Mit wenig Aufwand viel erreichen
Mit Wahrscheinlichkeitsrechnung gegen die Pandemie
"Wir werden die Pandemie nicht am Rechenschieber besiegen", sagte Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.
Wirklich nicht? Zweckmäßig mit Zahlen hantieren, daraus passende Schlüsse und Handlungen ableiten, kann durchaus zielführend sein.
Ausgangspunkt
Das größte Problem bei der Bekämpfung der Pandemie ist ein Mangel an Wissen. Hätte jeder Infizierte ab dem Moment der Ansteckung einen roten Punkt auf der Stirn, wäre die Welt nicht im Krisenmodus. Die Tücke des Virus besteht darin, dass Infizierte eben nicht leicht erkennbar sind: Infektionen können bereits vor Ausbrechen der Krankheit weitergetragen werden und wahrscheinlich auch von Menschen, die gar keine Symptome aufweisen.
Ein großer Teil der Maßnahmen zielt darauf ab, die Verbreitung einzudämmen, d.h. zu verhindern, dass ein Infizierter weitere Menschen ansteckt: von Abstandhalten über Masken bis zu Kontaktbeschränkungen und Lockdown. Egal, wie man zu den Maßnahmen steht, eines ist offensichtlich: Da sie alle betreffen, haben sie eine entsetzlich schlechte Trefferquote.
Je nach Inzidenz eines Landkreises sind 99 Prozent, 99,9 Prozent oder noch mehr Menschen nicht akut infiziert und damit keine Gefahr für andere. Oder, um es mit der "Number Needed to Treat" auszudrücken: Um eine infizierte Person daran zu hindern, das Virus weiterzugeben, werden mehrere Hundert Menschen eingeschränkt, in ihren Kontakten, Aktivitäten, Freiheiten, kurz: ihrem Leben.
Die Maßnahmen scheinen implizit auch von der Prämisse auszugehen, dass "jeder ein Gefährder" und "jeder gleich gefährlich" ist. Doch die Wahrscheinlichkeit, ein Virenträger und damit eine Gefahr für seine Mitmenschen zu sein, ist individuell sehr unterschiedlich: Wer oft und viele Menschen trifft, stellt ein größeres Risiko dar als jemand, der nur selten Kontakt zu anderen hat oder fast immer nur zu derselben Person. Kontakte in geschlossenen Räumen sind riskanter als solche im Freien, lang dauernde Treffen riskanter als kurze, etc.
Im Extremfall kann das Ansteckungsrisiko null sein - ohne einen Test heranziehen zu müssen: Wer 14 Tage keinen Kontakt zu anderen Menschen hatte - sei es aufgrund von Quarantäne, aus Angst vor Ansteckung, oder weil jemand nun mal bevorzugt allein lebt - bei dem gilt ein Infektionsrisiko als ausgeschlossen. Theoretisch wäre es völlig problemlos, wenn solche Menschen einander treffen. Sie könnten alles tun, was momentan aus Infektionsschutzgründen untersagt ist: Mannschaftssport betreiben, im Chor singen, Parties feiern. Denn: wo keiner infiziert ist, kann auch keiner einen anderen anstecken.
Doch das ist ein reines Gedankenspiel, praktisch nicht umsetzbar. Die Gruppe der "Mit-Sicherheit-Nicht-Ansteckenden" ist zu klein und zu zerstreut, als dass sie sich untereinander treffen könnte. Sie ändert sich ständig; abhängig vom Zeitpunkt des letzten Kontaktes kann jemand nicht mehr oder noch nicht dazu gehören.
Es ist auch nicht erkennbar, wer überhaupt dazu gehört: Wer weiß genau, wann er wen das letzte Mal unter welchen Umständen getroffen hat? Und erst recht, welches Risiko von seinen Kontaktpersonen ausging? Dennoch, die Beispiele machen deutlich, dass das Risiko einer Ansteckung ungleich verteilt ist. Und dieses Wissen lässt sich nutzen.
Vorhandenes Wissen nutzen
Mit mehr Information über die Beteiligten können Gegenmaßnahmen gezielter gestaltet werden, d. h. sowohl wirksamer als auch weniger einschneidend. Dazu sind noch nicht einmal Gewissheiten erforderlich. Um eine statistisch relevante Senkung von Fallzahlen zu erreichen, genügt es, eine ungleiche Verteilung von Risiken zu erkennen und auszunutzen.
Die bereits oft geäußerte Forderung, den Schwerpunkt der Maßnahmen auf den Schutz von Risikogruppen zu legen, ist ein solcher Ansatz. Er beruht auf verschieden hohen Wahrscheinlichkeiten, schwer zu erkranken - sie ist für Ältere und Vorerkrankte viel höher ist als im Rest der Bevölkerung. Diese Strategie fokussiert also darauf, wie gefährdet diese Personengruppe ist. Hier wird ein anderer Ansatz vorgestellt: Sein Angelpunkt ist die von einer Person ausgehende Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung.
Die wesentliche Information zur Einschätzung des Risikos, dass jemand infiziert und damit ansteckend für andere ist, sind seine persönlichen Kontakte. D.h. wen hat er getroffen? Wann? Wie lange? Unter welchen Umständen (draußen oder drinnen, Raumgröße, ...). Diese Informationen sind im Prinzip leicht zugänglich - sie müssen lediglich notiert werden.
Zum Einfluss von Faktoren wie Kontaktdauer, Raumgröße, Personenzahl etc. auf die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung gibt es Erfahrungswerte und Formeln (z.B. vom Max-Planck-Institut für Chemie). Damit ist es möglich, aus Anzahl und Art der Kontakte das individuelle Risiko zu ermitteln: ein Gradmesser für die Wahrscheinlichkeit, infiziert zu sein und damit andere anstecken zu können. Zur besseren Visualisierung bietet es sich an, dieses Risiko in Form eines abgestuften Status darzustellen, mit einem Farbcode, z.B. grün / gelb / orange / rot.
Technische Unterstützung
Der Ansatz beruht darauf, Informationen zu erfassen, zu verdichten und anzuzeigen. Damit liegt es nahe, ihn durch eine Software zu unterstützen, aufgrund der großen Verbreitung von Mobiltelefonen zweckmäßigerweise als Smartphone-App.
Eine solche App
- lässt den Benutzer seine Kontakte erfassen,
- erinnert ihn in regelmäßigen Abständen daran, dies zu tun,
- ermöglicht, sich mit anderen App-Benutzern zu verbinden, zwecks Austausch der Risikodaten,
- ermittelt aus den zurückliegenden Kontakten den aktuellen Risikostatus.
Potentielle Kontaktpersonen des App-Benutzers können anhand dessen Risikostatus entscheiden, ob sie ihn treffen wollen, oder aber ein Treffen lieber verschieben oder per Zoom/Telefon stattfinden lassen. Die App nützt damit zunächst nicht ihrem Inhaber, sondern seinen Kontaktpersonen. Ihr volles Potential entfaltet sie, wenn alle Teilnehmer eines Treffens die App verwenden. Sie beruht damit auf wechselseitigem Altruismus: "Ich verringere dein Risiko, du verringerst mein Risiko".
Dazu kommt ein weiterer, entscheidender Vorteil: Im Falle eines "günstigen" Status der anderen verschlechtert ein solches Treffen den eigenen Risikostatus nicht oder deutlich weniger als ein Treffen mit Personen mit unbekanntem Risiko. Die Wirkung der App kann damit weite Kreise ziehen.
Clusterbildung
Es ist zu erwarten, dass sich mit Nutzung der App nach einiger Zeit "grüne Cluster" bilden: kleine Gruppen von Menschen, die untereinander enge persönliche Bindungen, aber davon abgesehen nur wenige andere Kontakte haben; sie werden schnell Risikostatus grün erreichen.
Diese kleinen Cluster können allmählich wachsen oder zusammenwachsen. Zum Beispiel kann eine Gruppe von drei "grünen" Kontaktpersonen eine weitere Person in ihre Treffen aufnehmen, wenn diese nach einiger Zeit der Kontakt-Zurückhaltung ebenfalls Status grün erlangt hat. Auch zwei Gruppen, deren Mitglieder alle Status grün haben, können einander ohne Risiko treffen und bilden damit ein größeres Cluster.
Innerhalb grüner Cluster ist praktisch kein Ansteckungsrisiko vorhanden, was es ermöglichen würde, Treffen in solchen Clustern weniger starken Einschränkungen zu unterwerfen. Der so entstehende Anreiz kann einen sich selbst verstärkenden Prozess in Gang setzen, durch den grüne Kontaktpersonen allmählich zahlreicher und grüne Cluster größer werden. Das wiederum lässt die anfängliche Einschränkung, nur grüne Kontakte treffen zu können, ohne den eigenen grünen Status zu verlieren, immer weniger ins Gewicht fallen.
Länder mit verschiedenen Inzidenzen
Ein Gedankenexperiment illustriert die Wirkungsweise des Ansatzes: Jeder Risikostatus entspricht einem Land. In Land Rot besteht das "normale" (also höchste) Ansteckungsrisiko. In den Ländern Orange und Gelb es ist geringer, bis hin zum Land Grün, in dem es keine Infektionen gibt. Nur handelt es sich bei diesen Ländern um virtuelle Gebilde, nicht um geografisch getrennte Gebiete mit Schlagbäumen und Grenzkontrollen dazwischen.
Jeder App-Benutzer hält sich in dem "Land" auf, das seinem Risikostatus entspricht. Direkt nach Installation der App befindet er sich (aus Gründen der Vorsicht) im Land Rot. Durch sein Verhalten - wenige oder viele, risikolose oder riskante Kontakte - kann er im Laufe der Zeit "umziehen" Richtung Land Orange, Gelb oder Grün. (Kontaktpersonen ohne App fließen in die Risikoberechnung ein wie Kontakte aus Land Rot - wieder aus Gründen der Vorsicht.)
Die App-Benutzer können sich zwischen den Ländern in beiden Richtungen bewegen. Zum Beispiel führen viele oder risikoreiche Treffen dazu, dass sich der Status eines Benutzer "verschlechtert", und er z.B. nach Land Orange oder Rot "umzieht". Umgekehrt bewirkt eine hinreichend lange Zeit, in der riskante Kontakte eingeschränkt wurden, einen Umzug z.B. nach Land Gelb oder Grün. Bewegen sich per saldo mehr Menschen in ein risiko-ärmeres Land, so ist das gleichbedeutend mit einer Einzudämmen des Infektionsgeschehens.
Die Voraussetzung für einen Umzug nach Land Grün hat oberflächliche Ähnlichkeiten mit einer Quarantäne. Sie funktioniert aber entgegengesetzt: Sie wird nicht verhängt, sondern beruht auf der freiwilligen Entscheidung des Benutzers, Kontakte eine Zeitlang zu beschränken. Sie geht nicht auf ein Ereignis in der Vergangenheit zurück, d.h. eine tatsächliche oder vermutete Infektion, sondern sie wirkt in die Zukunft: Erst begrenzt der Benutzer seine Kontakte, anschließend gelangt er in ein Land mit "besserem" Risikostatus.
Die App bewirkt, dass Menschen in ein risiko-ärmeres Land umziehen können - die Anzeige des Risikostatus macht das jeweilige "Land" erst erkennbar und damit existent. Und sie setzt Anreize, dass sie es wollen, denn Länder mit "besserem" Risikostatus sind attraktiver: aufgrund der geringeren Ansteckungsgefahr, weil sie mehr Freiheiten ermöglichen, und langfristig auch, wenn sich dort mehr und mehr Freunde aufhalten.
Die psychologischen Faktoren
Nicht zu unterschätzen sind die psychologischen Faktoren des Ansatzes:
- Die Differenzierung des Infektionsrisikos in mehreren Stufen gibt den App-Benutzern mehr Kontrolle und Handlungsoptionen als eine Situation, in der jede Kontaktperson als gleich große Bedrohung erscheint.
- Der Ansatz beruht auf Freiwilligkeit und damit intrinsischer Motivation. Wer sich die Mühe macht, regelmäßig seine Kontakte zu erfassen, wer aus eigener Entscheidung auf eine Begegnung verzichtet, will aktiv etwas zur Verbesserung der Situation beizutragen.
- Umsichtiges Verhalten - wenige/nur risikoarme Kontakte - wird doppelt "belohnt", auf gemeinschaftlicher und individueller Ebene: der Benutzer sieht, dass sein Verhalten dazu beiträt, Infektionen zurückzudrängen, und mit Status grün ist er als Kontaktperson attraktiver für andere.
All das steht im Gegensatz zu Maßnahmen, die primär auf Verordnungen und Strafen setzen, alle Menschen als potentielle Gefährder ansehen, in dem der Einzelne kaum Einfluss hat, und in dem regelkonformes Verhalten nicht belohnt wird, sondern im Gegenteil der Eindruck entstehen kann, man werde für den Leichtsinn anderer "mitbestraft".
"bottom-up" statt "top-down"
Die Zuverlässigkeit des Risikostatus und damit des gesamten Ansatzes hängt davon ab, dass die App-Benutzer ihre Kontakte sorgfältig und vollständig erfassen. Gegen unbeabsichtigt falsche oder unvollständige Daten können technische Sicherheitsmechanismen installiert werden: regelmäßige Erinnerungen an die Eingabe der Kontakte, explizite Bestätigung durch den Benutzer, wenn keine stattgefunden haben, Konsistenzprüfungen, etc.
Gegen absichtliche Falschangaben - etwa mit dem Ziel, sich einen besseren Risikostatus zu verschaffen - gibt es keinen technischen Schutz, es kann ihn auch nicht geben. Der Ansatz beruht auf der Voraussetzung, dass die Teilnehmer ihre Mitmenschen schützen wollen und deshalb ein Interesse daran haben, ihre Kontakte wahrheitsgemäß zu erfassen. Diese Motivation ist gerade im persönlichen Umfeld gegeben: niemand will fahrlässig Eltern, Kinder oder Freunde infizieren, vielfach ist die Befürchtung, Familienmitglieder zu gefährden weit größer als die Angst, selbst zu erkranken.
Ein grüner Risikostatus einer potentiellen Kontaktperson ist nicht allein ausschlaggebend für die Entscheidung, sich mit ihr zu treffen - er ist immer gekoppelt an das Vertrauen, das man ihr entgegen bringt. Der Ansatz wird sich möglicherweise zuerst und am besten im Privaten, im engen persönlichen Umfeld etablieren - also genau dort, wo Verordnungen womöglich am wenigsten greifen und staatliche Kontrolle weder praktikabel noch wünschenswert ist.
Es ist damit ein Ansatz bottom-up, "von unten": getragen von Einzelnen, die sich zusammenschließen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen. Als Instrument "von oben" - zur Kontrolle oder Überwachung - ist er per Konstruktion ungeeignet.
Geringe Kosten
Ein weiterer Charme des Ansatzes sind seine äußerst geringen "Kosten": Sie bestehen im wesentlichen aus der Zeit, die die Benutzer für die regelmäßige Erfassung ihrer Kontakte aufwenden. (Und einmalig der Programmierung der - hier nur grob skizzierten - Smartphone-App.) Anders als bei vielen anderen Maßnahmen - Tests, Trennwände, Lüftungssysteme, bis hin zu Schul- und Geschäftsschließungen - sind sowohl der finanzielle Aufwand als auch die Kollateralschäden praktisch null.
Unterschiede zu anderen Corona-Apps
Ein Pfeiler des Ansatzes ist die App, welche die Verwaltung der Kontakte unterstützt und daraus laufend den Risikostatus ermittelt. Um deutlich zu machen, dass sie sich grundlegend von bereits bestehenden "Corona-Apps" unterscheidet, hier eine Gegenüberstellung:
Die bekannteste und verbreitetste App dieser Art ist die Corona Warn-App, herausgegeben von der Bundesregierung und dem RKI. Sie dient dazu, Infektionsketten nachzuverfolgen und warnt, falls der Benutzer Kontakt zu jemandem hatte, der sich inzwischen als infiziert herausgestellt hat. Damit wirkt sie in die Vergangenheit. Der hier beschrieben Ansatz dagegen hat das Ziel, Infektionen zu reduzieren - durch Risiko-Ermittlung und -Differenzierung, Visualisierung und Anreize zu risikoärmerem Verhalten. Er wirkt damit in die Zukunft.
Die Corona Warn-App sammelt Kontakt-Daten technisch (per Bluetooth). Der Benutzer muss also, abgesehen von der Installation, nichts weiter tun. Auf diese Weise werden aber viele Kontakte nicht erfasst, z.B. wenn der andere kein Handy oder die App nicht installiert hat, der Akku leer ist, etc. Mit dem hier vorgestellten Ansatz dagegen werden die Kontakte vom Benutzer selbst erfasst - gestützt und erleichtert durch die App, aber letztlich unter seiner Kontrolle.
Damit sind sie, gewissenhafte Erfassung vorausgesetzt, vollständig und präzise. Auch werden infektions-relevante Daten einbezogen, die die Corona Warn-App nicht berücksichtigt, wie Raumgröße, Personenzahl, und, am wichtigsten: der Risikostatus der Kontaktpersonen. (Informationen, die - aber das wäre ein anderes Projekt! - auch eine wertvolle Datenbasis bilden könnten zur Klärung der nach wie vor offenen Frage, welche Faktoren eigentlich die Hauptursache für das Infektionsgeschehen darstellen.)
Eine weitere Gruppe von Corona-Apps sind Kontakttagebücher (z.B. coronika, Cluster Diary, Doctorbox Kontakttagebuch ...). Auch sie unterstützen den Benutzer dabei, Kontakte zu erfassen und haben in dieser Hinsicht Ähnlichkeit mit dem hier präsentierten Ansatz. Sie dienen aber lediglich als Gedächtnisstütze und erleichtern im Falle einer Infektion die Kontaktnachverfolgung, haben also das gleiche Ziel und die gleiche Funktion wie die Corona Warn-App.
Aktueller Stand
Die Programmierung der o.g. App ist gestartet. Weitere Freiwillige für Detail-Konzeption und Implementierung - Softwareentwickler, Analytiker, Statistiker - sind willkommen.