiter der Reaktoraufsichtsbehörde in Kiel schlug zwar das Angebot aus, bei der Bodenprobeentnahme teilzunehmen. Er blieb jedoch alles andere als untätig. Unmittelbar vor Untersuchungsbeginn nahm Dr. Cloosters Kontakt mit dem Institutsleiter Dr. Gerhard Brey auf. Den Inhalt des Gespräches gibt Dr. Axel Gerdes so wieder:
Inzwischen kam ein Anruf vom Ministerium [...] an meinen Chef, ob er wüsste was ich/wir machen etc. Er hat wohl meinem Chef auch über die wilden Spekulationen bezüglich der Kügelchen erzählt, daraufhin hat mein Chef befürchtet, dass unsere Untersuchungsergebnisse, falls sie nur etwas leicht Ungewöhnliches zeigen, benutzt werden, um die Kügelchenspekulationen (Sie müssen zugeben, dass die Spekulationen brisant sind, falls etwas daran wahr sein sollte)[zu erhärten]. "
Die staatliche Intervention zeigte Wirkung. Nur drei Tage nach der Entnahme der Bodenproben ließ der Institutsleiter das ZDF-Team wissen, dass "wir nur auf dem offiziellen Weg etwas damit zu tun haben. D.h., wenn Sie an einer Untersuchung dieser Kügelchen interessiert wären, würde er Sie bitten, sich an das BKA bzw. die Polizei zu wenden. (...) Die Brisanz der Problematik ist einfach zu hoch.8
Um sicher zu gehen, dass es nichts gibt, was es nicht geben darf, rang der Institutsleiter der ZDF-Redaktion eine Erklärung mit folgendem Wortlaut ab:
Inhalt der Sendung wird u.a. eine mögliche Belastung des Bodens in dieser Region sein. Die im Zusammenhang mit den Vorkommnissen in der Elbmarsch immer wieder auftretenden Vermutungen, wonach es 'Kügelchen' gäbe, die radioaktives Material enthalten sollen, wird nicht Gegenstand dieser Sendung sein.
Doch der Institutsleiter begnügte sich nicht mit dieser Zusicherung. Er sorgte auch dafür, dass das, was nicht gezeigt werden darf, auch nicht untersucht wurde. Nach dem Gespräch mit dem Ministerium "untersagte" Dr. Brey seinem Mitarbeiter, "die Kügelchen explizit zu untersuchen".9