"Muss ich da jetzt wirklich mitpöbeln?"
Seite 2: Es besteht immerzu die Gefahr zu überdrehen
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Sollte der Staat in Zeiten von Google, Facebook und Co. die Bürger etwa vor sich selbst schützen?
Michael Pauen: Das wäre eine verdrehte Geschichte, wenn man versuchte, Autonomie zustande zu bringen, indem man den Staat zur Hilfe ruft. Der Staat gefährdet ja mit seinen Nachrichtendiensten selbst die Autonomie (Pause). Dennoch könnte die Politik Rahmenbedingungen schaffen, in denen autonomes Verhalten wieder möglich ist.
Aber noch mal: Uns wäre es lieber, die Bürger würden die Sache selbst in die Hand nehmen. Wir warnen auch vor der Vorstellung: "So, verstanden, wir werden jetzt schnell autonom, dann kriegen wir das schon hin". Nein, die Sache ist komplizierter. Derzeit gibt es nämlich zu viele Mechanismen, die wir nicht direkt kontrollieren können, selbst dann nicht, wenn wir das unbedingt wollten. Ein einfacher Entschluss reicht also nicht.
Aktuell hört man von vielen Politikern, unsere Gesellschaft sei aus ganz anderen Gründen gefährdet, schnell fällt das Wort: Terrorismus. Es müssten nun schnellstens neue Gesetze her, Stichwort Vorratsdatenspeicherung. Macht Sie das wütend? Oder langweilen sie solche Debatten?
Michael Pauen: An bestimmten Stellen macht mich das wütend. Aber auch ich muss zugeben, das ist ein Konflikt, der immer wieder neu ausgetragen werden muss. Fakt ist: Die Gesellschaften, in denen Autonomie einen hohen Stellenwert besitzt, sind wesentlich sicherer als andere.
Woran liegt das?
Michael Pauen: Autonome Individuen halten sich, wie eingangs erwähnt, oft aus eigener Einsicht an bestimmte soziale Standards. Insofern besteht hier an vielen Stellen nur ein Scheinkonflikt zwischen Sicherheit und Autonomie. Dennoch existieren freilich reale Konflikte, bei denen man die Grenzen zwischen individuellen Spielräumen und dem Einflussbereich des Staates immer wieder neu verhandeln muss. Eins ist doch klar: Jede neue Entwicklung bringt auch neue Probleme und Herausforderungen mit sich. Debatten darüber sind ein erster Schritt. Doch häufig gewöhnen wir uns einfach dran. Und genau das ist das Problem.
Fällt Ihnen ein weiteres Beispiel ein?
Michael Pauen: Wir haben über die Zeit hinweg in vielen Bereichen informelle Regeln ausgebildet. Zum Beispiel Höflichkeitsformeln in Briefen oder anderen Formen der schriftlichen Kommunikation. Die sind wichtig, weil man im direkten Gespräch durch Mimik oder Stimmenlage Signale modulieren kann, sodass bestimmte Härten ausgeglichen werden, die in einem reinen Text auftreten würden. Im Internet haben wir solche Regeln noch nicht.
Welche könnten das sein?
Michael Pauen: Wenn sich so ein Shitstorm zusammenbraut, wäre es sinnvoll zunächst innezuhalten und sich zu fragen: Muss ich da jetzt wirklich mitpöbeln? Häufig fehlt den Leuten das Bewusstsein, welch großen Schaden sie mit ihren öffentlichen Wutausbrüchen anrichten. Das gleiche gilt für Medienkampagnen, die heutzutage viel schneller Fahrt aufnehmen als früher. Denken Sie an den ehemaligen Bundespräsidenten Wulff und den Sturm der Entrüstung in Medien und sozialen Netzen damals. In dem späteren Gerichtsverfahren blieb kaum ein substantieller Vorwurf übrig.
Was meinen Sie konkret, Herr Pauen?
Michael Pauen: Wird ein Artikel in relativ kurzer Zeit von vielen Menschen angeklickt und kommentiert, ist es üblich, dass die jeweilige Redaktion dieses Thema weiterdreht - und zwar so schnell wie möglich. Die Währung heißt schließlich Aufmerksamkeit. Aber wo sind da die Sicherheitsmechanismen? Kurzum: Es besteht immerzu die Gefahr zu überdrehen - die Folgen sind teils dramatisch. Ich habe Respekt vor jedem Chefredakteur, der in solchen Momenten sagt: "Nee, Leute, wir warten erst noch mal die Stellungnahme ab und prüfen die Quellen. Die Sache läuft uns sonst aus dem Ruder." Zuletzt konnten wir anhand vieler negativer Beispiele erkennen, dass wir hier Nachholbedarf haben. Oder anders gesagt: Wir haben hier die Kontrolle verloren.