"NSU 2.0": Persilscheine verweigert

Lange Zeit galt der "NSU 2.0" als Phantom. Zum Teil ist er das wohl immer noch. Symbolbild: kalhh auf Pixabay (Public Domain)

Die Gewerkschaft der Polizei will eine öffentliche Entschuldigung, Betroffene wollen erst einmal wissen, wie der mutmaßliche Verfasser der Drohschreiben an gesperrte Meldedaten kam

Nach der Festnahme eines erwerbslosen Berliners wegen der "NSU 2.0"-Drohmails an mehrere Personen des öffentlichen Lebens ist ein Streit um die Deutungshoheit entbrannt. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Hessen sieht durch die Festnahme am Montagabend ihren Berufsstand entlastet und fordert eine öffentliche Entschuldigung, obwohl unklar ist, wie der Beschuldigte an gesperrte Meldedaten von Betroffenen kam, die kurz vor dem Versand in hessischen Polizeirevieren abgefragt wurden.

"Das permanente öffentliche Unterstellen, die hessischen Polizeibeschäftigten seien Teil eines rechten Netzwerkes, lastet schwer auf den Rücken meiner Kolleginnen und Kollegen", erklärte der GdP-Landesvorsitzende Jens Mohrherr. "Die scharfe und offene Kritik am Verhalten einzelner Polizeibeamter in der jüngsten Vergangenheit, die Innenminister Beuth öffentlich äußerte, ist ebenso haltlos, wie permanente Unterstellungen vieler Oppositionspolitiker, die hessische Polizei sei auf dem rechten Auge blind." Auf einem Flugblatt der GdP Hessen heißt es abschließend: "Wir haben eine öffentliche Entschuldigung verdient!"

Dabei war Innenminister Peter Beuth (CDU) den Beamten schon sehr weit entgegengekommen, denn er hatte aus der Festnahme öffentlich dieselbe Schlussfolgerung gezogen wie die GdP - eine Schlussfolgerung, die von den Adressatinnen und Adressaten der Drohmails ganz und gar nicht geteilt wird. "Nach allem, was wir heute wissen, war nie ein hessischer Polizist für die 'NSU 2.0'-Drohmailserie verantwortlich", hatte Beuth am Dienstagmorgen erklärt. Der Festgenommene sei "kein hessischer Polizist und hat nie der hessischen Polizei angehört", schob er wenig später auf einer Pressekonferenz nach. Fragen wollte er Verweis auf noch laufende Ermittlungen nicht beantworten.

Offene Fragen

Tags darauf gaben sechs Betroffene, die "NSU 2.0"-Drohschreiben erhalten hatten, eine gemeinsame Erklärung ab. Die Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, die Kabarettistin Idil Baydar und Hengameh Yaghoobifarah, Journalist:in und Autor:in, sowie die Linke-Politikerinnen Janine Wissler, Anne Helm und Martina Renner zählten darin mehrere offene Fragen auf. Unter anderem, wie der Tatverdächtige an Daten aus Polizeicomputern in Frankfurt am Main, Wiesbaden, Hamburg und Berlin und insbesondere an eine im Einwohnermelderegister gesperrte Adresse gelangen konnte und ob er Kontakte zu Behörden oder Polizeidienststellen gehabt habe.

Sie erinnerten auch daran, dass in dem Frankfurter Polizeirevier eine extrem rechte Chatgruppe aufgeflogen war. Dementsprechend betonten sie:

"Wir sind äußerst irritiert darüber, dass Hessens Innenminister Beuth öffentlich erklärt, dass kein hessischer Polizist in die Drohserie verwickelt seien, obwohl bisher gar nicht geklärt ist, wie der Tatverdächtige an die Daten gekommen ist und obwohl es erwiesenermaßen rechte Aktivitäten in einem der betroffenen Reviere gegeben hat. Dass unbekannte Anrufer sich als Polizisten ausgeben und die Daten einer gesamten Familie aus einem Polizeicomputer abfragen können, erscheint wenig plausibel."

Die Ermittler "glauben" nach Medienberichten, dass der 53-jährige Alexander Horst M. sich einen Teil der Informationen im Internet zusammengesucht und sensible Daten durch fingierte Anrufe bei Behörden "erschlichen" haben könnte. Er soll bereits wegen des Verdachts der Körperverletzung und rassistischen Beleidigungen aktenkundig sein. Im Fall der Drohmails war ihm nach offiziellen Angaben eine "Cyber Unit" des hessischen Landeskriminalamts auf die Spur gekommen. In der gemeinsamen Erklärung der Betroffenen wird auch die Frage gestellt, wie es zur bisherigen Gefährdungseinschätzung passe, dass bei dem mutmaßlichen Täter eine Schusswaffe gefunden worden sei.

Die Linksfraktion im Hessischen Landtag, der auch Parteichefin Janine Wissler angehört, erklärte am Donnerstag, der Ermittlungserfolg in Berlin sei "kein Grund für Persilscheine - im Gegenteil". Hermann Schaus, innenpolitischer Sprecher der Fraktion, wies darauf hin, dass der Beschuldigte selbst noch keinerlei Aussage gemacht habe und die Datenträger noch nicht ausgewertet seien.

Vorwurf der Vertuschung

Auch die Föderation Demokratischer Arbeitervereine e. V. (DIDF), in der überwiegend Werktätige mit türkischem und kurdischem Hintergrund organisiert sind, widersprach am Donnerstag vehement der Einzeltäterthese:

"Es gehört wohl zum Standard, dass in Fällen von rechter Gewalt stets von einem Einzeltäter gesprochen wird und ein rechtes Netzwerk nicht einmal in Erwägung gezogen werden möchte. Die Attentate in Hanau, Kassel oder Halle sind Beispiele dafür. Unklarheiten und zahlreiche offene Fragen zu den Tätern und der Abläufe werden von Behörden vertuscht oder im Dunkeln gelassen. Die Verstrickung von Polizei und Verfassungsschutz in unklare Mordfälle werden vertuscht und geheim gehalten."

Auch die Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen (Die Linke), die in den 1990er Jahren der Bundesjugendkommission von DIDF angehört hatte, war eine der Empfängerinnen von "NSU 2.0"-Drohschreiben.

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