Musik und Internet

Musikalische Globalisierung

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Eine der bemerkenswertesten Entwicklungen in der internationalen Popularmusik ist die Internationalisierung ihres Klangs nach dem zweiten Weltkrieg. Besonders die USA - begünstigt durch den Wechsel im internationalen Machtgefüge - spielten die Rolle eines globalen Trendsetters.1 Die anglo-amerikanische Musik verbreitete sich lange vor dem Begriff Globalisierung über die Welt (wobei sie selbst ein Produkt verschiedenster Musiken afrikanischer, europäischer oder sonstiger Herkunft ist).

Entsteht eine einzige einheitliche Weltkultur, und wenn ja, ist sie mit einer Verwestlichung/Amerikanisierung gleichzusetzen oder wird sie durch einen Austausch in beide Richtungen (Zentrum-Peripherie) gestaltet? Oder wird es eine Pluralität transnationaler Kulturen geben, die ihren Ursprung in den verschiedenen Kontinenten haben?

Allen Musikern, besonders den jungen Kollegen, muss klar sein, dass zur Entfaltung musikalischer Kreativität die ökonomische Basis gesichert sein muss. Wir Komponisten müssen daher gemeinsam dafür sorgen, dass die neue digitale Technik unsere musikalische Kreativität nicht ausbeutet, sondern zur Entfaltung der Musikkulturen der Welt beiträgt.

Klaus Doldinger

Von einer Verwestlichung kann nicht pauschal gesprochen werden, schreibt Smudits. Je nach Land sei sie stärker oder schwächer. Diese These wird von einer Statistik bei Yúdice untermauert, die anzeigt, dass der Verkaufsanteil heimischer Musik 1996 in Brasilien bei 65% lag, während er in Argentinien nur 30% und in Chile sogar nur 26% betrug.2 Auf internationaler Ebene ist brasilianische Musik ebenfalls ein gutes Gegenbeispiel, denn spätestens seit den 60er Jahren (Bossa Nova) sind brasilianische Rhythmen immer wieder in die internationale (anglo-amerikanische) Musik eingeflossen, auch wenn brasilianische Interpreten in den internationalen Charts nur selten auftauchen. Daher gehen moderne Ansätze in der Musikwissenschaft von einer ständigen Durchmischung verschiedenster Musikkulturen aus. Vor diesem Hintergrund sei die These von der Globalisierung der Musik zumindest in kultureller Hinsicht zu relativieren.3 "Die [...] großen technischen Veränderungen unseres Medienzeitalters [...] werden nachhaltigen Einfluß auf die Musikkulturen in aller Welt haben", meint hingegen der Musikwissenschaftler Bernd Enders.4

Die vielfältigen Möglichkeiten, die das Internet im Bereich der Musik bietet (weltweiter Austausch von Musikdateien, virtuelle Studios, in denen Musiker aus Paderborn und Oakland zusammen komponieren können, etc.), tragen natürlich auch zur musikalischen Globalisierung bei. Besonders in diesem Bereich trifft der Begriff vom Internet als "Motor der Globalisierung" (Anthony Giddens) zu. Im Hinterkopf müssen wir dabei behalten, dass freilich die Musik selbst ein Vorreiter der Globalisierung war, da sie müheloser als andere Kulturgüter Grenzen durchbricht und somit zur idealen Treibkraft für eine globale Kommunikation wird.

Auch das Beziehungspaar Internet - Musik wird kontrovers diskutiert: "Immer mehr Menschen hören sich Musik aus dem Internet an. Das ist nur noch ein Gag, ein Witz, hat aber mit der Substanz von Musik nichts mehr zu tun", meint der Gitarrist Ry Cooder. Andere Musiker haben ein differenzierteres Verhältnis zum Netz, so wie Sting: "Ich finde es spannend, wie das Web die verschiedenen Vorstellungen und Phantasien von Menschen spiegelt. Es ist eine Schnittstelle für Ideen, an der jeder teilhaben kann - faszinierend und erschreckend zugleich.5 Smudo von den Fantastischen Vier nutzt das Netz sogar sehr aktiv: Er lässt seine Fans Remixe von Stücken der Fanta4 basteln. Ein weiterer Vorteil der "Demokratisierung der Musik durch die Medien" läge darin, dass nun z.B. "klassische Musik für jeden verfügbar ist", meint Hans Günther Bastian.6 Ein Aspekt, der bisher in der aktuellen Diskussion vernachlässigt wurde, betrifft Musik mit rassistischen oder diskriminierenden Texten. Denn auch die Neonazi-Szene weiß um die schwere Kontrollierbarkeit des Internet.7

Bezeichnend ist, dass bei jeder technischen Neuerung im Bereich der Musik solche Diskussionen stattgefunden haben. In bezug auf das Musikvideo schreibt der Musikwissenschaftler Peter Wicke: "Auffallend [...] ist die Ähnlichkeit der Argumentation in jener periodisch wiederkehrenden prinzipiellen Auseinandersetzung um die Rolle der Technik, die sich seit Jahrzehnten nun schon durch die Entwicklung der Popmusik hindurchzieht" [...].8

Besonders umstritten sind virtuelle Studios für Musiker, wie sie etwa RocketNetwork anbietet. Unter dem Motto "Musik ist Kommunikation" können sich dort Musiker aus aller Welt zu globalen Sessions treffen. Befürworter heben die Ersparnis an Zeit und (Reise)Kosten hervor. Hans Günther Bastian schreibt: "Die Musik und das Internet haben eins gemeinsam: Beide führen Menschen zusammen."9 Und beide fördern die Kommunikation. Kommunikation über Musik und mit Hilfe von Musik soll durch das Internet nicht verdrängt, sondern ergänzt und gefördert werden. Der Cyberspace bietet einen hervorragenden Raum für künstlerische Aktivitäten.10 Die Kritiker befürchten hingegen den Abbruch menschlicher Kontakte, die Anonymität und eine verminderte Kreativität. "Eine Gesellschaft, in der man immer mehr kommuniziert und sich immer weniger begegnet."11

Von solcher Kritik weitgehend unberührt bleibt die größte Nutzergruppe des Internet, die Generation @. Diese Generation der nach 1970 Geborenen ist die Zielgruppe der Musikanbieter. Sie betrachtet den Computer als Teil ihres Alltags und schafft sich eine neue mediale Lebenswelt. Sie macht die Welt wirklich zum "globalen Dorf", in dem die Nutzer als "elektronische Nomaden" surfen und Informationen konsumieren. Sie sind überall in der Welt, aber nirgendwo zu Hause. Dabei sind sie es gewohnt, die Vielzahl der neuen Medien gleichzeitig zu konsumieren, und Musik ist immer dabei. In ihrer Zeitnot hören sie (Internet)Radio, während sie surfen, und lesen parallel das (virtuelle) Musikmagazin.12

Diese "Global Teens" (Douglas Coupland) hören weltweit die gleiche Popmusik und interessieren sich sehr dafür, Musik aus dem Internet herunterzuladen. Das Bedürfnis, Musik in Form von CDs zu besitzen, werde "durch den simplen Wunsch ersetzt, Musik zu hören, wenn sie auf Knopfdruck jederzeit und überall abgerufen werden kann", kommentiert Jim Griffin, ein Berater der US-Musikindustrie. Jeder zweite 12- bis 17-Jährige hat bereits Musikangebote im Internet besucht. Heute wird der PC noch vor dem Fernseher oder der Stereoanlage eingeschaltet. Veränderungen, auf die sich die Musikbranche einstellen muss, wie der BMG-Manager Thomas Stein richtig erkannt hat: "Es liegt auf der Hand: Der neue Markt wird nicht auf uns warten. Wir müssen auf den Markt zugehen."13

Der Text wurde dem Buch von Torsten Eßer entnommen: music-and-sound-de. Musik im Internet, Papyrossa Verlag, Köln 2000, 206 S. 29,80 Mark (inkl. CD). Das Buch führt in die Hard- und Software ein, erzählt die Erfolgsgeschichte von MP3 und bietet eine umfassende kommentierte Linkliste zu allen Themen der Musik. Auf der CD-ROM finden sich Programme zum Bearbeiten und Abspielen von Musikdateien und 1111 Links, unterteilt in zehn Kategorien und zahlreiche Unterkategorien.