US-Raketen ab 2026 in Deutschland: Was Olaf Scholz uns verschweigt
Tomahawks vor US-Fahne. Illustration: e-crow/ Shutterstock.com
US-Raketen kommen ohne Debatte. Bundesregierung entscheidet bilateral mit USA. Was bedeutet das für die deutsche Sicherheitspolitik? (Teil 1)
Am Rande des NATO-Gipfels am 10. Juli 2024 wurde folgende "Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland" veröffentlicht.
Das knappe 9-Zeilen-"Joint Statement" lautet:
Die Vereinigten Staaten von Amerika werden, beginnend 2026, als Teil der Planung zu deren künftiger dauerhafter Stationierung, zeitweilig weitreichende Waffensysteme ihrer Multi-Domain Task Force in Deutschland stationieren.
Diese konventionellen Einheiten werden bei voller Entwicklung SM-6 (Standard Missiles), Tomahawks und derzeit in Entwicklung befindliche hypersonische Waffen umfassen. Diese werden über deutlich größere Reichweite als die derzeitigen landgestützten Systeme in Europa verfügen.
Die Beübung dieser fortgeschrittenen Fähigkeiten verdeutlichen (sic!) die Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur NATO sowie ihren Beitrag zur integrierten europäischen Abschreckung.
Mit Trump als Präsident der USA, der ohnehin die Deutschen beschimpft, dass wir zu wenig zahlen, dürfte wohl ein Großteil der Kosten auf unser Land abgewälzt werden.
Da die Waffensysteme im Rahmen der sogenannten Multi-Domain Task Force von den USA stationiert werden, um "die Handlungsfreiheit der US-Streitkräfte (zu) unterstützen", dürften sie der Befehlsgewalt des amerikanischen Heereskommandos in Europa (USAREUR) unterstehen.
Die neue Qualität dieser Aufrüstung ist: Mit der Stationierung solcher US-amerikanischen Waffensysteme werden – zum ersten Mal seit dem Inkrafttreten des INF-Abrüstungs-Vertrags im Jahr 1988 – von Deutschland aus wieder Ziele tief in Russland mit landgestützten Systemen strategischer Reichweite bedroht.
Das harmlos klingende "strategisch" meint übrigens kriegsentscheidend.
Nukleare Bewaffnung technisch möglich
Es sollen konventionelle Waffen sein, aber theoretisch könnten etwa die seit 1983 eingesetzten Tomahawks – wie bis vor einigen Jahren – auch nuklear bewaffnet werden.
Was sind die Unterschiede zum "Doppelbeschluss" von 1979?
Erstens: Es handelt sich um eine Stationierung ausschließlich in Deutschland und nicht auch – risikoverteilt - in anderen Nato-Ländern.
Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) hat Ende der 70er-Jahre massiv darauf hingewirkt, eine ausschließliche Stationierung der Pershings-Raketen in Deutschland zu vermeiden.
Deutschland weicht damit zum ersten Mal von seinem bisher strikt eingehaltenen Kurs ab, nämlich sich nicht in eine Sonderrolle drängen zu lassen.
Der zweite wesentliche Unterschied zum damaligen Doppelbeschluss der Nato ist: Bei der bilateralen Erklärung fehlt eine rüstungskontrollpolitische Einhegung.
Eine solche Rüstungskontrollperspektive führte dann 1988 auch zum INF-Abrüstungsvertrag: Etwa 3.000 Mittelstreckenraketen auf beiden Seiten wurden danach abgezogen und großteils vernichtet.
Im Zustimmungsbeschluss des SPD-Präsidiums vom August 2024 wurde dieses Fehlen einer Rüstungskontrollperspektive damit begründet, dass man mit Putin keine Vereinbarungen treffen könne.
Aber was hätte es dann gekostet, Putin ein Abrüstungsangebot zu machen.
Hätte die Bundesregierung bei einer Absage Moskaus nicht sogar ihre Behauptung einer Bedrohungslage untermauern können?
Drittens: Anders als damals gab es keine vorherige parlamentarische oder öffentliche Diskussion. Olaf Scholz schob dann später als Erklärung nach:
Das haben wir in der Nationalen Sicherheitsstrategie festgelegt. Ich habe das im Übrigen auch bei der Münchner Sicherheitskonferenz sehr ausführlich dargelegt und zur Debatte gestellt.
Olaf Scholz
Haben die Parlamentarier, die Medien und die Öffentlichkeit gar nicht bemerkt, was da beschlossen wurde und was Olaf Scholz gesagt haben soll?
Ich habe beide Dokumente nachgelesen: In der "Nationalen Sicherheitsstrategie"vom 14. Juni 2023 heißt es:
Die Bundesregierung wird die Entwicklung und Einführung von Zukunftsfähigkeiten wie abstandsfähigen Präzisionswaffen befördern.
Dass unter "abstandsfähige Waffen" auch US-Mittelstreckenraketen mit strategischer Reichweite fallen sollen, hatte bis zur "gemeinsamen Erklärung" offenbar niemand bemerkt.
Auch in seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 17. Februar 2024 war von einer Stationierung von amerikanischen Waffensystemen nicht die Rede. Im Gegenteil: In München schränkte Scholz die betreffende Passage über "abstandsfähige Präzisionswaffen" sogar noch ein, indem er hinzufügte, dass wir darüber mit Frankreich und Großbritannien Gespräche führten. Von US-Raketen war da jedenfalls nicht die Rede.
Und in der Tat – ebenfalls am Rande des Nato-Gipfels – haben Polen, Deutschland, Frankreich und Italien eine Absichtserklärung zur Entwicklung weitreichender Abstandswaffen verabschiedet. Inzwischen ist auch Großbritannien beigetreten.
Auf Gerüchte über eine Stationierung von US-Raketen "Dark Eagle" in Mainz-Kastel antwortete Staatssekretär Andreas Michaelis noch am 10. Januar 2022 auf eine mündliche Anfrage der Linken-Abgeordneten Sevim Dağdelen:
Die Bundesregierung hat von der Regierung der Vereinigten Staaten die Auskunft erhalten, dass keine Raketensysteme in Mainz-Kastel stationiert sind und es auch keine Pläne der USA gebe, dort solche zu stationieren.Antwort der Bundesregierung
Die Begründung, dass diese Erklärung ein rein exekutiver Akt sei und keiner parlamentarischen Zustimmung bedürfte, ist äußerst dünn. Eine nachträglich erstellte Kurzinformation der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages zur Stationierung von US-amerikanischen weitreichenden Waffensystemen in Deutschland – nebenbei bemerkt unter dem in diesem Zusammenhang eher zynisch wirkenden Logo "75 Jahre Demokratie lebendig" – kommt unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1984 zum juristischen Ergebnis, dass die Vereinbarung zwischen den USA und Deutschland ein rein exekutiver Akt sei, der weder die Rechte des Bundestags gefährde oder verletze noch gegen das Demokratieprinzip verstoße oder einem Gesetzesvorbehalt unterliege.
Die Rechtsgrundlagen, wonach die Bundesregierung ohne weitere Einbindung der legislativen Gewalt die Zustimmung zu dieser Vereinbarung geben konnte, "dürften (so heißt es wörtlich) auch hier wohl der Nato-Vertrag sowie der Aufenthaltsvertrag" ausländischer Streitkräfte in der Bundesrepublik vom 23. Oktober 1954 i.V.m. den dazugehörigen Zustimmungsgesetzen sein. Die Stationierung von US-amerikanischen Raketen und Marschflugkörpern (wiederum wörtlich) "dürfte sich ebenfalls im Rahmen des Nato-Bündnissystems abspielen". Als Beleg für diese Begründung wird genannt, dass die geplante Stationierung auf dem Nato-Gipfel im Juli verkündet wurde und die Vereinbarung auf die "Verpflichtung der Vereinigten Staaten von Amerika zur Nato" verweise.
Noch am 15. Juni 2022 – also noch vier Monate nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine – erklärte allerdings die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion, es gebe keine bilateralen Pläne zur Stationierung von weitreichenden Waffensystemen.
Tatsächlich ist es so, dass schon 2017 – unter der ersten Präsidentschaft von Donald Trump – mit der Planung einer militärischen Verbandsstruktur der US-Armee begonnen wurde, die auch Mittelstreckenraketen umfassen sollte.
Unter Präsident Joe Biden wurde im April 2021 – also lange vor dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine – entschieden, eine der fünf geplanten Multi-Domain Task Forces in Wiesbaden zu installieren.
Und im April 2024 fiel dann in den USA die Entscheidung, Mittel- und Langstrecken-Hyperschallbatterien in Deutschland zu stationieren. Also drei Monate vor der "gemeinsamen Erklärung" im Juli 2024.
Wolfgang Lieb studierte an der FU Berlin und an den Universitäten Bonn und Köln Rechtswissenschaften und Politik. Nach dem Staatsexamen und einer Promotion im Medienrecht war er wissenschaftlicher Assistent an der neu gegründeten Gesamthochschule Essen und später an der Universität Bielefeld. Danach arbeitet er in der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes in Bonn unter Kanzler Helmut Schmidt. Mit der Kanzlerschaft von Helmut Kohl wechselte er in die Landesvertretung NRW. Unter Johannes Rau war er neun Jahre Regierungssprecher und später Staatssekretär im NRW-Wissenschaftsministerium.
Seit seinem Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst ist er politischer Blogger der ersten Stunde und freier Autor..