Mitbestimmen über das eigene Lebensende

Erstmals zeigt eine Studie der Ruhr-Universität, wie die Schmerzspezialisten ihre Patienten behandeln

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Das Selbstbestimmungsrecht von Patienten ignorieren auch einige Palliativmediziner, die Todkranken eigentlich das Sterben im Einklang mit ihren Wünschen erleichtern wollen. Erstmals zeigt eine Studie der Ruhr-Universität, wie die Schmerzspezialisten ihre Patienten behandeln. Eine Verkürzung der Lebenszeit wurde bei der Behandlung häufig in Kauf genommen. Dabei beziehen nicht alle Mediziner die Sterbenden in ihre Entscheidungen mit ein. Für Patienten aber bleibt es schwer, selbst Einfluss auf die Behandlung zu nehmen.

In Hospizen oder Palliativstationen geht es nicht darum "dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben", wie es Cecily Saunders einmal auf den Punkt brachte. Wie den Todkranken aber tatsächlich durch die Palliativmedizin geholfen werden kann, darüber gab es bisher für Deutschland keinen umfassenden Überblick. Eine aktuelle Studie aus diesem Jahr von Medizinethikern der Ruhr-Universität zeigt nun, dass 78 Prozent der Palliativmediziner, die für die Studie befragt wurden, bei ihren Patienten in der letzten Lebensphase Maßnahmen der Symptomlinderung mit einer möglichen Lebensverkürzung durchführten. Und:

Bemerkenswert ist, dass ein Teil der befragten Ärztinnen und Ärzte, insbesondere in der Gruppe der Befragten ohne palliativmedizinische Zusatzbezeichnung, eine Verkürzung des Lebens als Konsequenz ärztlichen Handelns nicht nur vorhersieht sondern beabsichtigt.

Jan Schildmann

Der Mediziner Schildmann ist einer der Autoren der Studie End-of-life practices in palliative care, deren erste Ergebnisse in der Zeitschrift Palliative Medicine erschienen sind. Zu 780 Todesfällen wurden erstmals die ärztlichen Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) über ihre Therapieentscheidungen befragt.

Zu den brisantesten Ergebnissen aber gehört, dass ein Teil der Mediziner entgegen den eigenen Handlungsmaximen der DGP ihre Patienten bei der Entscheidung über lebensverkürzende Maßnahmen nicht einbezogen hat. Betroffen davon waren 47 Patienten, obgleich sie zum Zeitpunkt der Entscheidung als selbstbestimmungsfähig eingeschätzt wurden. Das "beste Interesse des Patienten" beziehungsweise "die Vermeidung eines möglichen Schadens" wurden als Gründe für ein solches Vorgehen angegeben. Hier herrsche bei einigen Medizinern immer noch ein überholtes Selbstverständnis einer paternalistischen Arzt-Patienten-Beziehung vor, wie die Autoren meinen.

Unnötiges Leiden vermeiden

Weil für die Studie nur Ärzte befragt wurden, bleibt unklar, was ihr Handeln letztlich für Patienten bedeuten kann. Vor allem wenn in 69 Prozent der Fälle therapeutische Maßnahmen begrenzt wurden, wodurch der Tod möglicherweise früher eintrat. Wenn immerhin rund 20 Prozent der Befragten auf weitere Therapien verzichteten und damit sogar eine beabsichtigte Lebensverkürzung einherging, so wäre es wichtig, Genaueres über diese Entscheidungen zu wissen. Denn selbst mit der wirksamsten Schmerztherapie und anderen Behandlungen zur Linderung der Leiden Schwerstkranker stoßen Ärzte immer wieder an die Grenzen des Machbaren. Nicht immer lassen sich Schmerzen wirksam besänftigen. Vorstellbar ist doch tatsächlich, dass es Gründe dafür geben kann, eine Behandlung nicht um jeden Preis fortzusetzen.

Aber die Statuten der DGP sehen keine lebensverkürzenden Maßnahmen vor, in denen es heißt: "Das Leben soll nicht künstlich verlängert und der Sterbeprozess nicht beschleunigt werden." Und so war der DGP in ihrer Stellungnahme zu "End-of-life practices in palliative care" mit Hinweis auf aus ihrer Sicht methodische Mängel der Studie eine Klarstellung wichtig. Die Ergebnisse sprächen weniger dafür, dass deutsche Ärzte in Einzelfällen lebensverkürzende Maßnahmen anwendeten, sondern zeigten viel eher, wie sensibel mit diesem Thema hier umgegangen werde. An dem verantwortungsvollen und sensiblen Umgang der befragten Ärzte lässt die Studie aber eigentlich keinen Zweifel zu, sieht man einmal von der oben angesprochenen Verletzung der Patientenautonomie einmal ab.

Schwerer aber wiegt, dass bei zehn Patienten der Tod gezielt durch "Substanzen" herbeigeführt wurde. "In neun Fällen durch den Arzt und in einem Fall durch den Patienten selbst." Das widerspricht nun ganz und gar den Maximen der DGP, die dazu erklärt:

Das praktische Verhalten einzelner Ärzte kann nicht als Legitimation für eine Revision der ethischen Beurteilung von Tötung auf Verlangen oder assistiertem Suizid herangezogen werden ... Tötung auf Verlangen oder assistierter Suizid werden abgelehnt.

DGP

Wie bei der Frage einer gewollten oder in Kauf genommen Lebensverkürzung wäre es wieder wichtig, mehr über die Beweggründe der Ärzte zu erfahren, die sich ja immerhin strafbar machten, auch wenn sie einen Patienten möglicherweise auf sein Verlangen hin getötet und dann aktive Sterbehilfe geleistet hätten.

Jochen Vollmann, Professor für Medizinethik an der Ruhr-Universität und ebenfalls einer der Autoren der Studie meint:

Die offiziellen Verlautbarungen zum ärztlichen Standesethos stimmen offenbar nicht mit den moralischen Bewertungen und Handlungen zahlreicher Ärztinnen und Ärzte in Deutschland überein. Die neuen empirischen Forschungsergebnisse sollten als Grundlage für eine ehrliche Debatte über zeitgemäße ethische Richtlinien zum ärztlichen Handeln am Lebensende genutzt werden.

Jochen Vollmann spielt auf eine repräsentative Befragung im Auftrag der Bundesärztekammer zur Einstellung von Ärzten zur Sterbehilfe an. Durchgeführt hat die Studie Ärztlich begleiteter Suizid und aktive Sterbehilfe aus Sicht der deutschen Ärzteschaft das Institut für Demoskopie Allensbach, die im Juli diesen Jahres veröffentlicht wurde. Ein Drittel der befragten Ärzte befürworten die ärztliche Beihilfe zum Suizid in bestimmten Fällen. Aber 62 Prozent und damit die Mehrheit der Ärzte lehnt sie ab. Die entsprechende Frage lautete:

Es wird über eine Regelung diskutiert, die es dem Arzt erlaubt, einen unheilbar Kranken beim Suizid zu unterstützen, z. B. indem er ihm tödliche Medikamente verschafft, die dieser dann selbst einnimmt. Befürworten Sie eine solche Regelung zu einem ärztlich begleiteten Suizid oder lehnen Sie das ab?

Werteentscheidungen von Patient und Arzt

Einem Sterbenden bei der Selbsttötung zu helfen, wäre nach deutschem Recht nicht strafbar. Was geht in einem Patienten vor, der sich selbst töteten will mit Hilfe seines Arztes? Und wie erlebt der Mediziner seinen Patienten, wenn er den Tod als vielleicht einzigen Ausweg vor unerträglichem Leiden sieht?

Sich mit den Ängsten und körperlichen Nöten von Krebspatienten auseinanderzusetzen und mit ihnen eine den individuellen Bedürfnissen und medizinischen Notwendigkeiten entsprechende Therapie zu finden, ist Bestandteil einer guten palliativmedizinischen Versorgung. Dabei sollte man sich bewusst machen, welche mitunter unvorstellbar starken Schmerzen ein Patient tatsächlich aushalten muss, der an Krebs erkrankt ist. Schmerzen, die sich nicht oder nur schwer beschreiben lassen. Zur Linderung durch Medikamente soll sich der Arzt an den Angaben des Patienten orientieren, der die Stärke der Schmerzen mit einer Zahlenskala von 0 für "kein Schmerz" bis 10 für "stärkster vorstellbarer Schmerz" bestimmen kann. Während auf der Stufe 1 Paracetamol und ähnliches reicht, können die stärksten Schmerzen Mittel wie Morphin besänftigen.

Noch immer gibt es keine flächendeckende stationäre wie ambulante palliativmedizinische Versorgung in der Bundesrepublik. Aber im Vergleich zu 2005, als ich erstmals in Telepolis über das Thema schrieb, gibt es heute 384 Palliativstationen und Hospize in Deutschland und damit rund 100 mehr als vor fünf Jahren. Immerhin ist ab 2014 Palliativmedizin Pflichtfach im Medizinstudium, was einer der wichtigsten Schritte hin zu einer besseren Versorgung ist.

Wie aber kann ein Todkranker selbst Einfluss auf die Behandlung nehmen, der mehr oder weniger eingebunden ist in die Routinen und Vorgaben des Klinikalltags, wie sie auch auf Palliativstationen trotz der intensiven Zuwendung durch Ärzte und Pflegepersonal herrschen? Jan Schildmann meint dazu: "

Sie sind Experte ihrer Werthaltungen, die Sie dem Arzt vermitteln können. Beispielsweise möchte jemand, dass alle medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden oder nicht, dann sollte der Arzt das wissen.

Entscheidend bleibt, dass Arzt und Patient tatsächlich ins Gespräch kommen. Sollen Schmerzen so stark gedämpft werden, dass auch die Müdigkeit zunimmt und jemand in einen Halbschlaf verfällt? Ohne Schmerzen aber auch ohne die Möglichkeit noch am Leben teilzunehmen. Aber das sind theoretische Fragen. Jeder Betroffene kann sie erst in der konkreten Situation für sich beantworten, möglichst frühzeitig bevor der Krankheitsverlauf eine Mitbestimmung unmöglich macht.

Über welche Wertekonflikte sich Arzt und Patient verständigen müssen, erörterte Christof Müller-Busch in einem Vortrag, der auf den Seiten des Instituts für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin der Ruhr-Universität als Video veröffentlicht ist. Der Mediziner gründete die Palliativstation Havelhöhe in Berlin als eine der ersten Einrichtungen in Deutschland. Er war bis Sommer dieses Jahres vier Jahre lang Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.

In seinem Vortrag geht es um die "Palliative Sedierung am Lebensende - Medizinische und ethische Herausforderungen." Es geht also um die Verwendung starker Beruhigungs- und Schmerzmittel, die durch eine Bewusstseinsminderung unerträgliches Leiden verhindern. "Darf man das? Kann ich das? Muss ich das tun?", fragt der Arzt in seiner Rede und bezieht sich dabei auf den Wunsch einer Patienten, die die mit der weiteren Behandlung ihrer Krebserkrankung einhergehenden erheblichen und schwer zu schildernden körperlichen Beeinträchtigungen nicht mehr ertragen will. Neben den ethischen Fragen stehen medizinische Überlegungen im Vordergrund, wie und welche Linderung noch möglich ist. Und dabei ist und bleibt man als Patient auf den Rat des Arztes angewiesen.

Zuhause sterben

Wenn möglichst allen von Schmerzen geplagten Sterbenden auf einer Palliativstation ein sanfter Tod ermöglicht werden könnte, ohne dass sie fürchten müssten, um jeden Preis allen nur möglichen lebensverlängernden Behandlungen in einer Klinik ausgesetzt zu sein oder sie ambulant zuhause versorgt werden könnten, dann würde vermutlich für viele Menschen die Sterbehilfe als Möglichkeit, dem Leiden ein schnelles Ende zu machen, weniger dringlich erscheinen.

Wolfgang Prosinger erzählt in seinem Buch "Tanner geht" von dem Wunsch eines Mannes, sein Leben zu beenden, den er bis zu seinem Lebensende in der Schweiz begleitete, wo er Sterbehilfe in Anspruch nahm. Ulrich Tanners Schmerzen ließen sich nicht mehr lindern, deshalb fürchtete er den Tod weniger als weitere Lebensjahre mit Qualen. Und er wollte selbst über sein Sterben bestimmen, so lange er das noch konnte, ohne auf Ärzte angewiesen zu sein. Deshalb wendete er sich an den Verein Dignitas in der Schweiz, der ein Zimmer und das tödliche Medikament für seinen Freitod bereitstellte.

Aber der Ausweg in die Schweiz kostet nicht nur viel Geld, er steht für viele Menschen auch im Widerspruch zu einer Sterbekultur und den Wünschen der meisten Menschen in Deutschland, die lieber in ihrer gewohnten Umgebung und im Kreis von vertrauten Menschen sterben möchten. Angehörige aber kümmern sich oft zu spät um eine ambulante Hospiz- und Palliativbetreuung. Viele wissen von der Möglichkeit eines "Sterbens dort, wo man zuhause ist" nichts, wie der Titel einer aktuellen Studie in der Zeitschrift für Palliativmedizin (2010, 11) zeigt. Das Hospiz werde in der Bevölkerung noch allzu oft mit "in Kürze sterben" gleichgesetzt:

Daher nehmen Angehörige häufig erst Kontakt mit einem Hospizdienst auf, wenn der Betroffene bereits im Sterben liegt. So können sich die Hospiz-Mitarbeiterinnen aber nicht mehr so gut auf die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen einstellen.

Werner Schneider

Der Soziologe an der Universität Augsburg führte die Studie mit Unterstützung des Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verbandes (DHPV) und der Deutschen Krebshilfe durch. Was die Versorgung Sterbender anbelangt, so gibt es große Unterscheide zwischen Stadt und Land. In ländlichen Regionen sind die Menschen erwartungsgemäß noch immer viel schlechter mit ambulanten Hospiz- und Palliativdiensten versorgt. Für sie steigt die Wahrscheinlichkeit eines Lebensendes in einer Klinik.

Zuhause sterben kann auch unter schwierigen Bedingungen möglich sein, wobei eine zuverlässige Betreuung auch durch ein soziales Netzwerk gewährleistet sein sollte, dass die professionellen Pfleger unterstützt. Denn eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung kann ein Pflegedienst nicht gewährleisten.

Der Berliner Palliativmediziner Stefan Putz von Homecare, der 24 Stunden jeden Tag für seine Patienten erreichbar war und sie auch nachts besuchte, berichtete mir einmal von einer jungen Frau. Sie konnte nur noch mit Hilfe eines Sauerstoffgerätes atmen. Neben einem zunehmend schmerzhaften Husten fürchtete sie nichts mehr als die Unterbrechung der Sauerstoffversorgung durch einen Defekt oder einen Stromausfall. Dann wäre sie qualvoll erstickt. Als sich mit dem Krankheitsverlauf das Lebensende abzeichnete, führten die Frau, ihre Familie und der Arzt lange Gespräche und entschieden sich für den Einsatz einer Schmerzpumpe, über die kontinuierlich ein Medikament eine hochwirksame Linderung verschaffte. Alle waren sich klar darüber, damit das Sterben zu beschleunigen. Außerdem verfiel die junge Frau nach und nach in einen Halbschlaf und starb dann wenige Tage später.

Statt weiterhin der Geißel von unerträglichen Symptomen ausgesetzt zu sein, ermöglichte ihr die Palliativmedizin die Selbstbestimmung über den eigenen Körper und den eigenen Tod zuhause bei ihrer Familie.