Mosul: Ende des "Fake-IS-Kalifats" erklärt
Für die Legende war es wichtig, dass am 29.Juni diese Nachricht an die Weltöffentlichkeit kommt. Der Krieg geht weiter. Der frühere Jubel über den IS in Mosul muss aufgearbeitet werden
Die Kämpfe in Mosul gehen weiter. Es sind noch Zigtausende in den Altstadtvierteln, die nicht unter der Kontrolle der irakischen Eliteeinheiten stehen, sondern von IS-Kämpfern gehalten werden. Die wirkliche Kriegshölle ist in Mosul also noch nicht zu Ende. Es gibt Fortschritte, wie die Karten zeigen, sie zeigen aber auch, wie mühsam der Häuser-Kampf gegen die IS-Milizen in der Altstadt, die die Bevölkerung zur Geisel haben, vorankommt.
Für die Legende, die von der Medienöffentlichkeit mitgeschrieben wird, war es aber wichtig, dass am 29.Juni diese Nachricht von allerhöchster irakischer Regierungsstelle an die Weltöffentlichkeit kommt:
Die Legende will es nämlich, dass al-Baghdadi am 29. Juni 2014 in der al-Nuri-Moschee in Mosul das IS-Kalifat ausgerufen hat. Das stimmt so nicht exakt, auch wenn viele Medien diese Geschichte übernommen haben, übrigens leider auch der Autor an dieser Stelle. Es war der inzwischen getötete Sprecher des IS, Mohammad al-Adnani, der am 29. Juni 2014 das Kalifat in einer ungewöhnlichen Presseerklärung (auf Deutsch) bekannt gab.
Der Islamische Staat repräsentiert von den Ahl-ul-Hall-i-wal-ʿAqd, bestehend aus leitenden Personen, Führer und der Šūrā Rat haben sich entschlossen die Etablierung der islamischen Ḫalīfah (Kalifat, Anm. d.A.) zu verkünden. (…) Wir veranschaulichen den Muslimen das (!) bei dieser Erklärung der Ḫilāfah es für jeden Muslim verpflichtend ist dem Ḫalīfah Ibrāhīm den Treueid abzulegen und ihn zu unterstützen (möge Allah ihn beschützen).
Die Deklaration des Kalifats durch den Islamischen Staat
In der al-Nuri-Moschee in Mosul, die jetzt eine Ruine ist, hatte al-Baghdadi als "Kalif Ibrahim" am 4.Juli "nur" eine Freitagspredigt gehalten. Die Khutba genannte Predigt blieb bislang die einzig öffentlich übertragene von al-Baghdadi. Die IS-Öffentlichkeitsarbeit übernahm das "Medienbüro" al-Furqan, das Videos der Predigt verbreitete (hier in voller Länge, deutsch untertitelt).
Anknüpfen an islamische Traditionen
Wer sich beides, die sehr ausführliche Kalifats-Erklärung wie die mit vielen Formeln ausstaffierte Freitagspredigt, zu Gemüte führt, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die IS-Protagonisten sehr darauf geachtet haben, an vielen Stellen an islamische Text- und Redetraditionen anzuknüpfen und ihr Kalifat damit zu begründen.
Das mag banal erscheinen, ist aber politisch relevant, wenn man sich den Aufwand vor Augen hält, der in unzähligen Essays, Kommentaren und Stellungnahmen an den Tag gelegt wurde, um die Verbindung zwischen dem "IS" und "dem Islam" als Diskussionsgegenstand in den Hintergrund zu rücken oder zum Verschwinden zu bringen.
Dass es zwischen dem "Islamischen Staat" und dem "Islam" keine zur Reflexion auffordernden Anknüpfungspunkte gebe, wie es Saudi-Arabien oder auch der US-Präsident Obama der Öffentlichkeit nahezubringen versuchte, gehört auch in den Bereich der Legende. Denn die Eroberung Mosuls durch den IS wurde durchaus als ein Ereignis empfunden, das mit der Religion in enger Beziehung steht (siehe weiter unten).
Erfolg und Schutt und Asche
Al-Baghdadi wählte die al-Nuri-Moschee nicht zufällig oder willkürlich als Ort seines Auftrittes, der die Umma und die Weltöffentlichkeit beeindrucken sollte und der im Zeichen des Kalifats stand. Schon für al-Zarqawi, in den Jahren der US-Besatzung im Irak bis Juni 2006 eine maßgebliche Figur der Entwicklung von al-Qaida im Irak, der Basisorganisation von ISIL, ISIS, IS, war die Moschee von großer Bedeutung. Deren Namensgeber Nour al-Din al-Zanki gehört zur Hall of Fame der Dschihadisten.
Für die irakischen Spezialeinheiten, allen voran die von den USA ausgebildeten Goldene Brigade, war die Eroberung der Moschee mit dem markanten schiefen Minarett seit Wochen das herbeigesehnte große Ereignis. Die Weltöffentlichkeit wurde auf den Tag vorbereitet, an dem dort die irakische Flagge aufgezogen werden sollte (siehe Mosul: Warten auf das Zeichen vom schiefen Turm).
Die IS-Milizen vereitelten die Bilder vom Erfolg. Deren Sprengstoffexperten ließen vor einer Woche das Minarett und große Teile der Moschee zusammenfallen und beschuldigten US-Luftangriffe - auch eine Legende, die von Anhängern gerne aufgegriffen wird, von Videobildern aber nicht unterstützt wird. Dass die irakischen Einheiten, die unter großen Verlusten buchstäblich Meter für Meter in der Altstadt erobern mussten, um dorthin zu gelangen, am Ende dann einen Haufen Schutt und eine Ruine erreichten, ist auch bezeichnend.
Sämtliche Städte, wie zum Beispiel Ramadi oder Falludscha im Irak oder Sirte in Libyen, sahen wie dem Erdboden gleichgemacht aus, wenn sie vom IS zurückerobert wurden. Beim Kampf der syrischen Truppen und ihren Verbündeten, vor allem Russland, um die Rückeroberung Ost-Aleppos aus den Händen der von al-Qaida geführten Dschihadisten-Milizen, wozu auch FSA-Einheiten gezählt werden können, war die Medienöffentlichkeit skandalisiert von den Bildern der zerstörten Stadtteile und legte nicht sehr viel Wert darauf, den Anteil der Dschihadisten-Milizen an der Zerstörung herauszustellen.
Die Zivilbevölkerung
Im Falle Mosuls kann man darauf gespannt sein, wie sehr der Anteil der Luftangriffe der Anti-IS-Koalition unter Führung der USA diskutiert wird. Geht es nach einem detaillierten Situationsbericht des Kriegsreporters Ghait Abdul-Ahad, dann waren zivile Opfer von Bombardierungen in Mosul bitterer und vermutlich häufig einkalkulierter Kollateralschaden.
Abdul-Ahad begleitete Anfang März einen irakischen Trupp, der Teil der Offensive auf West-Mosul war. Die Einheit sollte mithelfen, eine wichtige Kreuzung, den Baghdad Circel, einzunehmen. Dabei erfährt der Leser, dass eine Luft-Operation einmal über Funk angefordert, weil aus einem Haus feindliche Schüsse kamen, auch dann nicht abgebrochen wird, wenn Informationen kommen wie "In diesem Haus haben sich fünf Familien versteckt". Laut Reportage antwortete die "Zentrale" auf dieses Problem hin: "Die Operation läuft. Wenn ein einziger IS-Kämpfer in dem Haus ist, läuft die Operation".
"Glücklich über den Einzug des IS in Mosul"
Der Bericht ist aber auch wegen eines anderen Problems interessant. In ihm kommt ein Mosul-Bewohner zu Wort, der davon sprecht, dass viele Bewohner zuerst glücklich waren, als der IS in Mosul einzog:
‘I have to be honest,’ he added. ‘When the Islamic State first entered Mosul everyone was happy. People started clapping for them.
The Bagdad Road
Das ist eine politisch sehr ungemütliche Behauptung. Sie ist für die Zeit des Aufbaus und der Neuordnung des Post-IS-Mosul von Bedeutung. Dass dies vermutlich in den ersten Monaten keine vereinzelte Haltung eines Dissidenten war, zeigt sich an den Aussagen des früheren Imams der al-Nuri Moschee, der ebenfalls von einer Jubelstimmung berichtet.
Die Bewohner Mosuls wurden sich offenbar bald klar darüber, welche grusligen Formen die Repression des IS annahm. Es stellte sich heraus, dass der Anspruch des IS einen neuen Staat zu gründen, "Fake" war. Die "Kalifat-Neugründer" übernahmen, wie Abdul-Ahad beschreibt, "schlicht die alten korrupten Praktiken der totalitären Regierungen, welche die Region beherrschten und noch immer beherrschen".
Wie das Phänomen der anfänglichen Begeisterung für den "wahren IS-Islam" oder die "sunnitische IS-Revolution" bei der politischen Neugestaltung der Stadt wie auch der Region verarbeitet oder berücksichtigt wird, wird jenseits von Legenden für die Medien für die künftige politische Realität von Bedeutung sein.