Moskau: Quarantäne ohne Ende?
Die Hauptstädter leben seit einem Monat in häuslicher Quarantäne. Wer zur Arbeit fahren muss, kann dies nur mit einem Computer-Code, den die Stadtverwaltung ausgibt
In Russland ist noch nicht abzusehen, wann die am 30. März eingeführten Quarantäne-Maßnahmen für alle Bewohner der Stadt abgeschwächt oder sogar ganz zurückgenommen werden. Denn seit dem 19. April werden in Russland täglich zwischen 4200 und 6300 Fälle von Corona-Infizierten registriert. Bis Montag wurden in Russland 87.000 Corona-Infizierte gezählt. Die Zählung startete am 29. März. Damit liegt Russland auf der Liste der Corona-Infizierten Länder auf Platz neun.
Der Chef des Zentrums für Infektionskrankheiten am Zentralen Klinischen Krankenhaus von Moskau, Georgi Sapronow, meint, mit einem Abnehmen der Neuerkrankungen sei erst Ende Mai zu rechnen. Nach dieser Einschätzung muss man davon ausgehen, dass die Quarantäne-Maßnahmen noch bis mindestens Ende Mai anhalten.
Strenge Kontrolle
Seit dem 30. März müssen die Moskauer in häuslicher Quarantäne leben. Sie dürfen nur zum Lebensmittelgeschäft und zum Müll-Container gehen. Mit dem Hund darf man sich nur in einem Radius von 100 Metern um das Haus bewegen. Seit dem 15. April muss man außerdem für alle Fahrten mit der U-Bahn oder dem Auto bei der Stadtverwaltung einen Computer-Code bestellen. Wer in Moskau ohne Code unterwegs ist und erwischt wird, muss 375 Euro Strafe bezahlen. Das ist ein Monatsgehalt für Geringverdiener.
Wer auf die Datscha fahren will, muss beim Portal der Stadtverwaltung einen Code für den Hin- und einen Code für den Rückweg bestellen. In dem Antrag sind die Passdaten und das Autokennzeichen anzugeben. Die Polizei steht an Ortseingängen und Ortseingängen und macht stichprobenartige Kontrollen, ob der Fahrer einen gültigen Code vorweisen kann.
Außerdem werden die Autos auf Moskauer Straßen über Videokameras kontrolliert. Registrieren die Kameras ein Auto, für das kein Code beantragt wurde, muss der Fahrer mit Strafen rechnen. Auch Menschen über 65, die in Moskau zuhause bleiben sollen, können einen Code bestellen, wenn sie auf die Datscha fahren wollen.
An dem Tag, an dem die neuen Codes eingeführt wurden, kam es zum Kollaps. An den U-Bahnstationen sollten ein paar Polizisten die Ausweise der Passagiere mit den auf Papier ausgedruckten Codes abgleichen. Man hätte eigentlich voraussehen können, dass das nicht funktioniert. An den U-Bahn-Stationen bildeten sich lange Schlangen. Die Menschen standen dichtgedrängt. Niemand sorgte dafür, dass Abstand gehalten wurde.
Seit dieser für die Stadtverwaltung peinlichen Episode die im Internet ausführlich dokumentiert wurde (Fotos), werden die Codes von der Polizei nur noch stichprobenartig kontrolliert. Der Vorfall zeigte, dass die Anti-Corona-Maßnahmen sehr genau durchdacht werden müssen, sollen sie keinen gegenteiligen Effekt haben.
Perfekte Kontrolle
Das Internet macht die perfekte Kontrolle möglich. Am 25. März ließ die Stadtverwaltung die kostenlosen elektronischen U-Bahn-Tickets für Schüler, Studenten und Menschen über 65 Jahre sperren. Doch nicht alle älteren Menschen hatten das mitbekommen. Wie die Moskauer Stadtverwaltung meldete, versuchten am 26. März vor zehn Uhr morgens 63.000 Menschen über 65 mit der U-Bahn zu fahren, mussten jedoch umkehren, weil ihre Tickets gesperrt waren.
Die Moskauer sind die totale Überwachung schon gewohnt. Seit Terroristen aus dem Kaukasus Anfang der 2000er Jahre Terrorakte in der U-Bahn verübten, ist nicht nur die U-Bahn sondern die ganze Stadt mit einem Netz von Überwachungskameras überzogen. Auch an den Hauswänden und in den Hauseingängen hängen Kameras. Es lässt sich also leicht überprüfen, wer die häusliche Quarantäne nicht einhält.
Die Regierung hat angeordnet, dass Kleinbetriebe Steuern einige Monate später zahlen müssen. Arbeitgeber sind verpflichtet, den Lohn weiterzuzahlen, auch wenn der Beschäftigte zuhause in Quarantäne ist und kein Homeoffice machen kann. Betriebe können nur mit staatlicher Hilfe rechnen, wenn sie auf Entlassungen verzichten.
Dass Quarantäne-Maßnahmen unbedingt auch mit sozialen Abfederungen begleitet werden müssen, zeigen die Ereignisse in Nordossetien, einer Teilrepublik Russlands im Nordkaukasus. Nordossetien gehört zu den ärmsten Gebieten Russlands. In der Gebietshauptstadt Wladikawkas hatten am 20. April 1500 Menschen an einer nichtgenehmigten Demonstration gegen die Folgen der Quarantäne teilgenommen. Die Demonstranten forderten von der Macht soziale Hilfen. Die örtliche Macht hatte Märkte, Restaurants und Sportanlagen schließen lassen. Der Leiter von Nordossetien, Wjatscheslaw Bitarow, versprach bei einem Treffen mit Demonstranten Hilfen für Arbeitslose und Arme.
Bürgermeister Sergej Sobjanin lobt die Moskauer für ihre Disziplin
Am vergangenen Donnerstag lobte der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin in einer Ansprache die Bürger für ihre Disziplin. Der Großteil der Menschen verhalte sich verantwortungsvoll. Der Bürgermeister appellierte an die Geduld der Moskauer, denn man habe "noch nicht mal die Hälfte des Weges erreicht" und müsse noch "einige Wochen" durchhalten. Wenn die Bürger sich weiterhin diszipliniert verhalten, brauche man die Regeln nicht zu verschärfen.
Die Regeln in Moskauer seien "adäquat" und "effektiver als in anderen Ländern", erklärte der "Mer". In anderen Ländern würden zuerst "sehr weiche, demokratische Maßnahmen eingeführt, und dann sei man gezwungen, Militär auf die Straßen zu holen. So ein Szenarium wollen wir nicht."
Bei der Beobachtung der russischen Medien fiel mir auf, dass die psychischen Belastungen, die für alte Menschen und Kinder entstehen, die wochenlang in Isolation leben, kein Thema sind. Auch ist nicht bekannt, wie die alten Leute, die meist keinen Computer haben, mit der Bestellung von Codes klarkommen. Die Medien berichten allerdings, dass es Sozial- und Freiwilligendienste gibt, die sich um alte Menschen kümmern.
Wer sich unter Quarantäne-Bedingungen fit halten will, muss sich mit Yoga und Gymnastik zuhause fit halten. Im eigenen Wohnbezirk joggen, ist nicht erlaubt. Warum, wird nicht erklärt.
Nachrichten, die Angst machen
Was ich im russischen Fernsehen sehe, treibt mich manchmal zur Verzweiflung. Die ständigen Nachrichten über den Coronavirus können nichts anderes produzieren als Angst.
Ein Beispiel: Der russischen Fernsehkanal Rossija 24 brachte eine Reportage aus Spanien. Der Reporter berichtete, spanische Wissenschaftler seien auf der Suche nach dem ersten Spanier, der sich am Coronavirus infiziert habe. Dabei hätten die Forscher herausgefunden, dass das Virus, unter dem Spanien seit Wochen leidet, von Fußballfans nach Spanien eingeschleppt wurde. Fußballfans aus der spanischen Stadt Valencia hätten ein Fußballspiel in Milano besucht und seien infiziert nach Valencia zurückgekehrt.
Solche Nachrichten und die ständigen Aufrufe in den Medien, zuhause zu bleiben, verstärken das Gefühl, dass es nur auf uns ankommt. Wir Bürger sind die Schuldigen, wenn sich der Virus verbreitet, erklärt der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin unumwunden. Tiefere Analysen, wie es überhaupt zu Pandemien kommt und wie die wirtschaftlich Mächtigen derartige Katastrophen ausnutzen, um noch reicher zu werden, etwa über die Produktion neuer Tests und dem Bau neuer Krankenhäuser, die in Windeseile aus dem Boden gestampft werden, fehlen in den großen russischen Medien.
Gesundheitssystem nicht vorbereitet
Die Moskauer fügen sich den Anordnungen der Stadtverwaltung. Doch im Internet werden zunehmend kritische Fragen gestellt. Der bekannte Video-Blogger Maxim Schewtschenko - er war von 2012 bis 2018 Mitglied des Rates für Menschenrechte beim russischen Präsidenten - fragt in einem Video-Blog, warum es nicht möglich ist, eine ausreichende Anzahl von Krankenhäusern für Katastrophen - wie die jetzige Pandemie - in Bereitschaft zu halten.
Warum wurden in Moskau nicht ausreichend und rechtzeitig Krankenhäuser umgerüstet, um Menschen mit Infektionskrankheiten aufzunehmen? Warum sind Krankenhäuser überbelegt? Warum wurde in der Rekordzeit von nur einem Monat das neue Infektionskrankenhaus beim Dorf Woronowskoje südwestlich vom Moskauer Stadtzentrum aus dem Boden gestampft? Das Krankenhaus werde nach der Pandemie doch leer stehen, meint Schewtschenko. Seiner Meinung nach verdienen sich am Krankenhausneubau Beamte und Unternehmer eine goldene Nase. Denn bei solchen Großaufträgen, fließen, insbesondere wenn sie schnell abgewickelt werden müssen, immer Schmiergelder, sogenannter "Otkat".
Ein anderer bekannter Blogger, Konstantin Sjomin, zeigte in einem seiner Videos einen Auftritt des Moskauer Bürgermeisters vom Dezember 2019, in dem dieser erklärt, nur wenn Krankenhäuser zusammengelegt werden, könnten die Gehälter der Ärzte von 900 auf 1.700 Euro erhöht werden. Der gleiche Bürgermeister sucht nun händeringend nach ausreichend freien Krankenhausbetten in Moskau, um für alle Fälle gewappnet zu sein.
Die Corona-Krise in Russland führt auch vor Augen, dass das medizinische Personal nicht ausreichend auf hygienische Schutzmaßnahmen vorbereitet wurde. In Moskau, St. Petersburg und anderen Städten werden immer wieder Fälle gemeldet, wo große Teile des medizinischen Personals infiziert sind. Einige der Infizierten - so liest man im Internet - arbeiten trotzdem weiter. Wer will schon Lohneinbußen hinnehmen?
Zwölf-Stunden-Schichten mit Windeln
Die Ärzte und Krankenschwestern sind zweifellos Helden. Die Ansteckungsgefahr ist groß, die Arbeitsbedingungen extrem. Das medizinische Personal kann nichts dafür, dass die Stadtverwaltung in den letzten Jahren zahlreiche Krankenhäuser zusammengelegt hat und die Arbeitsbelastung enorm gewachsen ist.
Von einer Ärztin hörte ich, dass sie während ihrer Zwölf-Stunden-Schichten im Krankenhaus Windeln trägt, weil es ein zu großer Aufwand ist, den Corona-Schutzanzug, der unter bestimmten hygienischen Bedingungen angezogen wird, nur für eine Toilettenpause auszuziehen und dann wieder anzuziehen.
Der Journalist Schewtschenko machte vor kurzem mit einem YouTube-Video Furore, in dem er seine eigene Corona-Erkrankung öffentlich machte.
Als er am 30. März 39 Grad Fieber hatte, sei er telefonisch zur Ersten Hilfe kaum durchgekommen, beschreibt Schewtschenko den Beginn seiner Krankheit. 40 Minuten habe er in der Warteschleife mit Musik im Hörer gewartet. Keiner der Ärzte, die ihn dann untersuchten, habe es für möglich gehalten, dass er infiziert ist. Das Abhören der Lunge habe keine akustischen Hinweise auf eine Entzündung gegeben. Schwetschenko berichtet, er habe insgesamt fünf Corona-Tests gemacht, aber eine Corona-Infizierung sei nicht festgestellt worden.
Da er zunehmend Schmerzen und hohes Fieber hatte, sei er schließlich dem Rat eines Bekannten gefolgt und habe eine Computertomographie seiner Lunge machen lassen. In die Moskauer "Stoliza"-Klinik sei er aber nur gekommen, nachdem er mit Tabletten sein Fieber gedrückt habe. Die Tomographie brachte das erschreckende Ergebnis, dass er eine beidseitige Lungenentzündung hatte.
Das dramatische Video von Schwetschenko über seine Corona-Krankheit bekam 3,2 Millionen Klicks. Soviel hat der Journalist zumindest erreicht: Er hat bekannt gemacht, dass die Computer-Tomographie der Lunge ein sicheres Mittel ist, um das Coronavirus festzustellen. Das war eine wichtige Neuigkeit, denn nur die Hälfte der in Russland positiv Getesteten haben Corona-Symptome wie Fieber oder Husten.
Der Video-Blogger Schewtschenko berichtet, er sei nach der Computer-Tomographie sofort in das Judin-Krankenhaus südlich des Moskauer Stadtzentrums eingeliefert worden. Das ärztlich Personal dort habe sich sehr bemüht, aber die Bedingungen in dem Krankenhaus seien schwierig gewesen.
Er habe mit vier verschiedenen Patienten auf einem Zimmer gelegen, die alle verschiedene Krankheiten hatten. Einer habe laut geschnarcht und gehustet. Ein anderer hatte einen Urin-Katheder. Morgens um fünf Uhr mussten alle das Zimmer verlassen, weil zwei Männer in Schutzanzügen den Raum desinfizierten. Stühle oder Betten auf dem Korridor wurde nicht bereitgestellt. Schewtschenko - der hohes Fieber hatte - musste sich selbst mit Mühe einen Platz suchen.
Der Blogger meint, die offizielle russische Statistik spiegele die Realität nicht wieder. Die Zahl der Infizierten sei viel in Wirklichkeit höher. Insbesondere unter den eine Million Arbeitsmigranten aus dem Kaukasus und Zentralasien, die in Moskau Hochhäuser bauen, vermutet der Journalist viele Infizierte. Viele dieser Migranten würden ohne legalen Status in Moskau in Container-Dörfern leben, wo der Virus sich schnell verbreiten kann.
"Wir sollen zuhause sitzen und Angst haben"
Die Tests, die jetzt angeboten werden, seien unzuverlässig und nur ein Mittel für bestimmte Einrichtungen, um Geld zu verdienen, meint Blogger Schewtschenko. Die ständigen Aufrufe der Stadtverwaltung und des Fernsehens zur Selbstisolation seien fragwürdig. Der Journalist: "Wir sollen zuhause sitzen und Angst haben." Die russische Elite haben ihre eigenen Wohnbezirke und Kliniken. Sie hätten genug Möglichkeiten, sich auf ihren großzügigen Grundstücken zu erholen.
Seit über vier Wochen leben die Moskauer nun schon in meist kleinen Plattenbauwohnungen in Quarantäne. Gegen die Einschränkung der Grundrechte, gibt es kaum Protest. Die von Bürgermeister Sergej Sobjanin häusliche Quarantäne scheint alternativlos. Wissen über das Coronavirus gibt es wenig. Aber es gibt Angst. Niemand will sich anstecken. Die Menschen auf der Straße tragen fast alle Masken, wenn auch oft nachlässig über das Gesicht gezogen, so dass die Nase zu sehen ist.
Reportagen, wie Familien mit Kindern oder alte Leute den Alltag in den eigenen vier Wänden managen, habe ich im Fernsehen noch nicht entdeckt. Das Einzige, was im Fernsehen angeboten wird, sind Filme zur Weiterbildung und kulturelle Darbietungen, wie ein Corona-Konzert mit bekannten Stars im Bolschoi-Theater. Die Moderatoren des Konzerts riefen immer wieder zur Solidarität auf. Was "Solidarität" in dieser Krise genau heißt, wurde nicht erklärt.
Immer häufiger sehe ich, dass Menschen die gesetzten Regeln überschreiten. Joggen ist nicht erlaubt. Aber ich sehe in Grünanlage immer häufiger Jogger. Dass Polizisten sie anhalten, habe ich noch nicht gesehen.
Parks und Kinderspielplätze sind mit rot-weißen Plastikbändern abgesperrt. Aber manchmal sehe ich Eltern mit Kindern spazieren gehen, ohne Einkaufstüte und Hund. Vor kurzem beobachtete ich aus meinem Küchenfenster ein etwa achtjähriges Mädchen um einen Häuserblock Rollschuh laufen. Es hatte weiße Strumpfhosen und eine schicke helle Jacke an. Es wirkte aufgeregt und fröhlich. Wahrscheinlich hatte es gerade Geburtstag und das Mädchen hatte die Mutter überredet, zweimal mit den neuen Rollschuhen um den Block fahren zu dürfen. Ich sah eine Frau, die ruhig hinter dem Mädchen herging.
Für die Moskauer ist diese Quarantäne eine sehr harte Prüfung. Denn nach sechs Monaten Winter warten die Menschen sehnsüchtig darauf, in der Sonne spazieren gehen zu können. Noch haben die Bäume in Moskau nicht ausgeschlagen. Noch ist es kühl. Aber wenn es richtig warm wird, bleibt nur die Flucht auf die Datscha. Dort kann man sich im Garten von den engen vier Wänden im Plattenbau erholen.
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