Moral und Berufsethos sind nicht mehr nötig
Hingucken wollen, hingucken müssen, egal, was zu sehen ist - in "Nightcrawler" fallen Sehen und Gewalt in eins
Es sind keine wirklich neuen Einsichten zum Verhalten der Massenmedien, die dieser Film bietet. Aber immerhin ist dies eine präzise Innenschau der quotierten Massenmedien und ihres Aufmerksamkeitsfetischismus. Nightcrawler ist ein im Wortsinne spektakuläres, nämlich das Sehen erregendes, das Sehen zum Thema machendes Kinowerk.
"We want to warn our viewers, that these are extremely graphic images." Wir kennen sie, diese Ansagen, die noch den letzten Fernsehzuschauer dazu bringen sollen, mit dem Bügeln aufzuhören und hinzugucken. Begleitet von Kommentaren und Warnungen, die ebenso verlogen sind wie pseudomoralisierend, sollen sie vor allem Quoten steigern durch Schocks, sollen Zuschaueranteile "generieren" - so funktionieren moderne Fernsehnachrichtensender, eine Maschinerie, die längst unkontrollierbar geworden ist, sich selbst steuert und in immer neue Exzesse hineingeraten ist.
Ein Aasgeier, ein Perverser. Aber ist er auch ein Repräsentant der Medien?
"Ich suche nach einem Job. Wer ich bin? Ich bin ein Arbeitstier, ich setze mir hohe Ziele, Nachrichtenfernsehen ist etwas, für das ich mich begeistern kann und das mir außerdem noch sehr gut liegt" - der junge Mann, der hier spricht, ist bleich, seine Augen treten aus ihren Höhlen hervor, seine Wangen sind eingefallen; er ist eine Hyäne, ein Schmarotzer, der sich von den Abfällen der Zivilisation ernährt, ihren Krisen, Unfällen, Verbrechen, Toten. Sein Mund grimassiert unkontrolliert, der Wahnsinn steht diesem Typ einfach ins Gesicht geschrieben - und er ist der erfolgreichste Journalist von Los Angeles.
Dabei war dieser merkwürdige Jüngling namens Louis Bloom lange Zeit einfach nur ein Loser, wie er im Buche steht. Eines Tages aber bekommt er den Job seines Lebens. Er streift durch die Nacht, hört den Polizeifunk ab und filmt mit einer privaten Video-Kamera alles, was ihm vor die Linse kommt, und zwar früher und härter als alle anderen: möglichst blutige Bilder, eben einfach das, was der weißen Mittelschicht Amerikas Angst einjagt. Dann verscherbelt er diese Aufnahmen meistbietend an einen Fernseh-Sender. Ein Aasgeier, ein Perverser. Aber ist er auch ein Repräsentant der Medien?
Ich sage gern: Wer mich sieht, hat den schlimmsten Tag seines Lebens
Gilt der Satz: "Nur ein amoralischer Reporter ist ein guter Reporter" wirklich? Zumindest in diesem Film gilt jedenfalls, dass nur ein amoralischer Reporter maximalen Erfolg haben kann. Damit wird "Nightcrawler" zu einer scharfen Bestandsaufnahme moderner Medienmechanismen. Denn es dauert nicht lang, da ist klar, dass Louis bereit ist, für den Erfolg alle Grenzen zu überschreiten. Doch zuvor werden wir zu Augenzeugen des alltäglichen Desasters.
Ein Sozialdarwinist des 21. Jahrhunderts
Dieser Louis ist das Gegenteil eines Kinohelden - ein Menschenhasser, ein befremdender Außenseiter. Sein Weltbild stammt aus der Ratgeberliteratur: Er zitiert gern die Weisheit des Alltags-Neoliberalismus, nach der jeder das, was er wirklich will, auch erreichen kann. Ein beflissener, übereifriger, gewählt parlierender Schleimbeutel, ein penetranter Besserwisser-Nerd, der perfekt die üble Seite der "Generation-Praktikum" repräsentiert: Ohne Chance im Leben ist er ein Ideal-Typ des uns allen allzugut bekannten Journalismus, der auf den Strich geht. Ein Opfer der Gesellschaft, das zum Täter geworden ist - ein Sozialdarwinist des 21. Jahrhunderts.
Jake Gyllenhall wurde einst als "Donnie Darko" zum Teeniestar, in "Brokeback Mountain" war er ein schwuler Posterboy, bevor er im Roland Emmerich-Drama "Day After Tomorrow" eine neue Eiszeit überstand. Jetzt spielt er mit ganzem Körpereinsatz, vom Gewichtsverlust bis zum exaltierten Method-Acting eine Nachtgestalt, den "Nightcrawler".
Wenn er - mindestens äußerlich - darin überhaupt einer bekannten Filmfigur ähnelt, dann ist es Norman Bates, dem von Anthony Perkins brillant verkörperten Mörder-Muttersöhnchen aus Hitchcocks "Psycho", ergänzt durch einen Hauch von Robert de Niros "Taxi Driver".
Dieser Film ist ohne Frage auch ein Psychodrama und Kriminalthriller, in seinem Kern aber eine Nachrichten- und Mediensatire. Denn Louis Bloom könnte nicht der werden, der er wird, stünde an seiner Seite nicht eine skrupellose Produzentin, die ihm seine ersten Bilder abkauft.
Diese Frau gehört - wie Anchor-Ladys in David Finchers "Gone Girl" - untrennbar zum Sittengemälde, das hier entworfen wird: Eine seelisch verkrüppelte, alternde Zynikerin im Quoten-Überlebenskampf - ein Spiegelbild der durchökonomisierten, dabei von Wirtschaftskrisen gebeutelten Verhältnisse.
Die Kritik dieses Films zielt ins Herz unserer Gegenwart, auf die Welt, in der die Leser zu Leser-Reportern, zu i-Journalisten werden. Dazu genügt schon ein Smartphone, Moral und Berufsethos sind nicht mehr nötig.
Romantik und Sarkasmus sind purem Zynismus gewichen
Diese neue Welt unterscheidet "Nightcrawler" von medienkritischen Klassikern wie "Network". Die Zeiten haben sich geändert, Romantik und Sarkasmus sind purem Zynismus gewichen. Um so schärfer ist nun auch die Kritik daran: Ähnlich wie schon David Finchers "Gone Girl" vor ein paar Wochen zeigt dieser Film, was mit den Menschen geschieht, die einmal in die Fänge der Medien geraten sind.
Dan Gilroys Regiedebüt ist eine alptraumhafte, dabei packende Nachtgeschichte, nicht allein, weil sie nachts spielt, sondern weil sie von unser aller dunklen Seiten erzählt. Gilroys Film zitiert auch deutlich den Film Noir, jene düsteren Nachtstücke aus der Nachkriegszeit der 40er und 50er Jahre, in denen brüchige oder ganz zerbrochene Existenzen im Zentrum standen. Unterstützt wird dieser Eindruck des Schillernden, auch moralisch Doppeldeutigen durch die Kamera von Robert Elswit. Damit gibt der Film der Nacht auch eine Aura, eine dunkel funkelnde, neonerleuchtete Schönheit.
Aber auch politisch-moralisch schillert der Film in düsterem Glanz und sehr mephistophelisch. Denn er verurteilt seine Hauptfigur nicht leichthin und erst nach einiger Zeit. Louis Bloom ist in uns allen, darum geht es, er ist unsere eigene Nachtseite. Louis Bloom ist ein destruktiver Charakter, aber er ist auch ein Voyeur.
Und damit ist er von jenem Begehren getrieben, das die Voraussetzung des Kinos ist, und das schon Stanley Kubrick in "Clockwork Orange" oder Michael Pressburgers "Peeping Tom" einst genial kritisierte: Hingucken wollen, hingucken müssen, egal, was zu sehen ist. Sehen und Gewalt fallen damit in eins.