NATO - Militärbudgets im Widerstreit

Quelle: SIPRI - Military Expenditure Database 2015. Darstellung und Berechnung Kai Kleinwächter.

Die Auseinandersetzungen um die NATO-Rüstungsausgaben werden zu einem zentralen Konfliktthema. Die Interessengegensätze zwischen Militaristen und realistischen Kräften gewinnen an Schärfe

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

.

Die Militärausgaben der europäischen NATO-Staaten sinken im Verhältnis zur ökonomischen Leistungskraft. Ihr militärisch-industrieller Komplex schrumpfte. Die USA und reaktionäre Strömungen in Europa drängen auf Umkehr. Bisher erfolglos. Die Mehrheit der Europäer, insbesondere die deutsche Bevölkerung, lehnt Auslandseinsätze und Hochrüstung ab. Die Widersprüche zwischen den NATO-Partnern vertiefen sich.

1. Dominantes Militärbündnis

Die NATO ist das größte Militärbündnis der Welt. Sie stellt zwischen 55 und 65 Prozent der weltweiten Militärausgaben: 900 bis 1.000 Mrd. US-Dollar. Über die eigenen Bündnisstrukturen hinaus, baut die NATO umfassende Kooperationen auf. Diese reichen von bilateralen Abkommen bis hin zu separaten multilateralen Strukturen. Werden NATO-Partner wie Israel und Japan einbezogen, entfallen bis zu 70 Prozent aller Militärausgaben auf diese Staaten.

2. Vergleich zu den BRIC-Staaten

Die überhöhten Militärausgaben der NATO-Staaten werden besonders im Vergleich mit den BRIC-Staaten deutlich. In den Staaten dieses wirtschaftspolitischen Bündnisses lebt ca. 40 Prozent der Weltbevölkerung. Sie erstellen 20 Prozent der weltweiten Militärausgaben. Primär auf Grund der hohen Steigerungen des chinesischen Etats - der inzwischen ca. 190 Mrd. US-Dollar beträgt. Das entspricht ungefähr den Gesamtausgaben von Großbritannien, Frankreich und Deutschland.

Quelle: SIPRI - Military Expenditure Database 2015. Darstellung und Berechnung Kai Kleinwächter.

3. Überrüstung der USA

Bis auf zwei Zeitabschnitte entfallen zwischen 60 und 70 Prozent der NATO-Ressourcen auf die USA. So brachten die USA im Verlauf des Korea-Krieges bis zu 77 Prozent der Militärausgaben auf. Eine rückläufige Entwicklung setzte die Clinton Administration in den 1990er Jahren durch. Das US-amerikanische Militärbudget belief sich auf 55 Prozent der NATO-Ausgaben. Durch die Kriegspolitik unter Georg Bush stiegen die Ausgaben jedoch wieder und erreichten 2010 ihren vorläufigen Höhepunkt mit knapp 700 Mrd. US-Dollar - circa 68 Prozent des NATO-Etats bzw. 40 Prozent aller weltweiten Militärausgaben.

Quelle: SIPRI - Military Expenditure Database 2015. Darstellung und Berechnung Kai Kleinwächter.

4. Struktureller Rückgang Militärausgaben

In allen NATO-Staaten gehen die Militärausgaben in Relation zum Bruttoinlandsprodukt seit den 1950er Jahren zurück. Seit Ende der 1990er Jahre vergeuden die NATO-Mitglieder ohne die USA im Durchschnitt weniger als zwei Prozent und ab 2010 weniger als 1,5 Prozent ihrer Wirtschaftskraft für militärische Zwecke. Über der zwei Prozent Marke liegen in Europa neben Großbritannien, Frankreich und der Türkei, die Krisenstaaten Estland, Portugal und Griechenland.

Auf einem deutlich höheren Niveau verläuft der Prozess in den USA langsamer bzw. kehrte sich unter den republikanischen Präsidenten Reagan in den 1980er sowie unter Bush jun. in den 2000er Jahren sogar um. Dieses militärische Übergewicht der USA ist aber schon seit den 1970er Jahren nicht mehr auf ein höheres volkswirtschaftliches Leistungsniveau zurückzuführen. Im Gegenteil, führende Partner wie Deutschland haben einen höheren Lebensstandard und eine zivilisatorisch leistungsfähigere Wirtschaftsbasis.

Wesentliche Ursache der höheren Militärausgaben ist die Realität, das Militär als ein zentrales außenpolitisches Machtinstrument einzusetzen. Dafür sind die US-amerikanischen Eliten in Teilen bereit, andere Bereiche der Gesellschaft wie die Gesundheitsversorgung zu vernachlässigen. Aber auch sie können sich auf Dauer den politisch-ökonomischen Sachzwängen moderner Wirtschaftssysteme nicht entziehen. Die Abwahl der Republikaner 2008 und die seit 2011 einsetzende Rückführung der Militärausgaben zeigen, dass die US-amerikanische Bevölkerung mehrheitlich steigende Militärausgaben nur begrenzt akzeptiert. Auch in diesem Bereich scheiterte die "konservative Erneuerung". .

Quelle: SIPRI - Military Expenditure Database 2015. Darstellung und Berechnung Kai Kleinwächter.

Deutschland folgte weitgehend den europäischen Verbündeten. Lediglich in den 1960er Jahren unter der Regierung Erhard steigen die Militärausgaben überproportional. Mit dem Erstarken der Sozialdemokratie und ihrer entspannungsgeprägten "Neuen Ostpolitik" wachsen die Militärausgaben langsamer als die Wirtschaftsleistung. In Folge dessen ging die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des Militärs zurück. Eine Beschleunigung dieses Prozesses setzte in den 1990er Jahren ein. Der deutsche Militäretat lag von 1993 bis 2006 zwischen 29 - 31 Mrd. € pro Jahr. Entsprechend gehörte die BRD lange Zeit zu den NATO-Staaten mit den geringsten Militärausgaben in Relation zur Wirtschaftskraft. Erst mit der konservativen Kanzlerschaft Merkels erfolgt wieder eine Anpassung von Militärausgaben und Wirtschaftswachstum. Seit 2006 steigen die militärischen Ausgaben auf inzwischen über 37 Mrd. €. Davon sind aber nur 32 Mrd. € im Bundeswehretat ausgewiesen.

5. Schrumpfung des Militärisch-Industriellen Komplexes

Durch die Stagnation der Militärbudgets schrumpfte der politisch-wirtschaftliche Einfluss und das Image des Militärs sowie der dahinter stehenden Industrien und Lobbygruppen erheblich. Die Kürzungen erreichten inzwischen strukturelle Grenzen.

Beispielhaft dafür steht die personelle Entwicklung. So sank die Anzahl der NATO-Soldaten in Europa von 1995 bis 2015 um ca. 40 Prozent auf 1,9 Mio.. Die in der Mehrheit der Staaten vollzogene Umstellung auf Berufsarmeen bedeutete eine Einschränkung der Aufschwellfähigkeit. Eine Mobilisierung von Massenheeren in Millionenzahl ist mangels Reservisten nur längerfristig erreichbar. Nur wenige (Spezial-)Verbände sind außerhalb des eigenen Territoriums einsetzbar, da Ausbildung und Infrastruktur zurückgefahren wurden. Gleichzeitig führen nicht arbeitsmarktfähige Besoldung, erschwerte Arbeitsbedingungen und eine Ablehnung durch die Bevölkerungsmehrheit zu einem anhaltendem Mangel an Experten.

Die Militäretats ermöglichen zwar nach wie vor Staaten militärisch zu besiegen, aber eine politische Beherrschung der Gebiete, geschweige deren wirtschaftliche Stabilisierung, gelingt nicht. Damit sinkt die Relevanz des Militärs für realistische Problemlösungen in der Außenpolitik.

6. Strategische Konflikte

Damit nehmen die Spaltungstendenzen um eine Senkung bzw. Erhöhung der Militärhaushalte innerhalb der NATO zu. Dahinter stehen unterschiedliche Konzepte der Außen- und Sicherheitspolitik. Während erstere eher kooperative Ansätze vertreten, stehen letztere für überholte Strategien einseitiger westlicher Dominanz.

Im Rahmen der NATO-Sicherheitskonferenzen in München 2015 prallten beide Positionen aufeinander. Kernforderung der pro-Militär-Strömungen vor allem aus den USA war (wieder einmal) die Anhebung der Verteidigungsausgaben aller NATO-Staaten auf zwei Prozent zum BIP. Diese Höhe ist in den NATO-Strategiepapieren explizit festgeschrieben. Allein für Deutschland würde dies eine Erhöhung der Ausgaben um mehr als 15 Mrd. € bedeuten.

Hierbei sind auch die Diskussionen um Waffenlieferungen an die Ukraine sowie den Kampf gegen ISIS von zentraler Bedeutung. Sie dienen als ein Hebel um Erhöhungen der Militärausgaben durchzusetzen. Die Äußerungen von John McCain ("es ist [der Bundesregierung] egal, dass Menschen in der Ukraine abgeschlachtet werden.") und Victoria Nuland ("[Europa] fürchtet sich vor Schäden für ihre Wirtschaft") geben hier die Richtung vor. Dieser schließen sich vor allem Großbritannien, das militärische Ausbilder in die Ukraine entsenden will, sowie osteuropäische Staaten wie Polen und Estland bereitwillig an.

Bezeichnend, dass auf der Konferenz keine Diskussionen um die gescheiterten Kriegseinsätze in Afghanistan, Libyen oder Irak geführt wurden. Solche Analysen konterkarieren die ideologisch aufgeladenen Diskurse um "Freiheit und Demokratie".

7. Deutsches Stimmungsbild

Die NATO ließ zur Vorbereitung der Sicherheitskonferenz Umfragen von der Körber-Stiftung durchführen. Damit sollte die Stimmungslage der deutschen Bevölkerung zu Fragen der Außen und Sicherheitspolitik ermittelt werden. Die Stiftung führte bereits 2014 eine ähnliche Umfrage durch.

Die Ergebnisse zeigen eine dominante Ablehnung eines stärkeren deutschen Engagements im Ausland. Über 60 Prozent der Bevölkerung sprechen sich dagegen aus. Insbesondere klassische Instrumente der Außenpolitik wie Militäreinsätze und Waffenlieferungen wollen über 80 Prozent der Befragten nicht.

Diese Grundhaltung erstreckt sich über das gesamte Parteienspektrum. Bis auf zwei sehr interessante Ausnahmen. So unterstützen laut der Körber-Stiftung 62 Prozent der Grünen-Wähler außenpolitisch militante Positionen. Damit sind die Grünen die einzige etablierte Partei mit einer strukturellen Mehrheit pro-internationales Engagement. Auf der anderen Seite des Spektrums liegt die AfD. Nur 15 Prozent der Wähler dieser Partei stimmen einer solchen Machtprojektion zu. In der Partei DIE LINKEN sind es 30 Prozent. Ein klassisches links-rechts-Schema liegt nicht vor. Exportorientierte Konzerne setzen sich zum Beispiel über den Ostausschuss genauso für Zurückhaltung ein, wie national-gestimmte Massendemonstrationen auf der Straße.

8. Deutsche Politik

Eine deutsche Politik die auf stärkeres militärisches Engagement setzt hat keine mehrheitliche Unterstützung durch die Bevölkerung. Im Gegenteil, es stellte sich eine wachsende Ablehnung im Zuge der inneren sozialen Zuspitzung ein. Einflussreiche Strömungen und Personen der Elite wie der Bundespräsident Joachim Gauck, führende Journalisten konservativer Medien sowie bekannte Außenpolitiker und Politikwissenschaftler treten jedoch für eine stärkere Militarisierung der Außenpolitik ein. Ein stabiler Konsens in den Eliten existiert nicht.

Entsprechend agiert die Regierung. Einerseits wird (inzwischen) eine gezielte Entspannungs- und Deeskalationspolitik in der Ukraine betrieben. Das Aushandeln von Minsk II parallel zur Münchner-Sicherheitskonferenz sollte die Diskussion um Waffenlieferungen eindämmen. Auf der Konferenz selbst assistierte Ursula von der Leyen und bezeichnete solche Handlungen als "Brandbeschleuniger". Um dann aber strukturelle Erhöhungen des Wehretats inklusive Ausweitung der Bestände zu fordern. Eine Entsendung von Truppen über einige UN-Beobachter hinaus wird ebenfalls abgelehnt. Andererseits kündigte Merkel in ihrer Regierungserklärung zum Attentat auf Charlie Hebdo an, sich stärker im Irak und in Syrien zu engagieren.

Dahinter stehen fragile Kompromisse zwischen unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Regierung - intensivere Beteiligung ja, aber nur in Konflikten, die kaum direkte Auswirkungen auf die innere Sicherheit haben und aus denen sich Deutschland "einfach" zurückziehen kann. Nach den Interessen Deutschlands wird kaum gefragt. Es steht zu befürchten, dass sich Deutschland immer stärker in end- und sinnlose Regionalkriege hinein bewegt.

9. Zukünftige Militärpolitik

Die Verteidigungsministerin initiierte eine Neufassung des 2006 letztmalig aktualisierten "Weißbuch" der Bundeswehr bis 2016. In diesem Strategiepapier beschließt die Bundesregierung die Leitlinien der Außen- und Militärpolitik. Die Diskussion soll diesmal unter einer stärkeren Beteiligung der Öffentlichkeit geführt werden. Der parallel geführte Diskurs über "mangelnde Einsatzbereitschaft der Bundeswehr" zeigt hier die Richtung auf - mehr Gelder für die "Armee im Einsatz".

Beim jetzigen innenpolitischen Kräfteverhältnis liegen pazifistische Vorstellungen wie ein Austritt aus der NATO oder die Abschaffung der Bundeswehr außerhalb der Realität. Möglich ist jedoch, wie insbesondere die letzten zwei Jahrzehnte zeigen, ein Zurückdrängen des militärischen Faktors in Deutschland wie auch innerhalb seiner Bündnissysteme. Diese "Erfolgsgeschichte" sollte fortgeschrieben werden. Dafür sind auch Kooperationen mit konservativen Strömungen und der Wirtschaft notwendig. Angesichts der Kriege und Instabilitäten an den Grenzen der EU müssen damit auch alternative Sicherheitskonzepte (weiter)entwickelt werden. Dafür sind aber offensichtlich die Sicherheitskonferenzen der NATO der falsche Ort.

Kai Kleinwächter ist Mitarbeiter der Redaktion von WeltTrends - Zeitschrift für internationale Politik. Die letzte Ausgabe zum Thema "Nukleare Abrüstung" erschien im November 2013. Ebenfalls bloggt der Autor zweimal im Monat auf e-Politik.