"Muss ich da jetzt wirklich mitpöbeln?"

Der Philosoph Michael Pauen über autonomes Handeln, den Anpassungsdruck in modernen Gesellschaften und öffentliche Wutausbrüche

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Michael Pauen ist Professor am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin und Sprecher der Berlin School of Mind and Brain. Gemeinsam mit dem Soziologen Harald Welzer schrieb er das Buch "Autonomie - Eine Verteidigung". Im Gespräch mit Telepolis warnt Pauen vor den Folgen digitaler Empörungswellen, plädiert für ein neues Verantwortungsbewusstsein der Medien und erklärt, weshalb Autonmie oft falsch verstanden wird.

Herr Prof. Pauen, wann hatten Sie zuletzt den Eindruck, sie verlören gerade einen Teil ihre Autonomie?

Michael Pauen: (lacht) Das kommt relativ häufig vor. Jeder, der in einem großen Apparat wie einer Universität arbeitet, weiß, unter welch enormen Zwängen man steht. Gefährlich sind aber nicht diejenigen Zwänge, die man bewusst wahrnimmt, sondern all jene, die man erst später oder gar nicht bemerkt. Gegen einen solchen Autonomieverlust kann man sich nämlich nicht schützen.

Nennen Sie bitte ein Beispiel.

Michael Pauen: Einer meiner Studenten sagte kürzlich, man sehe sofort, dass ich ein Philosoph sei, schließlich trüge ich schwarze Klamotten. Das sei für Philosophen typisch. Und ja, da könnte etwas dran sein. Man lässt sich über eine subtile Art beeinflussen, ohne dass man darüber nachdenkt. Das passiert auch Leuten wie mir, die all die Mechanismen genau kennen.

Jemand, der autonom handelt, gilt schnell als Egoist.

Michael Pauen: Das ist in der Tat ein Problem. Jemand, der wirklich autonom ist, weiß, dass er die Interessen seiner Mitmenschen im Blick behalten sollte. Schließlich ist er auf die Gemeinschaft angewiesen. Er verhält sich genau deshalb nicht egoistisch im klassischen Sinne.

Wie meinen Sie das?

Michael Pauen: Es gibt eine Form von weitsichtigem Egoismus, der die Einsicht beinhaltet, dass man die Gemeinschaft benötigt. Aber es gibt daneben auch Formen von Autonomie und Egoismus, bei denen das nicht funktioniert.

Wenn sich alle autonom verhielten, gäbe es Chaos.

Michael Pauen: Nein. Es kommt, wie gesagt, drauf an, um welche Form von Autonomie es geht. Es gibt eine Form, die in Richtung Narzissmus geht. Und die ist tatsächlich problematisch für eine Gesellschaft. Auf der anderen Seite gibt es eine Form von Autonomie, in der Menschen sich aus Einsicht und Wissen freiwillig an bestimmte Gruppenstandards halten. Das wäre sogar der Idealfall. Dann hätten sie nämlich keinen Konflikt zwischen Autonomie und Sozialität. Aber faktisch funktioniert das nur in einem gewissen Maße.

Und wie ist das bei Ihnen?

Michael Pauen: Ich bin sicher, dass ich an vielen Stellen das Verhalten anderer Leute kopiere - ein Beispiel habe ich ja schon gebracht. Auch seit meinem Umzug nach Berlin hat sich in meinem Verhalten sicherlich einiges verändert. Die Standards in Berlin unterscheiden sich von denen in Heidelberg, wo ich zuvor gewohnt habe.

An was denken Sie spontan?

Michael Pauen: Das Verhalten gegenüber anderen - ich nenne nur das Wort Straßenverkehr (lächelt). Ob man zum Beispiel mit dem Fahrrad auf dem Fußgängerweg oder bei Rot über die Ampel fährt. Jeder orientiert sich doch an dem Verhalten anderer, ob bewusst oder unbewusst.

Sie schreiben in Ihrem Buch, der Anpassungsdruck in unserer Gesellschaft habe sich verstärkt, die individuelle Autonomie sei stark gefährdet und müsse daher dringend verteidigt werden. Von wem eigentlich, Herr Pauen?

Michael Pauen: Na, die Verteidigung von Autonomie kann man nicht einfach anderen überlassen. Jeder sollte dazu beitragen, alles andere wäre ein Widerspruch in sich. Unser Buch versucht zu zeigen, wie das gehen kann. Man verteidigt die Autonomie aber nicht dadurch, dass man sich hinsetzt und sagt "So, ich bin jetzt autonom". Sondern das funktioniert nur, indem man sich für soziale Strukturen einsetzt, die Raum lassen für Autonomie.

Welcher junge Mensch ist schon gern ein Außenseiter?

Das Internet...

Michael Pauen: ...Ist hierfür ein gutes Beispiel. Wir sind überzeugt, dass durch Mechanismen im Internet eine neue Qualität entstanden ist. Ob Soziale Netzwerke oder Überwachungsmethoden - zu den sozialen Einflüssen, mit denen wir seit jeher zu tun haben, kommen nun Zwänge, mit denen wir noch nicht umgehen können. Sie führen dazu, dass autonomes Verhalten in höherem Maße unterlaufen wird.

So mancher würde derlei kurz und knapp mit dem Begriff Fortschritt abtun.

Michael Pauen: Wir müssen da unterscheiden: Wir sagen nicht, dass alles, was im Zuge der Digitalisierung zustande kommt, blödsinnig ist. Die Entscheidung, ob man von bestimmten Dingen Gebrauch machen will, liegt ja bei jedem selbst. Wir verletzten die Autonomie anderer, würden wir ihnen irgendwelche Vorschriften machen. Dennoch sollte jeder abwägen, wie groß der Fortschritt, Gewinn oder eben Verlust an Autonomie ist, wenn er bestimmte Trends mitmacht. Darüber nachdenken, Wirkungen begreifen - darum geht's.

Wird die Bedeutung der Privatheit unterschätzt in diesem Zusammenhang?

Michael Pauen: Das ist eine dieser schleichenden Entwicklungen. Ich glaube nicht, dass Privathit explizit unterschätzt wird auf der Ebene, die wir zurzeit öffentlich und ausdrücklich diskutieren. Da ist immer noch ein relativ großes Bewusstsein vorhanden. Unterschätzt wird die Privatheit aber implizit, also auf der Ebene des konkreten Verhaltens. Wenn Leute bei Facebook ständig private Fotos oder Berichte aus ihrem Privatleben posten, oder wenn sie das Risiko eingehen, dass ihre private Kommunikation von irgendwelchen Internetagenturen überwacht und ausgewertet wird. Da wird Privatheit de facto unterlaufen.

Woran liegt es aus Ihrer Sicht, dass sehr viel über Datenschutz und Privatsphäre gesprochen wird, zugleich allerdings exakt jene Plattformen und Produkte erfolgreich sind, die für das genaue Gegenteil stehen?

Michael Pauen: Dafür gibt es verschiedene Gründe. In den meisten Fällen wird dieser Widerspruch gar nicht gesehen; man hat sich an die neuen Abläufe gewöhnt. Vor den Snowden-Enthüllungen war vielen Leuten überhaupt nicht klar, wie massiv staatliche Organisationen in die Privatsphäre der Bürger eindringen.

Zweitens: Von den sogenannten Sozialen Netzwerken geht ein massiver Druck aus. Wenn Sie einer bestimmten Generation angehören, und das machen wollen, was Ihre Freunde machen, dann müssen Sie bei Facebook, Instagram oder WhatsApp aktiv sein. Wer seine Fotos nicht postet, steht blöd da. Und welcher junge Mensch ist schon gern ein Außenseiter? Genau darauf setzen die Konzerne, darauf basiert ihr gesamtes Wirken. Und sicherlich ist das alles auch eine Generationenfrage. Die jüngeren Leute, die mit all den Sozialen Medien aufwachsen, haben diesen Wunsch nach Schutz der Privatsphäre oft gar nicht kennengelernt.