Mörderische Wut
Der "Berliner Amokläufer" und das Leben in der Aufmerksamkeitsgesellschaft
Die Wirklichkeit der Aufmerksamkeitsgesellschaft mit ihrem primären Gut der Prominenz ist grotesk. Ein 16-Jähriger läuft während eines unter Medienbeobachtung stehenden Großereignisses mit einem Messer durch eine Menschenmenge und sticht wahllos zu. Damit schafft er es, in der bereits angespannten Atmosphäre vor der WM zur Topnachricht zumindest in Deutschland zu werden. Eine Schauspielerin bekommt in Namibia ein Kind, wovon Medien auf der ganzen Welt schon seit Wochen berichten. Das Recht auf das erste Bild vom Prominentenbaby wurde angeblich für Millionen verkauft. Das reiche Schauspielerpaar hat sich ein ganzes Hotel gemietet, die namibische Regierung hilft dabei, Journalisten fern zu halten und überwacht dafür sogar die Grenzen. So wird das Hotel bewacht von der Polizei, die auch schon Journalisten festgenommen und außer Landes verwiesen hat. Da dieses offenbar große, eine globale Öffentlichkeit genießende Ereignis in allen, auch in den seriösen Medien Eingang gefunden hat, muss es sich um etwas sehr Wichtiges handeln, dem man sich nicht entziehen kann – ebenso wenig wie dem Jugendlichen, der in mörderischer Wut oder Raserei Dutzende von Menschen kurz vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft verletzte.
Die Lehre, die die Menschen aus dem Medienhype um die prominente Schauspielerin, die mittlerweile Mutter wurde, ziehen können, ist ganz banal, dass derjenige, der prominent geworden ist, große Aufmerksamkeit erhält, was auch oft mit entsprechendem Einkommen und gesellschaftlicher Bedeutung verbunden ist. Deutlich ist auch, dass mittlerweile Prominenz großen gesellschaftlichen und manchmal auch direkten politischen Einfluss besitzt, was auch wenig verwundert, weil Prominenz objektivierte und akkumulierte Aufmerksamkeit ist (die freilich nicht nur Menschen, sondern auch Themen, Ereignisse oder Dinge haben können).
Weniger klar ist jedoch, wie der Weg zur Prominenz aussieht. Die Aufmerksamkeitskarriere können vielleicht mehr Menschen als bisher, vermutlich aber weniger lang und in mehr Nischen, aufgrund von sehr unterschiedlichen Eigenschaften und Leistungen beschreiten, die allerdings am besten schon in einer medialen Öffentlichkeit demonstriert werden sollten. Auch wenn nicht sicher ist, was benötigt wird, um ganz nach oben zu kommen, so drängeln sich viele um Angebote etwa in den Medien wie "Deutschland sucht den Superstar" oder jetzt etwa bei „Popstars“ von Pro Sieben wahrzunehmen, die solch einen Aufstieg verheißen – und zugleich aufmerksamkeitsökonomisch ausbeuten. Gelernt wird dabei nebenbei, dass Prominenz Selektion bedeutet, dass viele auf der Strecke bleiben und manche die sich steigernde Aufmerksamkeit genießen können, selbst wenn sie nur kurz währt und sie gleich wieder im schwarzen Loch der Aufmerksamkeit verschwinden.
Für die meisten jedoch bleibt bestenfalls eine sehr regionale oder lokale Prominenz in einer Nische oder das Leben als Fan, geplagt aber vermutlich vom Versprechen des möglichen Aufstiegs. Natürlich gibt es auch andere, nicht systemimmanente Karrieren, die Prominenz und Einkommen auf andere Weise ermöglichen. Einer dieser Wege ist neuerdings wieder der Terrorismus, also die Durchführung von spektakulären, für die mediale Aufmerksamkeit inszenierten Taten, die Angst und Schrecken erregen. Schon lange können die Drehbücher für solche blutigen Spektakel aufgrund vieler Vorlagen und Erfolge gelernt und geplant werden. Allerdings verlangen Terrorakte logistisch meist kollektive Organisation und irgendeine Form ideologischer Ausrichtung, zudem kommen hier nur die großen Anführer und Strategen wie bin Laden, Sawahiri oder Sarkawi zur Geltung und Selbstmordattentäter, die zwar eine große Erfolgsquote haben, verfallen in aller Regel so schnell wie ihr Anschlag wieder in die dunkle Nacht der Aufmerksamkeit.
Er sieht so unschuldig aus! Das nette Lächeln, das zarte Kindergesicht. Ein Foto von Mike P., aufgenommen in der 5. Klasse. Nur vier Jahre später wurde dieser süße Junge zu einem brutalen Amok-Läufer!
Bild unter dem Titel „Irrer Amokläufer“
Es gibt aber auch die in der Aufmerksamkeitsgesellschaft Überflüssigen, die meist alleine und mit weitaus geringerer Vorbereitung ihr Fanale als „surrealistische“ Tat inszenieren, also als nicht mit einer Ideologie verbundener Terrorakt, der auch zum Preis des Lebens oder einer langen Strafe Aufmerksamkeit und damit Prominenz erzeugen soll. Alkohol, Drogen, psychische Erkrankungen, persönliche Misserfolgserlebnisse oder, wie auch beim „Berliner Amokläufer“, Zerfall der Familie, schnell aufbrechende Aggressivität, Faszination an Waffen und die heute üblicherweise zur Erklärung angeführten gewalttätigen Computerspiele (Eine Nachbarstochter über Mike: „Er spielte ständig brutale Computerspiele. In einem lief ein Mann mit einer Axt herum, tötete wahllos Leute“, so Bild) mögen Auslöser oder Hintergrund sein, die desaströsen Folgen der selektiven Aufmerksamkeitsökonomie werden aber seltsamerweise nicht gerne thematisiert, als wolle man einen zu klaren Blick auf das Mediengeschäft und die aktuelle gesellschaftliche Wirklichkeit vermeiden.
Der Preis für den Glanz der einen, die sich einer globalen Medienöffentlichkeit mit großen Einkommen erfreuen, sind die meist anonymen Leiden der Fans und Deklassierten, der zu Zuschauern verdammten Masse. Explosiv wird das, weil die von der Aufmerksamkeitsgesellschaft versprochene und verlangte Prominenz mit Anerkennung, unabdingbar für das Selbstwertgefühl eines jeden Menschen, verbunden ist. Die „kleine“ Anerkennung unter Freunden, in der Familie oder in Beziehungen reicht oft nicht mehr angesichts der möglichen Prominenz hin, gleicht das Defizit nicht aus.
Normalerweise wird das Versagen in der Aufmerksamkeitsökonomie ruhig bleiben und sich in immer neuen Erwartungen und manchen Depressionen und anderen Verstimmungen erschöpfen. Aber manche Situationen laden wahrscheinlich dazu ein, den Sprung zu machen und die Anerkennung und Aufmerksamkeit durch eigene Leistung in einer plötzlich aufflammenden oder lange hochkochenden mörderischen Wut einzufordern. Amokläufe mit oder ohne suizidales Ende, das oft genug provoziert wird, sind eine Folge. Und wenn eine Öffentlichkeit aufgebaut wurde, die auf Gewalt starrt und nur auf die nächste Eruption wartet, wie das nach Potsdam und anderen Vorfällen im sowieso erregten Vorfeld der Weltmeisterschaft der Fall war, dann ist das ein Rahmen, um sich gewissermaßen in die kollektive Aufmerksamkeit und damit Anerkennung zu bomben, zu schießen oder, wie in diesem Fall, zu stechen.